Inhalt

VGH München, Beschluss v. 04.01.2023 – 10 ZB 22.2523
Titel:

keine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis

Normenkette:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 54 Abs. 2 Nr. 8 lit. a Nr. 9
Leitsatz:
Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Regelerteilungsvoraussetzung, Ausweisungsinteresse, falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels, Verschweigen eines Strafverfahrens, nicht nur vereinzelter oder geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen für zwei vorsätzliche Straftaten bei Einsatzstrafen von 75 bzw. 50 Tagessätzen, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 05.07.2022 – M 2 K 19.5156
Fundstelle:
BeckRS 2023, 974

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 5. Juli 2022 wird der Streitwert für beide Instanzen auf jeweils 10.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 5. Juli 2022, mit dem seine Klage gegen den Bescheid vom 11. September 2019 abgewiesen wurde. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Antrag des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, seinen Aufenthalt und seine Wohnsitznahme räumlich beschränkt und ihn zur Abgabe der ihm ausgestellten Fiktionsbescheinigung verpflichtet.
2
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht.
3
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
4
Der Kläger wendet sich ausschließlich gegen die Annahmen des Verwaltungsgerichts, einer Verlängerung der ihm auf der Grundlage von § 28 Abs. 2 Satz 3, Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis stehe nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, dass ein Ausweisungsinteresse sowohl nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a) AufenthG als auch nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG bestehe. Das Verwaltungsgericht hat hierzu festgestellt, der Kläger habe falsche Angaben im Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemacht, indem er ein laufendes Strafverfahren verschwiegen habe. Zudem sei er zuletzt wegen Gewaltdarstellung und unerlaubten Waffenbesitzes zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen (Einzelstrafen 75 und 50 Tagessätze) verurteilt worden.
5
Zur Annahme des Verwaltungsgerichts, es liege eine Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, rügt der Kläger der Sache nach, diese Regelung müsse im Lichte des § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG gesehen werden, der für ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse eine rechtskräftige Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten vorsehe. Deswegen könne nicht jede Verurteilung eine Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG begründen. Die Straftaten des Klägers seien demnach nicht schwerwiegend. Dieser Einwand greift nicht durch.
6
Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG besteht. Nach dieser Vorschrift wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Sie ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (stRspr, siehe z.B. BayVGH, B.v. 19.9.2017 - 10 C 17.1434 - juris Rn. 6). Im Gegensatz zur Meinung des Klägers bestehen auch keine Zweifel an der Anwendbarkeit des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG, wenn das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG geforderte Strafmaß nicht erreicht ist (hierzu bereits BayVGH, B.v. 27.4.2020 - 10 C 20.51 - juris Rn. 8). Wertungswidersprüche bestehen insofern nicht. Die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG konkretisierten und als besonders schwerwiegend bzw. schwerwiegend kategorisierten Ausweisungsinteressen betreffen jeweils Tatbestände, die ersichtlich nicht gleichartig und auch in unterschiedlicher Weise mit Sanktionen bedroht sind, so dass es kaum möglich ist, bereits bei der Bestimmung des tatbestandlichen Anwendungsbereiches der jeweils in den Katalogen des § 54 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AufenthG aufgeführten Ausweisungsinteressen in sich ein Gleichgewicht herzustellen. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist durch den Gesetzgeber ausdrücklich eine Auffangfunktion zuerkannt worden (BT-Drs. 18/4097, S. 52). Aufgrund dessen besteht für eine „Typenkorrektur“ in der Weise, dass ein in § 54 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG „vertypter“ Tatbestand aufgrund besonderer Umstände herabgestuft wird, kein Raum und keine Notwendigkeit.
7
Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht in den beiden vorsätzlichen Straftaten des Klägers, die bei Einsatzstrafen von jeweils über 30 Tagessätzen (vgl. zu dieser Schwelle als Indiz für eine nicht nur geringfügige Straftat etwa BayVGH, B.v. 20.7.2021 - 10 CS 21.1437, 10 C 21.1438 - juris Rn. 18 m.w.N.) mit einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen geahndet wurden, zu Recht ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gesehen. Dass eine Gesamtbetrachtung zu einem anderen Ergebnis führen müsste, legt die Zulassungsbegründung nicht substantiiert dar und liegt angesichts der Taten (Versenden eines jihadistischen Propagandavideos mit extremer Gewaltdarstellung sowie Besitz eines Elektroimpulsgeräts) fern. Gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Verurteilungen auch ein hinreichend aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen, wendet sich das Zulassungsvorbringen nicht.
8
Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht angenommen, dass ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a) AufenthG vorliegt, das der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegensteht. Nach dieser Vorschrift verwirklicht ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse u.a., wer in einem Verwaltungsverfahren falsche oder unvollständige Angaben zur Erlangung eines deutschen Aufenthaltstitels macht. Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Klägers vor. Soweit dieser mit dem Zulassungsantrag erstmals anführt, die Angabe „Nein“ bei der Frage, ob gegen den Kläger aktuell strafrechtlich ermittelt werde, sei bei der Beantragung eines Aufenthaltstitels am 13. März 2018 nicht falsch gewesen, weil zum Zeitpunkt der Befragung das Ermittlungsverfahren durch Erlass eines Strafbefehls vom 27. November 2017 abgeschlossen und nur das Strafverfahren wegen eines Einspruchs gegen den Strafbefehl noch nicht abgeschlossen (Urteil vom 21. März 2018) gewesen sei, liegt dies neben der Sache. Die Frage „Sind Sie bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten oder wird derzeit wegen Verdachts auf eine Straftat gegen Sie ermittelt?“ (Bl. 754 der Behördenakte) zielte auch für den Kläger erkennbar nicht nur auf das staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren vor dem Erlass eines Strafbefehls oder einer Anklage, sondern umfassend auf alle Ermittlungen durch Gericht (vgl. § 244 Abs. 2 StPO) und Staatsanwaltschaft bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens. Dies liegt schon deshalb nahe, weil die Ausländerbehörde gem. § 79 Abs. 2 AufenthG über den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Falle strafrechtlicher Ermittlungen erst nach Abschluss des Verfahrens, im Falle der gerichtlichen Entscheidung erst nach deren Rechtskraft entscheiden darf. Eine weitergehende Differenzierung nach staatsanwaltlichen und gerichtlichen Ermittlungen ist im Wortlaut der Frage nicht angelegt und liegt sowohl aufgrund des Zwecks der Frage, das eventuelle Vorliegen eines Ausweisungsinteresses zu ermitteln, als auch im Hinblick auf den Empfängerhorizont des Adressatenkreises der Frage fern.
9
Gegen die weiteren Annahmen des Verwaltungsgerichts, dass ein atypischer Fall im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht vorliege, die Ermessenentscheidung der Beklagten, nicht von der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen, rechtmäßig sei und auch sonst keine Anspruchsgrundlage für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht komme, wendet sich das Zulassungsvorbringen nicht. Gleiches gilt, soweit das Verwaltungsgericht die Anfechtungsklage gegen die weiteren Verfügungen im Bescheid vom 11. September 2019 (Aufenthalts- und Wohnsitznahmebeschränkung sowie Verpflichtung zur Abgabe der Fiktionsbescheinigung) abgewiesen hat.
10
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
11
Die Streitwertfestsetzung für das erstinstanzliche Verfahren und das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Neben der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sind für die Aufenthaltsbeschränkung und die Verpflichtung zur Abgabe der Fiktionsbescheinigung zusätzlich (zusammen) 5000,- Euro anzusetzen (vgl. für ähnliche Konstellationen BayVGH, U.v. 27.10.2017 - 10 B 16.1252 - juris Rn. 71 sowie BayVGH, B.v. 13.1.2020 - 10 ZB 19.1599 - juris Rn. 23).
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).