Titel:
Feststellung der Rechtswidrigkeit eines polizeilichen Platzverweiseses
Normenkette:
BayPAG Art. 7 Abs. 1, Art. 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Unter einer konkreten Gefahr iSv Art. 16 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BayPAG ist eine Sachlage zu verstehen, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung von Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führt. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der dabei anzustellenden Gefahrenprognose kommt es entscheidend auf die konkreten Verhältnisse und Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Maßnahme an (ex-ante-Betrachtung aus der Sicht des für die Polizei handelnden Amtswalters). Für sie gilt ein differenzierender bzw. gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Dabei reicht die bloß subjektive Annahme oder die reine Vermutung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht aus, die Prognose muss sich vielmehr auf hinreichend gesicherte Anhaltspunkte stützen lassen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Platzverweis, konkrete Gefahr, Störereigenschaft, Störerauswahl, Zulassung der Berufung, Gefahrenprognose, Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 16.02.2022 – M 23 K 20.1983
Fundstelle:
BeckRS 2023, 973
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Fortsetzungsfeststellungsklage, mit der er die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines ihm gegenüber ausgesprochenen polizeilichen Platzverweiseses begehrt, weiter.
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Der zulässige Antrag ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.) ergeben.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, der Kläger habe am 22. Februar 2020, dem Todestag der Geschwister Scholl, ein oder mehrere Lichtbilder von vier gänzlich in schwarz gekleideten Personen vor der Fernherrnhalle in München gefertigt. Etwa zur gleichen Zeit habe eine Versammlung zum Klimaschutz und anschließend eine weitere Versammlung („anonymous for the voiceless“) auf dem Odeonsplatz stattgefunden. Nachdem Dritte, die an den Versammlungen teilnahmen oder teilnehmen wollten, den Kläger erkannt und Polizeibeamte darauf angesprochen hätten, dass die fotografierte Gruppe „strammgestanden“ habe und sie (die Dritten) sich dadurch provoziert fühlten, hätten die Beamten beim Kläger zunächst eine Personenkontrolle vorgenommen. Die Beamten hätten angenommen, ohne ein polizeiliches Eingreifen hätte die andere Gruppe die Gruppe des Klägers selbst auf das Strammstehen angesprochen und es gegebenenfalls verhindert. Deshalb hätten die Beamten gegenüber dem Kläger einen Platzverweis ausgesprochen, um unmittelbar bevorstehende „mindestens verbal(e) Auseinandersetzungen bzw. Straftaten“ zwischen der Gruppe des Klägers und den Dritten, die unterschiedlichen politischen Lagern angehört hätten, zu verhindern.
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Gegen diese Feststellungen hat der Kläger keine durchgreifenden Rügen erhoben. Seine Ausführungen zu der Frage, ob seine Begleiter tatsächlich strammgestanden haben oder nicht, gehen insofern an der Sache vorbei, als das Verwaltungsgericht hierzu gar keine abschließende Feststellung getroffen hat. Insofern sind die Annahmen des Verwaltungsgerichts entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht widersprüchlich. Dass das Verwaltungsgericht ein „Strammstehen“ selbst nicht festgestellt hat, schließt nicht die Annahme aus, dass Dritte, die ein „Strammstehen“ gesehen haben wollen, diese subjektive Beobachtung dem Kläger und seinen Begleitern vorhalten würden und es in diesem Rahmen zu Auseinandersetzungen kommen werde.
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Das Verwaltungsgericht hat auch die rechtlichen Anforderungen für die Annahme einer für einen Platzverweis nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 PAG erforderlichen konkreten Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zutreffend bestimmt.
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Unter einer konkreten Gefahr ist dabei eine Sachlage zu verstehen, die bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung von Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung führt (BayVGH, B.v. 22.3.2022 - 10 ZB 21.1479 - juris Rn. 7; Holzner in BeckOK Sicherheitsrecht Bayern, Stand 1.10.2022, Art. 11 PAG Rn. 20). Bei der dabei anzustellenden Gefahrenprognose kommt es entscheidend auf die konkreten Verhältnisse und Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Maßnahme an (ex-ante-Betrachtung aus der Sicht des für die Polizei handelnden Amtswalters; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.8.2016 - 10 C 16.637 - juris Rn. 7; B.v. 23.6.2016 - 10 ZB 14.1058 - Rn. 22). Für sie gilt ein differenzierender bzw. gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18). Dabei reicht die bloß subjektive Annahme oder die reine Vermutung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts nicht aus, die Prognose muss sich vielmehr auf hinreichend gesicherte Anhaltspunkte stützen lassen (BayVGH, B.v. 22.3.2022 - 10 ZB 21.1479 - juris Rn. 8).
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Unter Zugrundelegung der vom Verwaltungsgericht festgestellten Tatsachen und des dargestellten rechtlichen Rahmens begegnet die tatrichterliche Würdigung des Verwaltungsgerichts zum Vorliegen einer konkreten Gefahr keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln. Die dagegen gerichteten Einwände in der Zulassungsbegründung greifen nicht durch.
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Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese Freiheit ist nur dann überschritten, wenn es entweder seiner Sachverhalts- und Beweiswürdigung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zu Grunde legt, sondern nach seiner Rechtsauffassung entscheidungserheblichen Akteninhalt übergeht oder aktenwidrige Tatsachen annimmt, oder wenn die von ihm gezogenen Schlussfolgerungen gegen gesetzliche Beweisregeln, Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen. Dass ein Beteiligter den Sachverhalt anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse zieht, reicht hierfür nicht aus (vgl. BayVGH, B.v. 5.2.2019 - 10 ZB 17.1743 - juris Rn. 5). Eine Überschreitung der Grenzen der richterlichen Überzeugungsbildung legt das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert dar. Mit seinen Einwänden gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, es hätten Auseinandersetzungen und wechselseitige Straftaten unmittelbar bevorgestanden, sowie der daraus hergeleiteten Annahme, es habe lediglich eine abstrakte Gefahr vorgelegen, setzt der Kläger seine Würdigung der festgestellten Tatsachen bei der Gefahrenprognose lediglich an die Stelle der Würdigung des Erstgerichts, ohne substantiiert darzulegen, dass diese auf Mängel im dargelegten Sinne beruhen würde.
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Auch die Ausführungen des Klägers zur Störereigenschaft (Art. 7 Abs. 1 PAG), zur Störerauswahl (Art. 5 Abs. 1 und 2 PAG) sowie zur Erforderlichkeit und Angemessenheit des Platzverweises (Art. 4 PAG) begründen keine durchgreifenden Richtigkeitszweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Soweit der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe ihn als Störer angesehen, obwohl sich sein Verhalten „dahingehend erschöpft hatte, ein Bild von einer Touristengruppe anzufertigen, welche auf dem Odeonsplatz vor einer „Top Sehenswürdigkeit Münchens“ (…), der Feldherrnhalle stand“, verkürzt dies sein vom Verwaltungsgericht festgestelltes Verhalten im Hinblick auf die Gefahrenprognose und die daraus folgende Feststellung der Störereigenschaft in entscheidender Weise. Die „Touristengruppe“ des Klägers trug nach den Feststellungen des Erstgerichts einheitlich schwarze Kleidung und posierte - ausweislich des vom Kläger zur Klagebegründung vorgelegten Lichtbildes, auf das sich das Verwaltungsgericht ebenfalls gestützt hat - auch in einheitlicher Körperhaltung am Todestag der Geschwister Scholl an der Feldherrnhalle in Anwesenheit von politisch Andersdenkenden, die sich aufgrund angekündigter Versammlungen ebenfalls auf dem Odeonsplatz befanden. Daraus hat das Verwaltungsgericht die Störereigenschaft des Klägers (vgl. Art. 7 Abs. 1 PAG) hergeleitet. Dass diese Annahme unter Zugrundelegung der vom Gericht festgestellten Tatsachen ernstlichen Richtigkeitszweifeln begegnet, legt das Zulassungsvorbringen nicht substantiiert dar. Insofern liegt auch der Vorwurf, der Kläger sei lediglich wegen seiner Gesinnung oder seiner bloßen Anwesenheit des Platzes verwiesen worden, ebenso neben der Sache, wie die Annahme, ihm drohten künftig nur deswegen Platzverweise, weil sich andere Personen durch seine bloße Anwesenheit provoziert fühlten.
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Vor diesem Hintergrund und den vom Verwaltungsgericht angeführten polizeilichen „Vorerkenntnissen“ zur Person des Klägers (gemeint ist damit offensichtlich, dass es sich beim Kläger um einen auch in der Öffentlichkeit überregional bekannten, einschlägig und erheblich vorbestraften, offensiv politisch auftretenden und im Jahr 2018 im Zusammenhang mit der Feldherrnhalle bereits polizeilich in Erscheinung getretenen Rechtsextremisten handelt) war es im Rahmen der Störerauswahl auch ermessensgerecht (Art. 5 Abs. 1 und 2 PAG), lediglich ihn und nicht (zusätzlich oder alternativ) die Mitglieder der anderen Gruppe polizeilich in Anspruch zu nehmen. Hinzukommt, dass auf diese Weise zur Beseitigung der Gefahr nur eine Person und nicht eine Personengruppe in Anspruch genommen werden musste.
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Auch waren die Polizeibeamten unter dem Blickwinkel der Erforderlichkeit nicht gehalten, mit einem Einschreiten weiter zuzuwarten oder die Gruppen lediglich - wie der Kläger vorschlägt - räumlich voneinander zu trennen. Es ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass dies im Hinblick auf die Effektivität der Gefahrenabwehr gleichermaßen geeignet gewesen wäre.
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Soweit der Kläger schließlich rügt, die Maßnahme sei nicht angemessen gewesen, zeigt er nicht substantiiert auf, warum es ihm vor dem Hintergrund der zu erwartenden Auseinandersetzungen und der damit verbundenen erheblichen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unzumutbar gewesen sein soll, für den restlichen Tag den Bereich der Feldherrnhalle nicht mehr zu betreten, wenn er sich dort tatsächlich - wie vorgetragen - nur zu touristischen Zwecken aufgehalten hat.
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2. Die Berufung ist auch nicht wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
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Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 - 10 ZB 18.1768 - Rn. 11; B.v. 14.2.2019 - 10 ZB 18.1967 - juris Rn. 10). Diesen Anforderungen wird der Zulassungsantrag nicht gerecht.
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Der Kläger hält für klärungsbedürftig, „unter welchen Voraussetzungen ein Platzverweis gegen eine oder mehrere Personen ausgesprochen werden kann, denen kein beanstandenswertes Verhalten vorgeworfen wird und gegen die ein Platzverweis lediglich aufgrund ihrer Persönlichkeit bzw. ihrer persönlichen Anwesenheit verhängt wird“. Dabei ist nicht dargelegt oder sonst ersichtlich, dass diese Frage entscheidungserheblich war, denn sie unterstellt einen Sachverhalt, den das Verwaltungsgericht gerade nicht festgestellt hat. Die Frage der Inanspruchnahme von Nichtstörern stellte sich vorliegend nicht, da das Verwaltungsgericht den Kläger als Störer angesehen hat. Soweit die Frage so zu verstehen sein sollte, dass klärungsbedürftig sei, ob das Verwaltungsgericht die Störereigenschaft des Klägers annehmen durfte oder von einer ordnungsgemäßen Störerauswahl ausgehend konnte, fehlt es ihr an der grundsätzlichen Klärungsfähigkeit, da dies jeweils nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden kann.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).