Titel:
rechtmäßige Ausweisung (Irak)
Normenkette:
AufenthG § 53, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a lit. d, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 60 Abs. 5
Leitsatz:
Angesichts einer erheblichen Wiederholungsgefahr hinsichtlich schwerer Straftaten fallen familiäre Bindungen eines erwachsenen, ledigen und kinderlosen Ausländers im Bundesgebiet sowie die Ansätze einer wirtschaftlichen Integration nicht ausschlaggebend ins Gewicht. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, besonders schwere räuberische Erpressung, Abwägung, Irak, faktischer Inländer, besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, Niederlassungserlaubnis
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 22.07.2021 – M 12 K 20.6747
Fundstelle:
BeckRS 2023, 971
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen seine Ausweisung mit Bescheid vom 26. November 2020 weiter.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht.
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Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Das ist vorliegend nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass vom im Jahr 2000 geborenen Kläger, der seit 2014 immer wieder und zum Teil erheblich straffällig geworden ist und zuletzt mit rechtskräftigem Urteil des Landgerichts München I vom 30. Juni 2020 wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt wurde, eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgehe. Die Ausweisung sei auch verhältnismäßig. Der erwachsene, ledige und kinderlose Kläger sei zwar im Alter von neun Jahren nach Deutschland eingereist und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Auch habe er einen Mittelschulabschluss erworben. Zudem lebten ein Großteil seiner Familie, insbesondere seine Eltern, im Bundesgebiet. Eine Rückkehr in den Irak sei gleichwohl zumutbar. Seine Integration beruhe hauptsächlich auf seinen Aufenthaltszeiten. Er verfüge über keine gesicherte berufliche Position, habe keine Ausbildung absolviert und sei auch sonst wirtschaftlich kaum integriert. Der Kläger beherrsche seine Muttersprache ausreichend. Sitten und Gebräuche des Irak seien ihm aus seiner Kindheit bekannt. Es sei daher zu erwarten, dass er sich - wenn auch unter nicht unerheblichen Schwierigkeiten - in die irakischen Verhältnisse integrieren werden könne. Der Kläger sei jung, gesund und arbeitsfähig, sodass er Hilfsarbeiten verrichten werde können. Zudem habe er einen Onkel im Irak, der ihm zumindest als erste Anlaufstelle dienen und - selbst wenn er ihn nicht unterstützen könnte - Obdach für die erste Zeit bieten könnte. Zudem könne der Kläger von seinen vielen Verwandten in Deutschland finanzielle Unterstützung erhalten. Dass z.B. seine Eltern in gewissem Maße dazu in der Lage seien, zeige sich daran, dass der Kläger von diesen monatlich 50 Euro Taschengeld erhalte. Der Kläger habe ihm Bundesgebiet zwar Familienmitglieder, diese gehörten aber nicht zur besonders geschützten Kernfamilie. Vor diesem Hintergrund sei auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sieben, im Falle der Straffreiheit vier Jahre, nicht zu beanstanden. Beim Kläger, der nie einen Asylantrag gestellt habe, bestehe auch kein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der wirtschaftlichen Lage im Irak, weil er jung und arbeitsfähig sei, mit seinem Onkel über eine erste Anlaufstelle verfüge und von der in Deutschland lebenden Familie finanziell unterstützt werden könne.
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Das Zulassungsvorbringen wendet sich ausdrücklich nicht gegen die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Der Kläger macht vielmehr geltend, die Ausweisung sei unverhältnismäßig. Er sei mit neun Jahren in das Bundesgebiet eingereist, sei hier kulturell geprägt worden und damit als faktischer Inländer zu behandeln. Es werde ihm nicht gelingen, sich rasch in die irakischen Verhältnisse einzufügen. Der Kläger habe nach den Feststellungen des Jugendgerichts nie eine selbständige Lebensführung erreicht. Er habe eine Förderschule besucht, sei lernverzögert und erfasse komplexe Sachverhalte nur nach niederschwelliger Erklärung. Zudem habe er sich nach der Haftentlassung positiv entwickelt. Er habe ein Antiaggressionstraining besucht, einen Ausbildungsplatz erhalten, bereits den theoretischen Teil der Führerscheinprüfung bestanden und führe sich straffrei. Das Bleibeinteresse habe jedenfalls bei der Befristungsentscheidung stärker berücksichtigt werden müssen. Auch habe das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots zu Unrecht verneint. Es habe nicht geprüft, ob der Onkel des Klägers aufnahmewillig und die in Deutschland lebenden Verwandten leistungsfähig seien. Drei seiner Geschwister seien noch minderjährig und bedürften selbst der Unterstützung. Den Eltern sei es aufgrund der Größe der Familie nicht möglich, den Kläger auch nur geringfügig zu unterstützen. Der Kläger werde seinen Lebensunterhalt im Irak nicht sichern können.
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Diese Rügen greifen nicht durch.
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Die auf die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 und 2, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
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Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechts-treu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 - 10 B 19.55 - juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 - 46410/99 - NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 - 54273/00 - InfAuslR 2001, 476). Bei der Abwägung zu berücksichtigen sind danach die Art und die Schwere der begangenen Straftaten, wobei die vom Gesetzgeber vorgenommene typisierende Gewichtung zu beachten ist, das Verhalten des Ausländers nach der Tatbegehung sowie die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat. Die abwägungserheblichen Interessen sind zutreffend zu ermitteln und zu gewichten. Es ist ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen herzustellen, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
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Ausgehend hiervon hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass sich der Kläger zwar auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG berufen kann, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit (mehr als) fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, dass aber gleichwohl das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a Buchst. d AufenthG überwiegt. Die familiären Bindungen des erwachsenen, ledigen und kinderlosen Klägers im Bundesgebiet sowie die Ansätze einer wirtschaftlichen Integration fallen angesichts der erheblichen Wiederholungsgefahr hinsichtlich schwerer Straftaten nicht ausschlaggebend ins Gewicht. Das Verwaltungsgericht hat sich im Rahmen einer Rückkehrprognose ausführlich mit den für und gegen eine wirtschaftliche Integration im Irak sprechenden Umständen auseinandergesetzt und dabei die Bildung, den Werdegang, die Arbeitsfähigkeit, verwandtschaftliche Beziehungen im Herkunftsland und Unterstützungsmöglichkeiten durch Verwandte in Deutschland ausführlich beleuchtet. Damit setzt sich das Zulassungsvorbringen allenfalls oberflächlich auseinander. Insbesondere steht der Vortrag zur vorgeblichen Lernverzögerung des Klägers im auffälligen Kontrast zu dem Umstand, dass der Kläger in Deutschland einen Mittelschulabschluss erworben, relativ kurz nach der Haftentlassung einen Ausbildungsplatz gefunden und die theoretische Führerscheinprüfung bestanden hat. Dass er bei dieser Sachlage nicht in der Lage sein sollte, im Irak Hilfstätigkeiten auszuführen, erscheint fernliegend. Allein der Umstand, dass der Kläger noch keine selbständige Lebensstellung erreicht hat, macht die Rückkehr in der Irak vor diesem Hintergrund nicht unzumutbar. Dabei geht der Senat mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass der Kläger mit seinem Onkel über eine erste Anlaufstelle im Irak verfügt und seine Verwandten in Deutschland ihn jedenfalls in gewissem Maße finanziell unterstützen werden können. Die pauschalen und nicht weiter konkretisierten Ausführungen hierzu in der Zulassungsbegründung ziehen diese - etwa unter Verweis auf Taschengeldleistungen - näher begründeten Annahmen des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Zweifel, zumal der Kläger und seine Familie offensichtlich auch in der Lage sind, die nicht unerheblichen Kosten für den Erwerb der Fahrerlaubnis aufzubringen.
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Vor diesem Hintergrund begegnen auch die Annahmen des Verwaltungsgerichts, die Befristungsentscheidung der Beklagte sei nicht zu beanstanden und im Falle des Klägers bestehe kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Das Zulassungsvorbringen enthält insofern keinen substantiierten Vortrag, der über die bereits im Rahmen der Abwägungsentscheidung berücksichtigten Umstände hinausginge.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).