Titel:
Ausweisung rechtmäßig (Kamerun)
Normenkette:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2
Leitsatz:
Im Gegensatz zu Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB bezieht sich die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen und mithin die Frage zu beantworten, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Gefahrenprognose, Abwägung, Kamerun, Strafaussetzung zur Bewährung, Prognose
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 11.08.2021 – Au 6 K 20.1318
Fundstelle:
BeckRS 2023, 970
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Kläger, ein kamerunischer Staatsangehöriger, verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 17. Juli 2020 weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, ein auf (zuletzt) drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und seine Abschiebung angeordnet bzw. angedroht wurde. Anlass der Ausweisung war die Verurteilung des Klägers zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten wegen einer Vielzahl von Fällen der Steuerhinterziehung, Urkundenfälschung, Computerbetrugs und Fälschung beweiserheblicher Daten.
2
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, eine Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO oder ein beachtlicher Verfahrensfehler im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO.
3
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
4
a) Der Kläger trägt zunächst vor, von ihm gehe mittlerweile keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mehr aus. Seine erstmalige Inhaftierung habe bereits so auf ihn eingewirkt, dass er zukünftig keine Straftaten mehr begehen werde. Dies ergebe sich auch aus der letzten Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt. Eine Drogen- oder Gewaltproblematik liege nicht vor. Sämtliche Vollzugslockerungen habe er ohne Beanstandungen absolviert; die zuständige Strafvollstreckungskammer habe nunmehr (durch Beschluss vom 3. September 2021) den Rest der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Er sei wieder bei seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern in die Familienwohnung eingezogen und verfüge auch wieder über eine Arbeitsstelle. Konkrete Anhaltspunkte, dass von ihm noch weiter eine Gefahr ausgehe, lägen nicht vor.
5
Mit diesem Vortrag kann der Kläger aber die vom Verwaltungsgericht aufgrund einer eingehenden Gefahrenprognose getroffene Feststellung, dass vom Kläger weiterhin eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, nicht nachhaltig erschüttern. Das Verwaltungsgericht weist unter anderem zu Recht darauf hin, dass er etwa fünf Jahre lang systematisch und mit hohem Aufwand und Akribie und damit krimineller Energie eine Vielzahl von Computer- und Steuerdelikten begangen und einen außerordentlich hohen Gesamtschaden verursacht hat (allein bezüglich der Steuerdelikte „weit mehr als eine halbe Million Euro“, so Urteil vom 20.9.2019, S. 52). Weiterhin sei die Tatmotivation beim Kläger völlig im Dunkeln geblieben; die Taten seien nicht aus einer besonderen Situation heraus, insbesondere nicht spontan aus einem äußeren Anlass, oder wegen einer Suchterkrankung und auch nicht wegen Geldnot begangen worden. Deswegen habe die Delinquenz auch nicht in der Haft behandelt oder bearbeitet werden können.
6
Angesichts dessen kann der Kläger nicht ohne weitere Erklärung behaupten, der „erstmalige Hafteindruck“ habe auf ihn bereits so eingewirkt, dass er keine Straftaten mehr begehen werde. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Senats die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr, erneut straffällig zu werden, mindern. Es müssen aber konkrete Anhaltspunkte dafür ersichtlich sein, dass ihn die Verbüßung der Freiheitsstrafe auch tatsächlich nachhaltig beeindruckt hat, er sich mit seiner kriminellen Vergangenheit auseinandersetzt und es zu einem nachhaltigen Einstellungswandel gekommen ist, dass also ein positiver Einfluss der Strafhaft auf die Persönlichkeitsentwicklung festzustellen ist. Insbesondere bei eingeschliffenen Verhaltensmustern kann verlangt werden, dass der Ausländer sich außerhalb des Justizvollzugs über einen längeren Zeitraum bewährt und durch gesetzeskonformes Verhalten gezeigt hat, dass er auch ohne den Druck des Strafvollzugs in Krisensituationen in der Lage ist, nicht erneut straffällig zu werden (siehe z.B. BayVGH, U.v. 12.4.2021 - 10 B 19.1716 - juris Rn. 66; BayVGH, B.v. 3.3.2016 - 10 ZB 14.844 - juris Rn. 15). Insoweit hat der Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass der Kläger bei Antritt der Strafhaft bereits 41 Jahre alt war und somit eine Einwirkung auf einen „jungen Menschen“ im Sinne einer „Nachreifung“ nicht mehr ohne weiteres angenommen werden kann. Deswegen und auch wegen der zutage getretenen „eingeschliffenen“ Verhaltensmuster, nämlich seine über Jahre hinweg in einem erheblichen Ausmaß andauernden Straftaten, kann eine Verhaltensänderung nicht allein durch die bloße Behauptung, keine Straftaten mehr begehen zu wollen, belegt werden. Auch die auch vom Kläger in seiner Begründung des Zulassungsantrags herangezogene Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 12. Juli 2021 fällt insoweit skeptisch aus: Der Kläger sei zwar freundlich und respektvoll, aber auch deutlich auf seine persönlichen Belange bedacht. Im Hinblick auf die von ihm begangenen Taten äußere er Reue, bagatellisiere und rechtfertige aber auch seine Delikte; eine angemessene Auseinandersetzung scheine noch nicht erfolgt. Auch in dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. September 2021 wird dem Kläger zugestanden, dass er weiter an der Aufarbeitung der Anlasstaten gearbeitet habe und diese bereue; dabei werde jedoch nicht übersehen, dass die Reue weiterhin hauptsächlich daraus resultiere, dass die Haft ihm und seiner Familie geschadet habe.
7
Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass der Kläger nunmehr erst rund ein Jahr und vier Monate nach der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung wieder in Freiheit ist. Er hat damit bisher erst etwa ein Drittel der festgesetzten Bewährungszeit von vier Jahren absolviert.
8
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats kommt einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer zwar eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Die Ausländerbehörde und die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran aber nicht gebunden; dabei bedarf es jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Entscheidung abgewichen wird (BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21). Hier ist zu berücksichtigen, dass vorzeitige Haftentlassung und Ausweisung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 10 C 10/12 - juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 27.9.2019 - 10 ZB 19.1781 - juris Rn. 11; B.v. 14.1.2019 - 10 ZB 18.1413 - juris Rn. 10).
9
Dem Kläger ist zwar zugute zu halten, dass seine bisherige Zeit „in Freiheit“ und auch vorher während der Vollzugslockerungen - soweit ersichtlich - beanstandungsfrei verlaufen ist. Dies ist aber noch nicht geeignet, die realistische Erwartung einer zukünftig straffreien Lebensführung glaubhaft zu machen. Denn ob dem Kläger auch nach Ende der Bewährungszeit, ohne die Unterstellung unter einen Bewährungshelfer und ohne den Druck eines möglichen Bewährungswiderrufs, ein straffreier Lebenswandel gelingen wird, lässt sich auf dieser Grundlage noch nicht hinreichend sicher prognostizieren. Zwar ist der Kläger wieder in ein „intaktes familiäres Umfeld“ zurückgekehrt, doch hat dieses ihn - worauf sowohl das Verwaltungsgericht wie auch die Justizvollzuganstalt hingewiesen haben - in der Vergangenheit auch nicht von der Begehung der Straftaten abgehalten. Hinzuweisen ist hier auch auf die hohe Schuldenlast des Klägers (laut der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt mehrere Hunderttausend Euro), dem nur ein geringes Einkommen des Klägers aus der nunmehr angetretenen Tätigkeit bei einer Zeitarbeitsfirma (laut dem vorgelegten Arbeitsvertrag mit einem Stundenlohn von 10,45 Euro brutto) gegenübersteht. Solange sich der Kläger noch nicht außerhalb des Strafvollzugs über einen längeren Zeitraum bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 3.4.2020 - 10 ZB 20.249 - juris Rn. 8 f.; B.v. 22.3.2019 - 10 ZB 18.2598 - juris Rn. 14).
10
b) Hinsichtlich der gemäß § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffenden Abwägung rügt der Kläger einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK und Art. 6 GG. Er lebe mit seiner Ehefrau und den beiden Kindern, die inzwischen deutsche Staatsangehörige seien, in einer gemeinsamen Wohnung und erbringe auch Betreuungs- und Unterhaltsleistungen für die Kinder. Ein Umzug nach Kamerun sei ihnen unzumutbar. Auch sei eine anderweitige Kontakthaltung nicht möglich, zumal bei kleinen Kindern eine Verweisung auf elektronische Medien nicht kindgerecht sei. Bei einem kleinen Kind könne selbst eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit schon unzumutbar lang sein. Außerdem sei die Ehefrau nunmehr erneut schwanger.
11
Mit diesen kaum substantiierten Ausführungen, die auch nur einen geringen Teil der Erwägungen des Verwaltungsgerichts ansprechen, werden keine Fehler in dessen Abwägungsentscheidung aufgezeigt. Fehl geht der Verweis auf „kleine“ bzw. „sehr kleine“ Kinder, die besonders schutzbedürftig sind, weil sie den Grund und den vorübergehenden Charakter einer Trennung vom Vater (hier aufgrund des Einreise- und Aufenthaltsverbots) oftmals noch nicht erfassen können; die beiden Kinder des Klägers sind derzeit rund 15 bzw. 13 Jahre alt. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass es der Ehefrau und den Kindern des Klägers und diesem selbst möglich sei, von seinem Heimatland aus den Kontakt wie bisher in der Haft postalisch und durch moderne Kommunikationsmittel aufzunehmen bzw. aufrechtzuerhalten, zumal die Beklagte mittlerweile die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf (nur) drei Jahre zugesichert hat.
12
Soweit in der Begründung des Zulassungsantrags eine Schwangerschaft der Ehefrau des Klägers (voraussichtlicher Entbindungstermin im Mai 2022) vorgetragen wurde, finden sich in den späteren, vom Kläger selbst verfassten umfangreichen Schriftsätzen keine Hinweise darauf, dass das Kind zur Welt gekommen ist; es ist nur von seinen (bisherigen) beiden Kindern die Rede.
13
Die zuletzt noch vorgetragene Augenverletzung durch einen Autounfall bei einem zwischenzeitlichen Aufenthalt in Kamerun kann ebenfalls das Abwägungsergebnis des Verwaltungsgerichts nicht in Frage stellen. Eine Reiseunfähigkeit ist nicht geltend gemacht, da der Kläger selbst vorgetragen hat, aus familiären Gründen (besuchsweise) nach Kamerun reisen zu wollen. Sollte der Kläger glaubhaft machen können, dass noch wichtige ärztliche Behandlungen aufgrund seiner Augenverletzung anstehen, könnte die Ausländerbehörde dem durch eine Verlängerung der Ausreisefrist (§ 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) oder durch eine vorübergehende Duldung (§ 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG) Rechnung tragen.
14
2. Hinsichtlich des behaupteten Zulassungsgrundes der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) hat der Kläger nichts dazu vorgetragen, inwiefern die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung eines der in dieser Vorschrift genannten Gerichte abgewichen sein sollte.
15
3. Auch ein beachtlicher Verfahrensfehler in der Form der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) ist nicht hinreichend vorgetragen. Es wird lediglich darauf verwiesen, das Verwaltungsgericht sei einem vom Kläger selbst gestellten Antrag auf Terminsverlegung nicht nachgekommen. Der Kläger war jedoch in der mündlichen Verhandlung durch seinen Bevollmächtigten vertreten, ohne dass dieser in irgendeiner Weise die Verletzung des rechtlichen Gehörs des Klägers geltend gemacht hat.
16
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
17
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).