Titel:
Bindung der Auslnderbehörden oder der Verwaltungsgerichte an strafrechtliche Urteile und die darin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen
Normenketten:
Daueraufenthalts-RL Art. 17 Abs. 1
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 38a, § 54 Abs. 2 Nr. 8 lit. a und Nr. 9
StPO § 154 Abs. 1, § 170 Abs. 2
VwGO § 146 Abs. 4 S. 6
Leitsätze:
1. Ausländerbehörden und die Verwaltungsgerichte sind an strafrechtliche Urteile und die darin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen zwar rechtlich nicht gebunden. Sie können diese aber ihrer Entscheidung in der Regel zugrunde legen und brauchen daher nicht nachzuprüfen, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Hinsichtlich der tatsächlichen Umstände der abgeurteilten Tat kann lediglich in Sonderfällen anderes gelten, wenn die Ausländerbehörde oder das Verwaltungsgericht ausnahmsweise in der Lage sind, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären, etwa indem sie über bessere Erkenntnismöglichkeiten verfügen, oder ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verurteilung auf einem Irrtum beruht. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, quasi hypothetisch eine strafgerichtliche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung nachzuvollziehen, um die Tragfähigkeit der strafgerichtlichen Entscheidung zu überprüfen, wenn eine sachgerechte Prozessführung mit der Darlegung der eigenen Sicht der vorgeworfenen Straftat im Strafverfahren offensichtlich durch eigenes Verschulden versäumt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2022 - 10 CS 21.1706, BeckRS 2022, 10613). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis, fehlende Regelerteilungsvoraussetzung, falsche Angaben bei Antrag auf Aufenthaltserlaubnis, Rückkehr in den Kosovo, strafgerichtliche Entscheidung, langfristig Aufenthaltsberechtigter, Slowenien, Fortbestand der Rechtsstellung, Regelerteilungsvoraussetzung, strafgerichtliche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung, RL 2003/109/EG
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 10.05.2022 – M 27 S 22.2039
Fundstelle:
BeckRS 2023, 969
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 10.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragsteller, kosovarische Staatsangehörige, verfolgen mit der Beschwerde ihren Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer beim Bayerischen Verwaltungsgericht München anhängigen Klage (M 27 K 22.2038) gegen den Bescheid des Landratsamts M. vom 15. März 2022 weiter, mit dem die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse (Antragsteller zu 1 bis 3) bzw. die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (Antragsteller zu 4) abgelehnt und ihnen die Abschiebung angedroht worden ist. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem angefochtenen Beschluss vom 10. Mai 2022 abgelehnt.
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Die zulässige Beschwerde ist in der Sache nicht begründet. Die dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung zu beschränken hat, rechtfertigen nicht die Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
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Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seines ablehnenden Beschlusses im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller zu 1 habe nach summarischer Prüfung keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG. Es sei schon nicht ersichtlich, dass er weiterhin die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in Slowenien innehabe; eine Anfrage der Ausländerbehörde bei den slowenischen Behörden sei unbeantwortet geblieben. Darüber hinaus stehe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegen, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des Fehlens eines Ausweisungsinteresses (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) nicht erfüllt sei. Beim Antragsteller bestehe ein schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 53 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, denn er habe am 23. Oktober 2020 bei der Antragstellung auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels auf dem Antragsformular die Frage, ob er wegen Rechtsverstößen verurteilt worden sei, verneint, obwohl gegen ihn mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 18. Juni 2020 wegen Anstiftung zur Urkundenfälschung eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen verhängt worden sei. Eine hypothetische Ausweisungsprüfung sei nicht notwendig. Die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liege auch gegenwärtig noch vor. Es sei auch nicht ausnahmsweise von der Regel des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzuweichen, da kein atypischer Geschehensablauf vorliege. Das sei auch nicht durch die Angabe, dass sein damaliger Rechtsanwalt die Anträge ausgefüllt habe, der Fall. Auch sein Vortrag, die nachfolgende Verurteilung wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels sei zu Unrecht erfolgt, verfange nicht; das Gericht dürfe von der Richtigkeit der Verurteilung ausgehen. Zu einem Abweichen von der Regel führe auch nicht sein langjähriger Aufenthalt und die Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet. Ein schwer wiegendes Ausweisungsinteresse bestehe auch nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Der Antragsteller zu 1 sei bereits zweimal strafrechtlich in Erscheinung getreten und zu Geldstrafen von 90 bzw. 120 Tagessätzen verurteilt worden. Die Antragstellerinnen zu 2 und 3 hätten keinen Anspruch auf Verlängerung, der Antragsteller zu 4 keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 30 ff. AufenthG; ihr Aufenthaltsrecht zum Familiennachzug leite sich vom Antragsteller zu 1 ab.
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In der Beschwerdebegründung wird - unter weitgehender wörtlicher Übernahme des Vortrags in der ersten Instanz - ausgeführt, die Verurteilung des Antragstellers zu 1 wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels sei zu Unrecht erfolgt, da nicht der tatsächliche Sachverhalt ermittelt worden sei. Das Antragsformular sei seinerzeit nicht durch ihn, sondern durch seinen damaligen Rechtsanwalt bzw. Personen aus dessen Kanzlei ausgefüllt worden. Er habe im Strafverfahren versucht, die Sachlage zu erklären, aber darauf vertraut, dass sein Rechtsanwalt die Sache klären würde. Es könne ihm daher nicht vorgeworfen werden, falsche Angaben gemacht zu haben. Sein Lebensunterhalt sei gesichert. Des Weiteren sei seine langfristige Aufenthaltsberechtigung in Slowenien nicht erloschen. Auch sei der Antragsteller zu 1 mittlerweile in Deutschland verwurzelt. Der langjährige Aufenthalt des sehr gut integrierten Antragstellers zu 1 in Deutschland sowie der Voraufenthalt in Slowenien sowie das geschilderte Zustandekommen der Verurteilung zu der Geldstrafe von 120 Tagessätzen sowie die Tatsache, dass die Antragstellerin zu 2 kurz vor der Möglichkeit zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis stehe, führe jedenfalls zu einem atypischen Fall.
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Dieses Vorbringen rechtfertigt es nicht, den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung sind die Ausländerbehörden und die Verwaltungsgerichte an strafrechtliche Urteile - bzw. rechtskräftige Strafbefehle, die Urteilen gleichgestellt sind (§ 410 Abs. 3 StPO) - und die darin enthaltenen tatsächlichen Feststellungen zwar rechtlich nicht gebunden. Sie können diese aber ihrer Entscheidung in der Regel zugrunde legen und brauchen daher nicht nachzuprüfen, ob der Betroffene tatsächlich eine Straftat begangen hat. Hinsichtlich der tatsächlichen Umstände der abgeurteilten Tat kann lediglich in Sonderfällen anderes gelten, wenn die Ausländerbehörde oder das Verwaltungsgericht ausnahmsweise in der Lage sind, den Vorfall besser als die Strafverfolgungsorgane aufzuklären, etwa indem sie über bessere Erkenntnismöglichkeiten verfügen, oder ohne weiteres erkennbar ist, dass die Verurteilung auf einem Irrtum beruht (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 24.2.1998 - 1 B 21.98 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 2.5.2022 - 10 CS 21.1706 - juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 26.10.2020 - 10 ZB 20.2140 - juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 5.9.2018 - 10 ZB 18.1121 - juris Rn. 6; OVG NW, B.v. 8.12.2015 - 18 A 2462/13 - juris Rn. 9 ff.).
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Hier besteht kein Anlass, die strafgerichtliche Entscheidung in diesem Sinne in Frage zu stellen. Trotz der ausführlichen Darstellung im erstinstanzlichen wie im Beschwerdeverfahren zum Zustandekommen der Falschangabe in dem Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis am 23. Oktober 2020 bleibt völlig unklar, warum dies im Strafverfahren nicht geltend gemacht worden ist. Nach Aktenlage hat eine Hauptverhandlung stattgefunden, zu der das persönliche Erscheinen des Antragstellers zu 1 angeordnet war, wie aus dem im Beschwerdeverfahren vorgelegten entsprechenden Beschluss des Amtsgerichts hervorgeht. Darüber, ob die Hauptverhandlung tatsächlich stattgefunden hat, wie sie verlaufen ist, wie der Antragsteller zu 1 als Angeklagter sich eingelassen hat und warum der Strafbefehl vom 11. Juni 2021 dann rechtskräftig geworden ist, bleibt die Beschwerdebegründung jegliche Darlegung schuldig. Die Angabe, „dass er versucht habe, die Sachlage zu erklären, aber darauf vertraut habe, dass sein Rechtsanwalt die Sache klären würde, was dann letztendlich aber nicht geschah“, bleibt in dieser pauschalen und unsubstantiierten Form unverständlich. Es ist nicht Aufgabe des Verwaltungsgerichts, quasi hypothetisch eine strafgerichtliche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung nachzuvollziehen, um die Tragfähigkeit der strafgerichtlichen Entscheidung zu überprüfen, wenn eine sachgerechte Prozessführung mit der Darlegung der eigenen Sicht der vorgeworfenen Straftat im Strafverfahren offensichtlich durch eigenes Verschulden versäumt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2022 - 10 CS 21.1706 - juris Rn. 6). Vielmehr muss der Antragsteller zu 1 nunmehr die rechtskräftige strafgerichtliche Entscheidung gegen sich gelten lassen.
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b) Ebenso ist kein atypischer Sachverhalt schlüssig vorgetragen, der eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 (i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a und Nr. 9) AufenthG begründen könnte. Der Antragsteller zu 1 wurde erstmals mit Strafbefehl vom 18. Juni 2020 wegen Anstiftung zur Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Er hatte im Jahr 2018 eine andere Person damit beauftragt, für ihn einen Sprachtest zu absolvieren; die andere Person legte hierzu den Ausweis des Antragstellers vor, der mit dem Lichtbild der anderen Person überklebt war. Bemerkenswert ist, dass dem Antragsteller zu 1 bereits im Jahr 2019 in einem anderen Ermittlungsverfahren vorgeworfen worden war, eine andere Person beauftragt zu haben, für ihn den Sprachtest abzulegen; das Ermittlungsverfahren wurde am 27. August 2019 (nur deshalb) nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil der Versuch nicht strafbar ist (S. 148 der Behördenakte). Weiterhin wurde am 13. Mai 2020 ein Verfahren wegen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt (S. 261 der Behördenakte). Die Verurteilung vom 11. Juni 2021 wegen Erschleichens eines Aufenthaltstitels zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen ist daher keineswegs so singulär, wie in der Beschwerdebegründung anklingt. Dass der Antragsteller zu 1 sich in Slowenien und im Kosovo straffrei geführt hat, ist insoweit irrelevant, da er seit 2012 seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland hatte.
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Auch der pauschale Verweis auf den „langjährigen Aufenthalt des sehr gut integrierten“ Antragstellers zu 1 sowie die familiären Verhältnisse lassen keinen atypischen Sachverhalt erkennen. Es ist nicht ersichtlich, dass ihn sowie die Antragsteller zu 2, 3 und 4 eine Rückkehr in den Kosovo (oder nach Slowenien) unverhältnismäßig hart treffen würde. Seine Ehefrau und seine Kinder besitzen kein eigenständiges Aufenthaltsrecht, sie könnten dieses nur vom Antragsteller zu 1 im Wege des Familiennachzugs ableiten.
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c) Ob der Lebensunterhalt der Antragsteller im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist, hat das Verwaltungsgericht dahinstehen lassen. Der diesbezügliche Vortrag in der Beschwerdebegründung geht ins Leere.
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d) Nicht zur Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung führt auch der Umstand, dass der Antragsteller zu 1 im Verlauf des Beschwerdeverfahrens nunmehr - wie auch der Beklagte anerkennt - den Fortbestand seiner Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in Slowenien nachgewiesen hat. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung selbständig tragend auch auf das Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gestützt. Die Beschwerdebegründung hat nichts dazu vorgetragen, dass im Falle einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG im Hinblick auf Art. 17 Abs. 1 der Daueraufenthaltsrichtlinie (RL 2003/109/EG) insoweit ein strengerer Maßstab anzuwenden wäre (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO). Im Übrigen liegen gewichtige Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor, denn der Antragsteller zu 1 ist - wie der Beklagte zu Recht geltend macht - innerhalb kurzer Zeit mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat insbesondere wiederholt versucht, sich durch unrichtige Angaben eine bessere (aufenthalts-) rechtliche Rechtsstellung zu verschaffen. Eine Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung aufgrund der vom Antragsteller zu 1 ausgehenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und seines Interesses an einem weiteren Aufenthalt geht daher zu seinen Lasten aus (zu Einzelheiten vgl. NdsOVG, B.v. 5.4.2019 - 13 ME 25/19 - juris Rn. 9; Zimmerer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2022, § 38a Rn. 12 ff.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG in Verbindung mit dem Streitwertkatalog für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).