Inhalt

AG Nürnberg, Endurteil v. 12.04.2023 – 17 C 6885/22
Titel:

Beförderungsangebot an Fluggast ohne Gepäck unzumutbar und unannehmbar

Normenkette:
Fluggastrechte-VO Art. 4 Abs. 3, Art. 5 Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 S. 1 lit. b, Art. 8, Art. 9 Abs. 1 lit. c
Leitsätze:
1. Auch ein völlig unannehmbares Beförderungsangebot einer Fluggesellschaft stellt eine Beförderungsverweigerung iSd Art. 4 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung dar. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wird Fluggästen zwar angeboten, dass sie befördert werden, ihr Gepäck aber nicht aufgegeben werden kann, ohne dass ihnen eine Nachlieferung und vorübergehende Verwahrung oder die Aufgabe des Gepäcks gegen eine zusätzliche Gebühr angeboten wird, handelt es sich um ein unzumutbares und unannehmbares Beförderungsangebot. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Mit dem Begriff „Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde“ in Art. 8 Abs. 1 lit. a 1. Gedankenstrich Fluggastrechteverordnung, sind neben Steuern und Gebühren auch etwaige Buchungspauschalen und Transaktionskosten sowie mit der Durchführung des Fluges eng verbundene Leistungen wie Sitzplatzreservierung, vorgebuchte Speisen etc. umfasst. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
4. Auch wenn die Flugtickets bzw. die Flugpauschalreise als Gruppenreise oder Familienreise von einer einzigen Person als Anmelder gebucht und regelmäßig alleine von diesem gezahlt wurde, ist Anspruchsinhaber und somit aktivlegitimiert ausschließlich jeder einzelne Reiseteilnehmer für sich als „Fluggast“, obwohl von ihm weder der Reisepreis noch das Ticketentgelt gezahlt worden ist. Will der Fluggast es dem Anmelder rechtlich möglich machen, etwa den Anspruch aus Art. 8 Fluggastrechteverordnung auf Erstattung der Flugscheinkosten im eigenen Namen geltend zu machen, bedarf es einer entsprechenden Abtretungsvereinbarung zugunsten des Anmelders. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fluggastrechteverordnung, Beförderungsverweigerung, unannehmbares Beförderungsangebot, Gepäckbeförderung, Sitzplatzreservierung, Anspruchsinhaber, Aktivlegitimation, Gruppenreise, Familienreise, VO (EG) Nr. 261/2004
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9585

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1) 449,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 871,50 € von 23.08.2022 bis  27.01.2023 und aus 449,50 € seit 28.01.2023 zu bezahlen. 
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 2) 400,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5  Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 800,00 € vom 23.08.2022 bis 27.01.2023 und aus 400,00 € seit 28.01.2023 zu bezahlen. 
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Kanzlei in Höhe von 280,60 € freizustellen. 
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
5. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten. 
Beschluss 
Der Streitwert wird bis 06.03.2023 auf 1.682,50 €, für die Zeit danach auf 860,50 € festgesetzt. 

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über Ausgleichszahlungen nach der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 (Fluggastrechteverordnung) i.H.v. jeweils 400 € sowie für den Kläger zu 1 zusätzlich über einen Rückerstattungsanspruch bzgl. gebuchter Sitzplatzreservierungen i.H.v. 22,00 € sowie Taxikosten i.H.v. 38,50 €.
2
Der Kläger zu 1 buchte für die Klägerin zu 2 und für sich selbst bei der Beklagten Flüge für den 11.07.2022 von Nürnberg über A nach P und für 21.07.2022 von L über A nach Nürnberg. Darüber hinaus reservierte der Kläger zu 1 für die Kläger insgesamt vier Sitzplätze für je 11,00 € je Flug und Fluggast.
3
Die Klagepartei hat aufzugebendes Gepäck vorab gebucht und gezahlt. Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 hatten einen aufzugebenden Koffer mit 22 kg auf der Flugreise dabei. Dieser konnte nicht als Handgepäck befördert werden. Die klagenden Passagiere wurden für den Rückflug umgebucht und erreichten den Zielflughafen statt am 21.07.2022 um 17:40 Uhr erst am 21.07.2022 um 22:05 Uhr. Auf dem späteren Flug war das Einchecken von Gepäck möglich.
4
Der Hinflug der Klagepartei wurde um über 24 Stunden verschoben. Die klagenden Fluggäste mussten in Nürnberg zunächst wieder nach Hause fahren und dann wieder zum Flughafen anreisen. Dadurch sind Taxi-Kosten i.H.v. 18,50 € und 20,00 € entstanden.
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Bezüglich des Rückfluges wurde der Klagepartei am Abend zuvor per E-Mail mitgeteilt, dass sie keine Koffer einchecken dürfen.
6
Die Beklagte verweist auf Art. 12 der Fluggastrechteverordnung.
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Die Klagepartei forderte die Beklagte erfolglos bezüglich des Hinfluges am 11.07.2022 auf, die Entschädigung zu zahlen. Eine Reklamation bezüglich des Rückfluges war systemtechnisch über das beklagtenseits zur Verfügung gestellte System nicht möglich.
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Da eine Zahlung nicht erfolgte, mandatierten der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 am 04.08.2022 einen Rechtsanwalt zur Wahrnehmung ihrer Interessen.
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Mit anwaltlichem Schreiben vom 09.08.2022 wurde die Beklagte erfolglos zur Zahlung von 1.682,50 € sowie außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten i.H.v. 280,60 € bis 22.08.2022 aufgefordert.
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Die Kläger behaupten, dass ihnen beim Rückflug von L nach Nürnberg mitgeteilt worden sei, dass kein Gepäck zum Einchecken erlaubt sei. Die Wahrnehmung des Rückfluges ohne Möglichkeit der Mitnahme des einzucheckenden Koffers sei schlichtweg nicht möglich gewesen. Die Kläger hätten deshalb umgebucht werden müssen. Die Nutzung der gebuchten Sitzplätze auf dem Rückflug sei entfallen. Die Koffer hätten die Kläger auch nicht gegen eine zusätzliche Gebühr einchecken dürfen. Die Kläger seien vonseiten des Personals der Beklagten auf einen späteren Rückflug umgebucht worden, da ihnen mitgeteilt worden sei, dass beim Rückflug das Einchecken eines Koffers nicht möglich sei. Die Kläger gaben an, sie hätten hierauf keine Entscheidungs- oder Gestaltungsmöglichkeiten gehabt.
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Die Kläger meinen, sie hätten Ansprüche auf Zahlung der Entschädigungsleistung sowie Erstattung der Kosten für die Sitzplatzreservierung sowie die Fahrten mit dem Taxi. Die Kläger sind der Auffassung, sie hätten davon ausgehen können und dürfen, dass sie ihr Gepäck auch auf dem Rückflug wieder einchecken und somit mit nach Hause nehmen können.
12
Mit Schriftsatz vom 23.02.2023 erklärten die Kläger den Rechtsstreit i.H.v. 422,00 € für den Klageantrag in Ziffer I und i.H.v. 400,00 € in Ziffer II für erledigt. Die Beklagte stimmte mit Schriftsatz vom 06.03.2023 der teilweisen Erledigungserklärung zu.
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Die Kläger beantragen zuletzt,
I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger zu 1) einen Betrag in Höhe von 460,50 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 882,50 € seit 23.08.2022 bis zum 27.01.2023 und aus 460,50 € seit 28.01.2023 zu bezahlen.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 2) einen Betrag von 400,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 800,00 € vom 23.08.2022 bis 27.01.2023 und aus 400,00 € seit 28.01.2023 zu bezahlen.
III. Die Beklagte wird verurteilt, die Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Kanzlei in Höhe von 280,60 € freizustellen.
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Die Beklagte beantragt zuletzt,
Die Klage wird abgewiesen.
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Die Beklagte behauptet, die Aufgabe von Gepäck sei notfalls gegen Zahlung eines geringen Aufpreises möglich. Die Beförderung sei nicht verweigert worden.
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Die Beklagte meint, gemäß Art. 12 der Fluggastrechteverordnung sei die Ausgleichsleistung auf einen weitergehenden Schadensersatz anzurechnen. Hintergrund der Regelung sei, dass die Passagiere nicht einerseits den pauschalen Schadensersatz nach der Fluggastrechteverordnung erhalten und dann noch zusätzlich den konkret bezifferten materiellen Schadensersatz. Bezüglich des Rückfluges greife die Fluggastrechteverordnung nicht, da der gebuchte Flug weder verspätet noch annulliert worden sei. Es bestehe auch kein Anspruch auf Erstattung von Kosten für die Sitzplatzreservierungen. Es stelle einen außergewöhnlichen Umstand dar, wenn das Gepäckbeförderungssystem am Flughafen in Amsterdam ausfalle. Zudem habe sich die Beklagte vor Beauftragung des klägerischen Rechtsanwaltes nicht in Verzug befunden. Dies sei jedoch Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
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Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist weitgehend begründet.
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I. Das Amtsgericht Nürnberg ist gemäß § 29 Abs. 1 ZPO bzw. Art. 7 Nr. 1 lit b Spiegelstrich 2 Brüssel-Ia-Verordnung örtlich zuständig, da bei Luftbeförderungsverträgen der Abflug- und der (End-)Zielflughafen als Erfüllungsorte anzusehen sind (zuletzt EuGH, Urteil vom 07.03.2018, Az. C-274/16, C-447/16 und C-448/16, juris). Sachlich ist das Amtsgericht gemäß § 1 ZPO i.V.m. § 23 Nr. 1 GVG zuständig.
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II. Die Klage ist weitgehend begründet.
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Die Kläger haben einen Anspruch auf Ausgleichszahlung i.H.v. je 400,00 € aus Art. 4 Abs. 3, 7 Abs. 1 S. 1 b) Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (im Folgenden: Fluggastrechteverordnung). Hinsichtlich der Erstattung der Kosten der Sitzplatzreservierung hat lediglich der Kläger zu 1 einen Anspruch bezüglich seiner Kosten. Hinsichtlich der Reservierung für die Klägerin zu 2 war die Klage mangels Aktivlegitimation des Klägers zu 1 insoweit abzuweisen.
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1. Gemäß Art. 4 Abs. 3, 7 Abs. 1 S. 1 b Fluggastrechteverordnung wird Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen bei Nichtbeförderung gegen den Willen des Fluggastes ein Betrag in Höhe von 400,00 € bei allen innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 1.500 km und bei allen anderen Flügen über eine Entfernung zwischen 1.500 km und 3.500 km gewährt.
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Noch streitgegenständlich ist die Beförderung mit den Flügen von Lissabon über Amsterdam nach Nürnberg am 21.07.2022. Die entsprechenden Flüge wurden vorliegen unstreitig weder annulliert, noch hatten diese konkret gebuchten Flüge Verspätung i.S.d. Art. 5 Fluggastrechteverordnung. Allerdings haben die Kläger dennoch Anspruch auf die Entschädigung wegen Nichtbeförderung i.S.d. Art. 4 Abs. 3 Fluggastrechteverordnung.
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a) Gemäß Art. 4 Abs. 3 der Fluggastrechteverordnung erbringt das ausführende Luftfahrtunternehmen, hier die Beklagte, den Fluggästen unverzüglich die Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 und die Unterstützungsleistungen gemäß den Artikeln 8 und 9, wenn den Fluggästen gegen ihren Willen die Beförderung verweigert wird. Die Vorschrift hat zwar ihren Hauptanwendungsbereich im Rahmen der Beförderungsverweigerung aufgrund von Überbuchungen, allerdings ist der Anwendungsbereich hierauf nicht beschränkt (NJW 2013, 361 Rn. 19 ff., BeckOGK/Steinrötter, 1.2.2023, Fluggastrechte-VO Art. 4 Rn. 5).
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Über diesen Wortlaut hinaus stellt auch ein völlig unannehmbares Beförderungsangebot einer Fluggesellschaft eine Beförderungsverweigerung in diesem Sinne dar. Ein unannehmbares Beförderungsangebot ist der Beförderungsverweigerung nach dem Sinn und Zweck der Norm gleichzustellen, um eine Umgehung der Fluggastrechteverordnung zu vermeiden. Dies ist jedoch auf im Einzelfall zu prüfende, krasse Ausnahmefälle beschränkt (so auch AG Geldern, Urt. v. 3. 8. 2011 − 4 C 628/10).
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Eine unzumutbares und unannehmbares Beförderungsangebot liegt dann vor, wenn die Fluggesellschaft die Beförderung so anbietet, dass das Angebot einer Verweigerung der Beförderung gleichzustellen ist. Dem Fluggast ist eine Wahrnehmung der Beförderung unter den angebotenen Bedingungen unter Zugrundelegen von objektiven Kriterien aus Sicht des konkreten Fluggastes nicht zumutbar.
27
Vorliegend wurde den Klägern am Abend vor dem Rückflug per E-Mail mitgeteilt, dass sie keine Koffer einchecken dürfen.
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Den Fluggästen wurde also angeboten, dass sie selbst zwar befördert werden würden, das Gepäck jedoch nicht aufgegeben werden könne. Ein Angebot hinsichtlich des Gepäcks, wie etwa eine Nachlieferung und vorübergehende Verwahrung, wurde den Klägern nicht angeboten. Auch eine Aufgabe des Gepäcks gegen eine zusätzliche Gebühr wurde den Klägern, entgegen des Vortrags der Beklagten, ausweislich der E-Mail vom 20.07.2022 nicht angeboten. Ein Beweisangebot für die Möglichkeit des Aufgebens von Gepäck gegen einen Aufpreis machte die Beklagte nicht. Insbesondere hatten jedoch die Kläger bereits die Gepäckaufgabe mitgebucht und entsprechend gezahlt. Die Alternative zum Nichtantreten des Fluges wäre daher gewesen, die Koffer am Abflugort ohne Aufsicht und Aussicht darauf, wann und wie sie diese zurückbekommen würden, zurückzulassen. Diese Alternative ist jedoch für die Fluggäste nicht hinnehmbar, da sie letztlich gezwungen wären, Eigentum und Besitz ihrer persönlichen Gegenstände, deren Beförderung sie mitgebucht haben, faktisch aufzugeben. Dies ist ihnen nicht zumutbar, sodass im vorliegenden Fall das Angebot der Beförderung ohne Gepäck einer Beförderungsverweigerung gleichzustellen ist.
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b) Die Beklagte kann sich auch nicht auf Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechteverordnung berufen. Die Entlastungsvorschrift ist bereits nicht anwendbar, da Art. 7 Fluggasrechteverordnung vorliegend durch den Verweis in Art. 4 Abs. 3 Fluggasrechte Verordnung zur Anwendung kommt. Auch analog ist die Vorschrift nicht anwendbar. Für eine planwidrige Regelungslücke ist nichts ersichtlich.
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Überdies kann ohnehin dahinstehen, ob die Störung des Gepäckbeförderungssystems einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, da die Beklagte jedenfalls innerhalb der ihr nachgelassenen Schriftsatzfrist nichts zu den ihr zumutbaren Maßnahmen vorgetragen hat. Hierzu erfolgt Beklagtenseits kein Vortrag, um sich zu entlasten. Insoweit obläge ihr jedoch die Darlegungs- und Beweislast.
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c) Mithin haben die Kläger einen Anspruch auf Zahlung von je 400,00 €. Unstreitig ist Art. 7 Abs. 1 lit. b Fluggastrechteverordnung der Höhe nach einschlägig.
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2. Weiter erstattungsfähig sind die Kosten für die Sitzplatzreservierung i.H.v. 11,00 € für den Kläger zu 1 gemäß Art. 4 Abs. 3, Art. 8 Fluggastrechteverordnung. Der Kläger zu 1 ist jedoch nicht aktivlegitimiert für die Kosten der Sitzplatzreservierung für die Klägerin zu 2, sodass die Klage insoweit abzuweisen war.
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Mit dem Begriff „Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde“ in Art. 8 Abs. 1 lit. a Spiegelstrich 1 Fluggstrechteverordnung sind neben Steuern und Gebühren auch etwaige Buchungspauschalen und Transaktionskosten sowie mit der Durchführung des Fluges eng verbundene Leistungen wie Sitzplatzreservierung, vorgebuchte Speisen etc. umfasst, um dem sich aus Art. 8 Abs. 1 Fluggasrechteverordnung ergebenden Zweck eines Schutzes des Fluggastes wie auch generell dem intendierten hohen verbraucherschützenden Niveau der Verordnung Genüge zu tun. (BeckOK Fluggastrechte-VO/Degott, 25. Ed. 1.1.2023, Fluggastrechte-VO Art. 8 Rn. 4b m.w.N.)
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a) Durch die faktische Nichtbeförderung des Klägers zu 1 auf dem gebuchten Flug aufgrund des unzumutbaren Angebots (s.o.) sind auch die Kosten für die nutzlos gewordene Sitzplatzreservierung i.H.v. 11,00 € zu erstatten.
35
b) Der Kläger zu 1 ist bezüglich der Sitzplatzreservierung der Klägerin zu 2 nicht aktivlegitimiert, sodass die Klage i.H.v. 11,00 € abzuweisen war.
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Auch wenn die Flugtickets bzw. die Flugpauschalreise als Gruppenreise oder Familienreise von einer einzigen Person als Anmelder gebucht und regelmäßig alleine von diesem gezahlt wurde, ist Anspruchsinhaber und somit aktivlegitimiert ausschließlich jeder einzelne Reiseteilnehmer für sich als „Fluggast“, obwohl von ihm weder der Reisepreis noch das Ticketentgelt gezahlt worden ist. Will der Fluggast es dem Anmelder rechtlich möglich machen, etwa den Anspruch aus Art. 8 Fluggastrechteverordnung auf Erstattung der Flugscheinkosten im eigenen Namen geltend zu machen, bedarf es einer entsprechenden Abtretungsvereinbarung zugunsten des Anmelders. (BeckOK FluggastrechteVO/Degott, 25. Ed. 1.1.2023, Fluggastrechte-VO Art. 8 Rn. 50, 50a) Die vertraglichen Beziehungen sind dabei ebenfalls unerheblich (BeckOGK/Steinrötter, 1.2.2023, Fluggastrechte-VO Art. 8 Rn. 62).
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Vorliegend macht der Kläger zu 1 auch die Kosten für die Sitzplatzreservierung der Klägerin zu 2 geltend. Für eine Abtretung der Ansprüche insoweit ist nichts ersichtlich und nichts vorgetragen. Damit war die Klage mangels Aktivlegitimation insoweit abzuweisen.
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3. Weiter hat der Kläger zu 1 einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Taxifahrten als Betreuungsleistungen gemäß Art. 4 Abs. 3, Art. 9 Abs. 1 lit. c Fluggastrechteverordnung.
39
Danach ist den Fluggästen unentgeltlich die Beförderung zwischen dem Flughafen und dem Ort der Unterbringung (Hotel oder Sonstiges) anzubieten.
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Kommt ein Luftfahrtunternehmen dieser Verpflichtung nicht nach (gleich, ob es keine beschaffen kann oder es nicht will), kann der Fluggast unter Beachtung der Grundsätze der Schadensminderungspflicht (§ 254 BGB) selbst Abhilfe schaffen und Ersatz in Höhe der von ihm aufgewendeten Kosten verlangen. Die Fluggesellschaft muss dann die notwendigen Kosten zur Beschaffung der verweigerten Betreuungsleistungen dem Fluggast auch dann ersetzen, wenn der Fluggast die Betreuungsleistungen nicht unmittelbar im maßgeblichen Zeitpunkt von der Fluggesellschaft gefordert hat (BeckOK Fluggastrechte-VO/Hopperdietzel, 25. Ed. 1.1.2023, Fluggastrechte-VO Art. 9 Rn. 27 m.w.N.). Erstattungsfähig sind Aufwendungen des Fluggastes, die sich in Anbetracht der eigenen Umstände als notwendig, angemessen und zumutbar erweisen, um den Ausfall der Betreuung des Fluggasts durch das Luftfahrtunternehmen auszugleichen (BeckOK Fluggastrechte-VO/Hopperdietzel, 25. Ed. 1.1.2023, Fluggastrechte-VO Art. 9 Rn. 33 m.w.N.).
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Auch die Beförderung zwischen Flughafen und der Wohnung der Fluggäste ist danach erstattungfähig. Die Kläger haben unstreitig die Nacht zwischen geplantem und durchgeführtem Hinflug zuhause verbracht und mussten daher vom Flughafen wieder zurück nach Hause und wieder zum Flughafen fahren. Hierfür sind dem Kläger zu 1 am 11.07.2022 Kosten i.H.v. 18,50 € und am 12.07.2022 i.H.v. 20,00 € entstanden. Der Klägerin zu 2 sind insoweit keine Kosten entstanden. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zu 1 hierbei gegen seine Schadensminderungspflicht gemäß § 254 BGB verstoßen haben, liegen nicht vor. Auch ist nicht ersichtlich, dass die Kosten allein für den Kläger zu 1 geringer gewesen wären, wenn nur er alleine mit dem Taxi gefahren wäre, sodass er für die gesamten Kosten insoweit aktivlegitimiert ist und sie folglich ersetzt verlangen kann.
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4. Gemäß Art. 12 Abs. 1 Fluggastrechteverordnung gilt diese Verordnung unbeschadet eines weitergehenden Schadensersatzanspruchs des Fluggastes. Die nach dieser Verordnung gewährte Ausgleichsleistung kann auf einen solchen Schadensersatzanspruch angerechnet werden.
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Die Beklagte verweist im Rahmen der Klageerwiderung auf Art. 12 der Fluggastrechteverordnung, da die Fluggäste nicht einerseits den pauschalen Schadensersatz nach der Fluggastrechteverordnung erhalten und dann noch zusätzlich den konkret bezifferten materiellen Schadensersatzanspruch.
44
Die Beklagte verkennt jedoch dabei, dass die Ansprüche auf Erstattung der Flugscheinkosten sowie der Taxikosten aus Art. 8 und 9 Fluggasrechteverordnung herrühren. Die Ansprüche aus Art. 7 bis 9 Fluggasrechteverordnung stehen vorliegend gemäß Art. 4 Abs. 3 Fluggasrechteverordnung kumulativ nebeneinander. Eine Anrechnung erfolgt nicht.
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5. Die Kläger haben einen Anspruch auf Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 280,60 € gemäß §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, 249 BGB.
46
Unstreitig forderten die Kläger die Beklagte bezüglich des Fluges am 11.07.2022 erfolglos selbst zur Entschädigung bezüglich des Hinfluges auf. Ebenso unstreitig war eine Reklamation bezüglich des Rückfluges über das beklagtenseits zur Verfügung gestellte System technisch nicht möglich. Die Beklagte hat lediglich bestritten, dass sie sich vor Beauftragung in Verzug befunden hat. Dies ist jedoch als Rechtsfolge einem Bestreiten nicht zugänglich. Mithin befand sich die Beklagte jedenfalls im Zeitpunkt der Mandatierung am 04.08.2022, über drei Wochen nach der Zahlungsaufforderung bzw. der Unmöglichkeit der Geltendmachung, in Verzug, sodass die außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten als Verzugsschaden geltend gemacht werden können. Die Forderung der außergerichtlichen Vertretung gegenüber den Klägern stellt einen gemäß § 249 Abs. 1 BGB erstattungsfähigen Schaden dar, wovon die Kläger im Wege der Naturalrestitution freizustellen sind.
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Die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren errechnen sich wie folgt:

1,3 Geschäftsgebühr Nr. 2300, 1008 VV RVG aus 1.671,50 €

215,80 €

Auslagen Nr. 7001 und 7002 VV RVG

20,00 €

Mehrwertsteuer 19,00%

44,80 €

Summe

280,60 €
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6. Die Verurteilung zur Zahlung der Nebenforderung gründet sich auf §§ 280 Abs. 2, 286, 288 BGB. Die Beklagte wurde erneut mit Schreiben vom 09.08.2022 unter Fristsetzung zur Zahlung bis 22.08.2022 aufgefordert, sodass die Forderungen jedenfalls ab dem beantragten 23.08.2022 zu verzinsen sind. (§ 308 Abs. 1 ZPO).
49
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Zuvielforderung der Klagepartei war verhältnismäßig geringfügig. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Streitwertentscheidung beruht auf § 3 ZPO.