Titel:
Haftungsverteilung bei die Kurve schneidendem Vorfahrtsberechtigten
Normenketten:
StVG § 17
StVO § 1 Abs. 2, § 8 Abs. 2
Leitsatz:
40% Mitverschulden eines Unfallgeschädigten, der zwar vorfahrtverletzend in die Straße einfährt, dessen Unfallgegner aber durch grobes Schneiden der Kurve den Unfall maßgebend mitverursacht hat. (Rn. 37 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kreuzung, Kurve schneiden, Vorfahrt
Fundstellen:
BeckRS 2023, 9553
LSK 2023, 9553
NJOZ 2023, 1360
r+s 2023, 914
Tenor
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 3.372,62 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 29.05.2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 482,53 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 15.07.2021 zu zahlen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 40 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 60 % zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteil vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leisten.
Tatbestand
1
Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 01.04.2021 geltend.
2
Der Kläger war im Unfallzeitpunkt Eigentümer, Fahrer und Halter des Fahrzeugs Pkw Audi A4 mit dem amtlichen Kennz: ...5 Der Beklagte zu 1) war Fahrer des gegnerischen Fahrzeugs, Leichfkraftrad Yamaha mit dem amtlichen Kennz: ...4 welches bei der Beklagten zu 2) versichert war.
3
Der Unfall ereignete sich am 01.04.2021 gegen 19.22 Uhr im Bereich E.weg/M.-gasse in ... A. Der Kläger bog vom E.weg blinkend nach rechts in die bevorrechtigte M.-gasse ab. Der Beklagte zu 1) bog von der bevorrechtigten M.-gasse kommend blinkend nach links in den E.weg ab. Hierbei stieß der Beklagte zu 1) mit der rechten Front des Leichtkraftrads an die rechte Seite des Klägerfahrzeugs.
4
Mit Schreiben vom 20.04.2021 (K4) wurde die Beklagte zu 2) zur Zahlung von 5.626,03 € unter Fristsetzung bis 04.05.2021 aufgefordert. Eine Schadenregulierung erfolgte auch nach Ablauf der Nachfristsetzung bis 28.05.2021 mit Schreiben vom 18.05.2021 (K5) nicht. Mit email vom 04.05.2021 leitete die Beklagte zu 2) dem Kläger ein Restwertangebot zu, wonach für das verunfallte Fahrzeug des Klägers ein Restwert von 3.640 € bezahlt worden wäre. Der Kläger nutzt sein verunfalltes Fahrzeug weiter und beabsichtigt, es auch nach einer Reparatur weiter zu nutzen.
5
Der Kläger behauptet, er habe sich beim Abbiegevorgang am rechten Fahrbahnrand gehalten. Als er den Abbiegevorgang fast abgeschlossen habe, sei ihm der Beklagte zu 1) mit seinem Motorroller auf seiner Fahrbahnseite die Kurve schneidend entgegen gekommen. Er habe trotz Gefahrennotbremsung und Ausweichversuch die Kollision mit dem Beklagten zu 1) nicht abwenden können. Durch den Unfall sei dem Kläger infolge des angesetzten Restwerts von 2.300 € ein Schaden in Höhe von 5.621,03 € entstanden.
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Der Kläger ist der Auffassung, der Beklagte zu 1) sei wegen Verletzung des Rechtsfahrgebots gem. § 2 Abs. 2 StVO für das Unfallgeschehen alleine verantwortlich. Der Kläger habe keine Möglichkeit gehabt, die Kollision bei seinem Abbiegevorgang abzuwenden.
1. Die Beklagten werden gesamtverbindlich verurteilt, an den Kläger 5.621,03 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins hieraus seit dem 29.05.2021 zu bezahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 655,79 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
8
Die Beklagten beantragen:
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Die Beklagten sind der Auffassung, der Kläger habe den Verkehrsunfall alleine schuldhaft verursacht. Der Kläger sei unter Missachtung des Vorrangs des Beklagten zu 1) in die bevorrechtigte M.-gasse abgebogen. Er hätte auf der gesamten Fahrbahnbreite der M.-gasse den Vorrang dort befindlicher Kraftfahrzeuge beachten müssen. Bereits der Beweis des ersten Anscheins spräche für ein Alleinverschulden des Klägers. Der Kläger müsse sich schließlich das Restwertangebot zurechnen lassen.
10
Das Gericht hat am 10.05.2022 mündlich verhandelt und den Kläger als auch den Beklagten zu 1) informatorisch angehört. Es hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugin Michelle P. und Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) V. N.. Zum Inhalt der informatorischen Anhörungen und zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 10.05.2022 und das Gutachten vom 24.07.2022 verwiesen. Mit Beschluss vom 24.10.2022 hat das Gericht nach Zustimmung der Parteien bestimmt, dass gemäß § 128 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung entschieden wird. Schriftsätze konnten bis 20.12.2022 eingereicht werden.
11
Zur Ergänzung des Tatbestandes und wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 10.05.2022 hingewiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist teilweise begründet.
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Dem Kläger steht gegen die Beklagten als Gesamtschuldner ein Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz jedoch nur in Höhe von 3.372,62 € sowie ein Anspruch auf Zahlung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten nur in Höhe von 482,53 € jeweils nebst Zinsen aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 BGB, §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG, § 1 PflVG, §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1, §§ 291, 288 Abs. 1 BGB zu.
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1. Die Beklagten schulden dem Kläger Schadensersatz aus dem Verkehrsunfall vom 01.04.2021 gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 BGB, §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG, § 1 PflVG jedoch nur in Höhe von 3.372,62 €.
15
Am 01.04.2021 gegen 19.22 Uhr befuhr der Kläger mit dem Pkw Audi den E.weg in O. in Richtung der mittels Zeichen 306 bevorrechtigten M.-gasse. Ohne anzuhalten bog er schließlich blinkend vom, mit einem Zeichen 205 versehenen E.weg mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h nach rechts in die M.-gasse ein. Hierbei befuhr er die Fahrbahn nahe dem in seiner Richtung rechtsseitigen Fahrbahnrand, wobei die Sicht im rechtsseitigen Bereich der Einmündung für beide Beteiligten eingeschränkt war. Der Beklagte zu 1) bog mit dem Leichtkraftrad Yamaha von der bevorrechtigten M.-gasse kommend blinkend nach links in den E.weg ab. Hierzu leitete der Beklagte zu 1) seine linksorientierte Bogenfahrt zum Abbiegen in den E.weg in einer Entfernung von mindestens 15 m zur Einmündung, die Kurve schneidend, ein. Im Kurvenbereich nahe des, aus Sicht des Beklagten zu 1) linksseitigen Fahrbahnrandes der M.-gasse kollidierten die Fahrzeuge, wobei die rechte Front des Beklagtenfahrzeuges mit der rechten Seite des Klägerfahrzeuges zusammenstieß.
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Dieser Unfallhergang ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus dem unstreitigen Sachvortrag, den überwiegend untereinander zu vereinbarenden Angaben des Klägers, des Erstbeklagten und der Zeugin Michelle P. sowie den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) V. N. in seinem schriftlichen Gutachten vom 24.07.2022.
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Der Kläger gab informatorisch an, ganz rechts auf seiner Fahrbahnseite gefahren zu sein. Der Erstbeklagte sei ihm auf seiner Fahrbahn ungefähr mittig entgegen gekommen, als er mit ca. 20 km/h um die Kurve gekommen sei. Er habe am Ende des Erlbachweges nicht gehalten und sei ohne zu halten in die M.-gasse eingefahren, wobei man nach rechts nicht um die Kurve sehen habe können. Die Kollision habe nach der Kurve stattgefunden. Der Erstbeklagte gab hierzu informatorisch an, sich zum Abbiegen in den E.weg zur Fahrbahnmitte auf die gedachte Mittellinie mit unter 50 km/h eingeordnet zu haben. Er habe zunächst nach links in Richtung Mitte der Fahrbahn gelenkt und sei wieder geradeaus gefahren, als er den Kläger mit seinem Fahrzeug gesehen habe. Er sei auf seiner Fahrbahnhälfte gefahren. Dann sei ihm das Fahrzeug des Klägers entgegen gekommen. Die Zeugin Michelle P. gab hierzu an, dass das Auto sehr schnell aus der Straße herausgezogen sei. Der Motorradfahrer sei ca. 10 bis 15 m vor der Einfahrt schon relativ weit auf der linken Spur gefahren, nicht komplett links sondern tendenziell zur Mitte links orientiert. Er habe sich etwas links von der Fahrbahnmitte befunden. Das Moped sei schneller als der Audi gefahren, der Kläger sei wohl 20 bis 30 km/h und der Beklagte zu 1) ca. 30 bis 40 km/h gefahren.
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Damit bestätigten sowohl der Kläger selbst als auch die Zeugin P. nachvollziehbar und übereinstimmend, dass der Kläger ohne anzuhalten in die M.-gasse einbog. Auch die Einschätzung der Zeugin P. der Geschwindigkeit des Klägers mit 20 km/h bis 30 km/h und des Erstbeklagten mit 30 bis 40 km/h lässt sich mit den Angaben der Beteiligten selbst vereinbaren. Der Kläger, der Erstbeklagte und die Zeugin P. gaben weiter übereinstimmend an, dass sich der Erstbeklagte nach links einordnete, um in den E.weg einzufahren.
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Das Gericht schließt sich weiter den nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) V. N. in seinem schriftlichen Gutachten vom 24.07.2022 vollumfänglich an, wonach die M.-gasse gegenüber dem E.weg mittels Zeichen 306 bevorrechtigt und im E.weg das Zeichen 205 (Vorfahrt gewähren) installiert sei. Der Bereich, in dem es zum Zusammenstoß kam, lasse sich eingrenzen mit „auf der Fahrbahn der M.-gasse, dies nahe zu deren westlichem Fahrbahnrand“ bis hin zu „Übergang Einmündungstrichter zur Fahrbahn der M.-gasse“. Der Beklagte zu 1) habe sich mit seinem Leichtkraftrad Yamaha dabei in unmittelbarer Nähe zum, in seiner Fahrtrichtung gesehen, linken Fahrbahnrand befunden. Im südwestlichen Bereich der Einmündung stehe eine die Sicht beider Beteiligter behindernde Hecke, darüber hinaus befinde sich in Angrenzung an die Fahrbahn eine Parkstellfläche. Weiter führt der Sachverständige aus, dass es technisch mit der Spurenlage und bewegungsanalytisch zu vereinbaren sei, dass der Kläger mit dem Audi ohne anzuhalten mit einer Geschwindigkeit von rund 20 km/h in die M.-gasse eingebogen sei. Die fahrbahnbezogene Kollisionsstellung der Fahrzeuge lasse sich zwanglos damit vereinbaren, dass der Beklagte zu 1) seine linksorientierte Bogenfahrt (zum Abbiegen in den E.weg) in einer Entfernung von 15 m oder mehr zur Einmündung eingeleitet habe. Daraus folge, dass der Beklagte zu 1) demnach „die Kurve schneidend“ nach links in den E.weg habe abbiegen wollen.
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Hiernach ist das Gericht auch überzeugt davon, dass sich der Erstbeklagte bei seinem Abbiegevorgang nahe der aus seiner Sicht linken Fahrbahnseite, mithin auf der Fahrbahnseite des Klägers befand. Zwar bewerteten der Kläger, der Beklagte und die Zeugin P. unterschiedlich, wie weit sich der Erstbeklagte auf der Fahrbahn bei einer unmarkierten Mittellinie nach links einordnete. Aufgrund der überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen zum Kollisionsort nahe des Fahrbahnrandes, der fahrbahnbezogenen Kollisionsstellung der Fahrzeuge und den bewegungsanalytischen Betrachtungen, geht auch das Gericht von einer die Kurve schneidenden Einleitung des Abbiegevorgangs durch den Erstbeklagten aus.
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Der Einvernahme der von der Klagepartei angebotenen Zeugin POMin D. bedurfte es nicht mehr. Soweit der Kläger nicht selbst den Unfallhergang, so wie er zur Überzeugung des Gerichts feststeht, schilderte, konnte er seine entscheidungsrelevanten Behauptungen im Rahmen der Beweisaufnahme beweisen.
1.2. Rechtliche Bewertung
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Die Beklagten haften gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 BGB, §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG, § 1 PflVG, jedoch nur anteilig mit einer Quote von 60 % für den unfallbedingten Schaden am Fahrzeug des Klägers.
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1.2.1. Das Klägerfahrzeug wurde beim Betrieb des Beklagtenfahrzeugs beschädigt, der Unfall ist nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen, § 7 Abs. 1, Abs. 2 StVG. Der Beklagte zu 1) ist gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 StVG als Führer des Beklagtenfahrzeugs und die Beklagte zu 2) gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG als Pflichtversicherer verpflichtet, den entstehenden Schaden gesamtschuldnerisch i.S.d. § 115 Abs. 1 S. 4 VVG zu ersetzen.
24
Die Beklagten haben nicht beweisen können, dass der Unfall für den Beklagten zu 1) unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG war. Der Sachverständige Dipl.-Ing. (FH) V. N. stellte hingegen überzeugend fest, dass der Beklagte zu 1) den Unfall vermeiden hätte können, wenn er sich der Einmündung etwa im Bereich der Mitte der M.-gasse angenähert und dann – beginnend im Bereich des Einmündungstrichters – eine linksorientierte Bogenfahrt und damit das Abbiegen in den E.weg eingeleitet hätte.
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1.2.2. Steht mithin die grundsätzliche Haftung der Beklagtenseite fest, ist zu prüfen, ob eine Mithaftung der Klägerseite zu berücksichtigen ist. Dafür kommt als rechtliche Grundlage nur § 17 StVG in Betracht, der im Bereich der Gefährdungshaftung § 254 BGB als spezielleres Gesetz verdrängt.
26
Gemäß § 17 Abs. 1 StVG ist dafür allerdings zunächst die Feststellung erforderlich, dass beide Beteiligten kraft Gesetzes zum Ersatz des Schadens verpflichtet sind. Dies gilt für den Halter und wegen der Verweisung in § 18 Abs. 3 StVG auch für den Fahrer.
27
Deshalb ist auch für die Klägerseite zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 7 StVG gegeben sind. Dies ist der Fall. Das Beklagtenfahrzeug wurde beim Betrieb des Klägerfahrzeugs beschädigt, der Unfall ist nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen, § 7 Abs. 1, Abs. 2 StVG. Der Kläger ist als Halter und gemäß § 18 Abs. 1 S. 1 StVG als Führer des Klägerfahrzeugs verpflichtet, den entstehenden Schaden zu ersetzen.
28
Die Klägerseite hat ebenfalls ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG nicht beweisen können. Der Sachverständige Dipl.-Ing. (FH) V. N. konnte zur Unvermeidbarkeit des Unfalls durch den Kläger keine sicheren Feststellungen treffen. Nach seinen nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen, denen sich das Gericht anschließt, könne sachverständigenseits nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Kollision auch dann ereignet hätte, wenn der Kläger an der Einmündung vor der Einfahrt in die M.-gasse stehengeblieben wäre. Dies hänge primär davon ab, wie der Beklagte zu 1) auf das an der Einmündung anhaltende Klägerfahrzeug reagiert und welche Abwehrhandlung er daraufhin eingeleitet hätte. Hätte der Kläger seinen Audi angehalten, hätte der Audi bei einer gedanklich geradeaus fortgesetzten Fahrt des Beklagten mit seinem Leichtkraftrad zwar dennoch die Fahrlinie des Leichtkraftrades versperrt. Rechnerisch könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die zusätzliche Wegstrecke, die dem Beklagten mit seinem Leichtkraftrad zur Verfügung gestanden hätte, ausgereicht hätte, um mit seinem Leichtkraftrad nach Einleitung einer stabilen Abbremsung vor dem stehenden Audi ebenfalls in den Stillstand zu gelangen.
29
1.2.3. Liegen mithin die Voraussetzungen der §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG vor, richtet sich die Haftungsverteilung nach den Umständen, insbesondere danach, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungsanteile können allerdings nur solche Umstände berücksichtigt werden, die entweder unstreitig oder bewiesen sind. Auf ein Verschulden kommt es nur nachrangig an, da zunächst die objektiven Umstände der Unfallverursachung maßgeblich sind. Dabei hat jede Seite die Umstände zu beweisen, die für sie günstig, für die Gegenseite also ungünstig sind.
30
(1) Bei der Bewertung der Verursachungsanteile der Klägerseite ist zu berücksichtigen, dass der Kläger ohne anzuhalten in die bevorrechtigte M.-gasse einfuhr und ihm damit eine Vorfahrtsverletzung nach § 8 Abs. 2 StVO zur Last fällt.
31
Bei einem Zusammenstoß eines bevorrechtigten Fahrzeugs mit einem wartepflichtigen Fahrzeug im Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereich – wie hier – spricht grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für eine unfallursächliche Vorfahrtsverletzung durch den Wartepflichtigen (vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903 m.w.N.; vgl. auch Kammerurt. v. 28.3.2014 – 13 S 196/13, Zfs 2014, 446, v. 29.4.2016 – 13 S 3/16, Zfs 2016, 679 und v. 7.10.2016, 13 S 35/16, NJW-RR 2017, 87, jeweils m.w.N.).
32
Der Beklagte zu 1) hat sein Vorfahrtsrecht auch nicht dadurch verloren, dass er nach links abgebogen ist. Durch § 8 Abs. 2 Satz 4 StVO ist klargestellt, dass das Vorfahrtsrecht durch ein Abbiegen des Berechtigten nicht verloren geht. Der Vorfahrtsberechtigte darf deshalb auch beim Abbiegen auf die Beachtung dieses Vorfahrtsrechts grundsätzlich vertrauen (BGHSt 34, 127; OLG Hamm, VersR 1998, 1260; OLG Zweibrücken, Urt. v. 2.5.2007 – 1 U 28/07, BeckRS 2008, 05453; OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.2.2012 – I-1 U 243/10, BeckRS 2016, 15925; OLG Koblenz, NZV 2015, 385).
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Der Beklagte zu 1) hat sein Vorfahrtsrecht auch nicht etwa dadurch verloren, daß er zum Abbiegen nach links die linke Fahrbahnseite benutzt hat. Denn dieses Recht ist jedenfalls nicht davon abhängig, daß der Berechtigte sich selbst verkehrsrichtig verhält, entfällt also auch dann nicht, wenn er beim Einbiegen nach links die Kurve schneidet (BGH, VRS 10, 19 (20); 22, 134 (135); VersR 1966, 294; vgl. BGHSt 34, 127; KG, MDR 2010, 805; OLG Hamm, VersR 1998, 1260; OLG Düsseldorf, Urt. v. 14.2.2012 – I-1 U 243/10, BeckRS 2016, 15925; OLG Frankfurt a.M., NZV 1990, 472; OLG Koblenz, NZV 2015, 385; Kammer, Urt. v. 1.2.2013 – 13 S 176/12, Zfs 2013, 378). Schneidet der Linksabbieger die Kurve, ist er daher jedenfalls dann noch bevorrechtigt, wenn er – wie hier – noch auf der Kreuzungsfläche mit dem Wartepflichtigen zusammentrifft (KG, DAR 1978, 20; OLG Frankfurt, Urteil vom 27.04.1990, 2 U 217/89).
34
(2) Bei der Bewertung der Verursachungsanteile der Beklagtenseite ist zu berücksichtigen, dass auch der Beklagte zu 1) durch das Schneiden der Kurve den Unfall mitverschuldet hat, § 1 Abs. 2 StVO.
35
Auf einen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot nach § 2 Abs. 2 StVO kann sich der Kläger allerdings nicht berufen, weil durch diese Regelung nicht der einbiegende wartepflichtige Verkehr aus der untergeordneten Straße geschützt wird (vgl. BGH, Urt. v. 19.9.1974 – III ZR 73/72, VersR 1975, 37; Saarländisches OLG, VerkMitt 1977, 16 (Nr. 18); OLG Hamm, VersR 1998, 1260, 1261; Kammer, Urt. v. 1.2.2013 – 13 S 176/12, Zfs 2013, 378 und vom 29.4.2016 – 13 S 3/16, Zfs 2016, 679).
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Den Beklagten zu 1) trifft aber ein Mitverschulden, weil er die Kurve geschnitten hat, § 1 Abs. 2 StVO. Zwar ist anerkannt, dass durch das Schneiden einer Kurve jedenfalls im eigentlichen Einmündungs-/Kreuzungsbereich – wie hier – das Vorfahrtsrecht nicht verloren geht (s.o.). Allerdings unterliegt auch die Ausübung dieses Rechts Grenzen. Ebenso wie der Vorfahrtsberechtigte sein Vorfahrtsrecht nicht erzwingen darf, muss er es mit Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer, mithin auch den Wartepflichtigen, ausüben (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Deshalb obliegt es einem Vorfahrtsberechtigten, beim Abbiegen den Bogen so weit zu nehmen, dass er die linke Fahrbahn des Querverkehrs nicht berührt; er muss den Mittelpunkt der Trichterbreite rechts umfahren (vgl. BGH, Urt. v. 10.7.1964 – VI ZR 116/63, VRS 27, 255; KG, VersR 1978, 427; OLG Hamm, VersR 1998, 1260; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Frankfurt a.M., NZV 1990, 472; OLG-Report 2001, 2; Kammer, Urt. v. 1.2.2013 – 13 S 176/12, Zfs 2013, 378 m.w.N.). Dass der Beklagte zu 1) hiergegen verstoßen hat, ergibt sich ohne weiteres aus der nachvollziehbaren Unfallrekonstruktion des gerichtlichen Sachverständigen.
37
(3) Bei der Abwägung sämtlicher Umstände der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge im Rahmen des § 17 Abs. 1, 2 StVG gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass der Verursachungsanteil des Fahrzeugs der Beklagtenseite geringfügig den Verursachungsbeitrag des Fahrzeugs der Klägerseite übersteigt.
38
Bei in etwa gleich großer allgemeinen Betriebsgefahr ergibt sich, daß der Kläger aufgrund der ihm zur Last zu legenden Vorfahrtsverletzung wesentlich zu dem Unfallgeschehen beigetragen hat, wenngleich der ihm anzulastende Verschuldensvorwurf angesichts dem unfallursächlichen Schneiden der Kurve durch den Beklagten zu 1), wodurch sein Anhalteweg maßgeblich verkürzt worden ist, nicht allzu schwer wiegt. Demgegenüber trifft den Beklagten zu 1) das größere Verschulden an dem Unfall, da er durch das Kurvenschneiden die ihm obliegende Verkehrspflicht in erheblichem Maße verletzt und hierdurch den Unfall überwiegend verursacht hat. Angesichts der Unübersichtlichkeit der Einmündung mußte sich ihm aufdrängen, daß er durch Benutzung der linken Fahrbahn einem von links kommenden Wartepflichtigen die rechtzeitige Wahrnehmung seines Fahrzeugs beträchtlich erschweren und hierdurch dessen Anhalteweg entscheidend verkürzen konnte. Unter diesen Umständen erscheint es angemessen, die Beklagten zu 60 % für den Unfallschaden des Klägers haften zu lassen und diesen selbst nur zu 40 % an der Schadenstragung zu beteiligen.
39
Die klägerseits geltend gemachten Schadenspositionen sind im Hinblick auf den angesetzten Wiederbeschaffungswert von 6.900 €, die Sachverständigenkosten von 996,03 € und der Auslagenpauschale von 25 € unstreitig.
40
Soweit die Beklagtenseite gegen den von der Klägerseite angenommenen Restwert von 2.300 € einwendet, sie habe dem Kläger mit email vom 04.05.2021 ein Restwertangebot zugeleitet, wonach für das verunfallte Kfz des Klägers ein Restwert von 3.640 € bezahlt worden wäre, muss sich der Kläger dieses Restwertangebot nicht zurechnen lassen.
41
Denn der Kläger muss sich bei der Schadensabrechnung auf Gutachtensbasis nicht den Restwert von 3.640 € anrechnen lassen, obwohl der Sachverständige das verunfallte Fahrzeug nur mit 2.300 € bewertet hat.
42
Der Geschädigte kann im Totalschadensfall, wenn – wie hier – die Reparaturkosten des Fahrzeugs den Wiederbeschaffungswert um mehr als 30 % übersteigen (K2), nur Ersatz der für die Beschaffung eines gleichwertigen Fahrzeugs erforderlichen Kosten, also den Wiederbeschaffungswert abzüglich des Restwerts, verlangen. Bei Reparaturkosten, die den Wiederbeschaffungswert um mehr als 30 % überschreiten, besteht wegen des Wirtschaftlichkeitsgebots kein schützenswertes Interesse an der Wiederherstellung des Fahrzeugs. Die Ersatzbeschaffung als Variante der Naturalrestitution nach § 249 Abs. 1 BGB steht ebenfalls unter dem Gebot der Wirtschaftlichkeit. Das bedeutet, dass der Geschädigte bei der Schadensbehebung gem. § 249 II 1 BGB im Rahmen des ihm Zumutbaren und unter Berücksichtigung seiner individuellen Lage grundsätzlich den wirtschaftlichsten Weg zu wählen hat – so genannte „subjektbezogene Schadensbetrachtung“. Will der Geschädigte in einem solchen Fall sein Fahrzeug weiter nutzen, muss er sich den Restwert seines Fahrzeugs anrechnen lassen, auch wenn er diesen nicht realisiert, da ihm ein Integritätsinteresse hinsichtlich des beschädigten Fahrzeugs nicht zugebilligt werden kann. Nach sachgerechten Kriterien ist festzustellen, in welcher Höhe dem Geschädigten angesichts des ihm verbliebenen Restwerts seines Fahrzeugs durch den Unfall überhaupt ein Vermögensnachteil erwachsen ist. Dadurch wird verhindert, dass sich der Geschädigte an dem Schadensfall bereichert. Im Veräußerungsfall leistet der Geschädigte im Allgemeinen dem Gebot zur Wirtschaftlichkeit genüge und bewegt sich in den für die Schadensbehebung nach § 249 II 1 BGB gezogenen Grenzen, wenn er die Veräußerung seines beschädigten Kraftfahrzeugs zu demjenigen Preis vornimmt, den ein von ihm eingeschalteter Sachverständiger als Wert auf dem allgemeinen regionalen Markt ermittelt hat. Er ist grundsätzlich nicht verpflichtet, einen Sondermarkt für Restwertaufkäufer in Anspruch zu nehmen. Auch kann er vom Schädiger nicht auf einen höheren Restwerterlös verwiesen werden, der auf einem Sondermarkt durch spezialisierte Restwertaufkäufer erzielt werden könnte (BGH, Urteil v. 6.3.2007, VI ZR 120/06).
43
Der Kläger muss sich demnach bei der Schadensabrechnung auf der Grundlage einer Schadensschätzung einen ermittelten Restwert in Höhe von 3.640 € nicht anrechnen lassen, wenn der Sachverständige den Restwert des Unfallfahrzeugs – wie hier (K2) – lediglich mit 2.300 € bewertet hat und Gesichtspunkte, die auf eine fehlerhafte Begutachtung durch den Sachverständigen hinweisen könnten, von den Beklagten nicht vorgetragen werden und auch nicht ersichtlich sind.
44
Zwar können besondere Umstände dem Geschädigten Veranlassung geben, ohne Weiteres zugängliche günstigere Verwertungsmöglichkeiten wahrzunehmen und durch die Verwertung seines Fahrzeugs in Höhe des tatsächlich erzielten Erlöses den ihm entstandenen Schaden auszugleichen (vgl. Senat, NJW 2005, 357 = VersR 2005, 381). Doch müssen derartige Ausnahmen, deren Voraussetzungen zur Beweislast des Schädigers stehen, in engen Grenzen gehalten werden, weil anderenfalls die dem Geschädigten nach § 249 II 1 BGB zustehende Ersetzungsbefugnis unterlaufen würde, wonach es Sache des Geschädigten ist, in welcher Weise er mit dem beschädigten Fahrzeug verfährt. Insbesondere dürfen dem Geschädigten bei der Schadensbehebung die von der Versicherung gewünschten Verwertungsmodalitäten nicht aufgezwungen werden. Dies wäre jedoch der Fall, müsste er sich einen Restwert anrechnen lassen, der lediglich in einem engen Zeitraum auf einem Sondermarkt zu erzielen ist (BGH, Urteil v. 6.3.2007, VI ZR 120/06).
45
Nutzt der Geschädigte sein Fahrzeug nach dem Unfall weiter, obwohl es wegen der hohen Kosten nicht mehr reparaturwürdig ist, gilt für die Abrechnung des Schadens auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens nichts anderes. Auch in einem solchen Fall kann er den Restwert, der vom Sachverständigen nach den örtlichen Gegebenheiten ermittelt worden ist, der Schadensabrechnung zu Grunde legen. Er muss sich nicht an einem Angebot eines Restwerthändlers außerhalb des ihm zugänglichen allgemeinen regionalen Markts festhalten lassen, das vom Versicherer recherchiert worden ist (BGH, Urteil v. 6.3.2007, VI ZR 120/06).
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Im Streitfall genügte der Kläger seiner Darlegungs- und Beweislast, indem er der Schadensabrechnung den Restwert, den der Privatsachverständige in seinem Gutachten vom 19.04.2021 (K2) ermittelt hatte, zu Grunde legte. Soweit die Beklagten geltend machen, er hätte einen höheren Preis erzielen können, wenn er das Fahrzeug an den von ihnen benannten Restwertaufkäufer verkauft hätte, war dazu der Kläger nicht verpflichtet. Da die Beklagten die Schätzung des Sachverständigen für den regionalen Markt des Klägers nicht in Zweifel gezogen haben, ist der Schadensabrechnung der geschätzte Restwert von 2.300 € zu Grunde zu legen.
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Unter Berücksichtigung der Haftungsquote von 40 % errechnet sich damit der ersatzfähige Schaden auf 3.372,62 € (5.621,03 € × 60 %).
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2. Der Zinsanspruch zur Hauptforderung folgt aus §§ 280 Abs. 1 und 2, 286 Abs. 1 BGB. Mit Schreiben vom 18.05.2021 (K5) hat der Kläger die Zweitbeklagte unter Nachfristsetzung bis 28.05.2021 zur Zahlung aufgefordert. Die Zweitbeklagte befand sich daher jedenfalls seit dem 29.05.2021 in Verzug. Dieser Umstand wirkt trotz § 425 Abs. 1 und 2 BGB auch zulasten des Erstbeklagten (vgl. hierzu OLG München, Urteil vom 3. Juni 2016 – 10 U 124/16, BeckRS 2016, 10881 Rn. 32). Die Höhe der Zinsen ergibt sich aus § 288 Abs. 1 BGB.
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3. Die Beklagten schulden entsprechend obigen Ausführungen dem Kläger auch die Zahlung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten jedoch nur in Höhe von 482,53 € als weiteren Schadensersatz aus dem Verkehrsunfall vom 01.04.2021 gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 BGB, §§ 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG, § 1 PflVG nebst Zinsen aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
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Da die Hauptforderung nur in Höhe von 3.372,62 € begründet ist, errechnet sich die geforderte 1,3 Geschäftsgebühr Nr. 2300 VV RVG auf 361,40 €. Zuzüglich der geltend gemachten übrigen unstreitigen Kosten stehen dem Kläger somit 482,53 € vorgerichtliche Kosten zu.
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Der Anspruch auf Prozesszinsen nach § 291 BGB seit Rechtshängigkeit mit Zustellung der Klage an den Erstbeklagten bereits am 14.07.2021 folgt aus § 187 BGB. Die Zinshöhe ergibt sich aus §§ 291 S. 2, 288 Abs. 1 S. 2 BGB.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
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Der Kläger unterliegt neben eines Teiles der geltend gemachten Nebenforderung außergerichtlicher Rechtsverfolgungskosten, die jedoch gem. § 4 ZPO auf den Streitwert keinen Einfluss hat, auch hinsichtlich 40 % der Hauptforderung.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt für den Kläger aus § 709 ZPO, für die Beklagten aus §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.