Titel:
Schutzgüterabwägung zwischen Klimaschutz und Gesundheitsschutz bei der Errichtung von Windenergieanlagen
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 1 S. 1, Abs. 5, Abs. 7 S. 2
EEG § 2 S. 2
BImSchG § 31k
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, 19 Abs. 4, 20a
Leitsätze:
1. Auch im Verfahren nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO unterliegt das Rechtsschutzinteresse für den Abänderungsantrag den allgemeinen Anforderungen; insbesondere muss die Abänderungsentscheidung dem Rechtsbehelfsführer einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringen können. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nur wenn die Verweisung auf den nachträglichen Rechtsschutz unzumutbar ist, verdient das Interesse an der Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes ausnahmsweise Anerkennung. Erforderlich ist demnach ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis dahingehend, dass der Verweis auf den nachträglichen Rechtsschutz für den Kläger oder Antragsteller mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zielrichtung der Neuregelung in § 2 S. 2 EEG ist in erster Linie die Schutzgüterabwägung im Rahmen des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens für die Errichtung von Windenergieanlagen. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Gesetzesbegründung zu § 2 EEG stellt ausdrücklich klar, dass öffentliche Interessen den erneuerbaren Energien als wesentlicher Teil des Klimaschutzgebotes nur dann entgegenstehen können, wenn sie mit einem dem Art. 20a GG vergleichbaren verfassungsrechtlichen Rang gesetzlich verankert bzw. gesetzlich geschützt sind oder einen gleichwertigen Rang besitzen. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
5. Das öffentliche Interesse einer treibhausgasneutralen Stromerzeugung stellt einen bei der im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung nach § 80a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 iVm § 80 Abs. 5 VwGO bzw. hier im Verfahren nach § 80 Abs. 7 S. 2 VwGO anzustellenden Interessenabwägung zu berücksichtigenden Belang dar. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Interessenabwägung im Eilverfahren, kein genereller Vorrang der Windkraftnutzung vor Belangen des Gesundheitsschutzes, § 31k BImSchG als befristete Ausnahmeregelung, öffentliches Interesse, Interessenabwägung, treibhausgasneutrale Stromerzeugung, erneuerbare Energien, Klimaschutzgebot, Schutzgüterabwägung, immissionsschutzrechtliches Genehmigungsverfahren, Windenergieanlage, Gemeinwohl, Rechtsschutzbedürfnis, Abänderungsentscheidung, Rechtsschutzinteresse
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9451
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der Beigeladenen.
3. Der Streitwert wird auf 7.500 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt die Abänderung eines im Verfahren des Eilrechtsschutzes ergangenen Beschlusses, mit dem die aufschiebende Wirkung der Klage der Beigeladenen gegen einen Bescheid des Antragsgegners angeordnet wurde, soweit darin die nachträgliche Anordnung zur Betriebsbeschränkung der von der Antragstellerin betriebenen Windkraftanlagen für die Nachtzeit widerrufen wurde.
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Das Landratsamt … (im Folgenden: Landratsamt) hatte der Antragstellerin mit Bescheid vom 30. Januar 2015 die immissionsschutzrechtliche Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb eines Windparks mit fünf Windenergieanlagen auf den Grundstücken FlNrn. … und … der Gemarkung … (Stadt ...), auf der FlNr. … der Gemarkung … (Stadt ...) und den FlNrn. … und … der Gemarkung … (Gemeinde ...) erteilt. Mit Bescheiden vom 26. März 2015 und 7. Dezember 2015 wurde dieser Genehmigungsbescheid jeweils geändert.
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Nach Errichtung und Inbetriebnahme der Windkraftanlagen forderte das Landratsamt die Antragstellerin aufgrund von Anwohnerbeschwerden und den Ergebnissen eigener Messungen auf, ein Schallemissions- bzw. -immissionsgutachten vorzulegen. In ihrem Schallimmissionsgutachten vom 30. November 2016 kam die von der Antragstellerin beauftragte W. GmbH zu dem Ergebnis, dass die in Ziffer 3.2.3 des Genehmigungsbescheides festgelegten Immissionsrichtwertanteile zur Nachtzeit an verschiedenen Immissionsorten überschritten seien.
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Das Landratsamt erließ daraufhin mit Bescheid vom 8. Dezember 2016 eine auf § 17 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) gestützte nachträgliche Anordnung, mit der für die streitgegenständlichen Windkraftanlagen in der Zeit von 22.00 bis 06.00 Uhr ein Betrieb nurmehr mit maximal 9,7 Umdrehungen pro Minute zugelassen (Ziffer I. des Bescheides) und die sofortige Vollziehung dieser Verpflichtung angeordnet wurde (Ziffer III. des Bescheides).
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Die Antragstellerin nahm im März 2017 zunächst eine Parameter-Änderung an den streitgegenständlichen Windkraftanlagen vor, um die Schallemissionen zu mindern. In einem weiteren Schallimmissionsgutachten vom 24. Mai 2017 kam die W. GmbH aufgrund erneuter Messungen zu dem Ergebnis, dass der Windpark nur in Einzel- oder Ausnahmefällen tonal auffällig erscheine, dies sei in keiner Windklasse als Dauerzustand anzusehen. Es sei daher zu prüfen, ob nach dem Stand der Technik Möglichkeiten zur Verbesserung der Immissionssituation bestünden. Insgesamt würden das genehmigte Schallimmissionskontingent für den Nachtzeitraum und die entsprechenden Richtwerte der TA Lärm eingehalten. Lediglich am Immissionsort A betrage die Richtwertüberschreitung aufgrund der Vorbelastung gerundet weniger als 1 dB, dies sei nach Nr. 3.2.1 TA Lärm jedoch zulässig.
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Die Antragstellerin entschied sich danach dazu, bei den streitgegenständlichen Windkraftanlagen sogenannte aktive Tilger zu installieren, durch die eine Reduktion der Getriebeschwingungen erreicht werden sollte. Nach weiteren Messungen kam die W. GmbH in ihrer überarbeiteten Stellungnahme vom 17. Januar 2018 zu dem Ergebnis, dass die objektiven Messungen den subjektiven Eindruck hinsichtlich der Tonhaltigkeit bestätigt hätten. Dementsprechend sei ein Zuschlag von 3 dB wegen Tonhaltigkeit anzusetzen.
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Mit weiterem Bescheid vom 23. Januar 2018 erließ das Landratsamt erneut eine auf § 17 BImSchG gestützte Anordnung. Danach wurde insbesondere der Betrieb der streitgegenständlichen Windkraftanlagen auch für die Tagzeit (06.00 bis 22.00 Uhr) auf maximal 9,7 Umdrehungen pro Minute begrenzt (Ziffer I. des Bescheides) und die sofortige Vollziehung dieser Verpflichtung angeordnet (Ziffer III. des Bescheides).
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Mit E-Mail vom 21. Januar 2019 legte die Antragstellerin dem Landratsamt die Endfassung des schalltechnischen Berichts der K. GmbH & Co. KG vom 18. Januar 2019 vor. Darin ist im Wesentlichen ausgeführt, es läge im Ergebnis bei den von den Anlagen ausgehenden Geräuschen keine relevante Tonhaltigkeit und Impulshaltigkeit i.S.d. TA Lärm vor. An allen festgelegten Immissionsorten würden die geforderten Immissionsrichtwertanteile eingehalten.
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Mit Bescheid vom 8. Februar 2019 hob das Landratsamt die zuvor ergangenen Bescheide vom 8. Dezember 2016 und 23. Januar 2018 mit Wirkung für die Zukunft auf.
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Mit dem schalltechnischen Bericht der K. GmbH & Co. KG vom 18. Januar 2019 werde bescheinigt, dass die in der Genehmigung geforderten Immissionsrichtwertanteile an allen Immissionsorten eingehalten würden. Es seien auch keine relevanten Tonhaltigkeiten i.S.d. TA Lärm mehr festgestellt worden. Damit lägen die Tatbestandsvoraussetzungen, auf die sich die nachträglichen Anordnungen vom 8. Dezember 2016 und 23. Januar 2018 gestützt hätten, nicht mehr vor. Diese seien daher nach pflichtgemäßer Ermessensausübung nach Art. 49 Abs. 1 Satz 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (BayVwVfG) zu widerrufen.
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Mit Schriftsatz ihres damaligen Bevollmächtigten vom 23. Mai 2019, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tage, ließ die Beigeladene Klage gegen den Bescheid vom 8. Februar 2019 erheben (B 9 K 19.477).
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Mit Bescheid vom 29. März 2021 stellte das Landratsamt fest, dass die Klage im Verfahren B 9 K 19.477 aufschiebende Wirkung habe und die Anordnungen aus den Bescheiden vom 8. Dezember 2016 und 23. Januar 2018 von der Antragstellerin einstweilen einzuhalten seien (Ziffer I. des Bescheides). Hierfür wurde die regelmäßige Vorlage entsprechender Nachweise angeordnet (Ziffer II. des Bescheides).
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Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 4. Mai 2021 beantragte die Antragstellerin, festzustellen, dass die Klage im Verfahren B 9 K 19.477 keine aufschiebende Wirkung habe, hilfsweise, die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufs der nachträglichen Anordnungen vom 8. Dezember 2016 und 23. Januar 2018 mit Bescheid vom 8. Februar 2019 anzuordnen bzw. höchst hilfsweise die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufsbescheides vom 8. Februar 2019 anzuordnen, soweit darin die Drosselung der Betriebsweise der Windkraftanlagen zur Tagzeit widerrufen wurde (B 9 S 21.538).
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Mit Beschluss vom 11. November 2021 ordnete das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth im Verfahren B 9 S 21.538 die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheides des Landratsamtes vom 8. Februar 2019 insoweit an, als darin die nachträgliche Anordnung vom 23. Januar 2018 hinsichtlich der Anordnung eines gedrosselten Betriebes der fünf Windenergieanlagen mit maximal 9,7 Umdrehungen pro Minute während der Tagzeit (06.00 bis 22.00 Uhr) widerrufen wurde. Zudem wurden die im Bescheid des Landratsamtes vom 29. März 2021 angeordneten Sicherungsmaßnahmen insoweit aufgehoben, als sie sich auf den Betrieb der Windenergieanlagen zur Tagzeit bezogen.
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Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beigeladenen wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 30. Januar 2022 zurück (22 CS 21.3059).
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Mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 2. November 2022 ließ die Antragstellerin beantragen,
unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 11. November 2021, Az.: B 9 S 21.538 die sofortige Vollziehung des Bescheides des Landratsamtes … vom 8. Februar 2019 (Az. ...) anzuordnen, soweit darin die nachträgliche Anordnung vom 8. Dezember 2016 hinsichtlich der Anordnung eines gedrosselten Betriebes der fünf Windenergieanlagen mit maximal 9,7 Umdrehungen pro Minute während der Nacht (22.00 Uhr bis 06:00h) widerrufen wird.
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Es liege eine i.S.d. § 80 Abs. 7 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) beachtliche Änderung der Sach- und Rechtslage vor. Das Verwaltungsgericht habe in seinem Beschluss vom 11. November 2021 den Sofortvollzug des Widerrufsbescheides vom 8. Februar 2019 nur hinsichtlich des Tagbetriebes angeordnet, hingegen hinsichtlich des Nachtbetriebes den Antrag im Wege der sog. Doppelhypothese abgelehnt. Die vorgenommene Gewichtung der Interessenlage könne aber nach aktueller Sach- und Rechtslage keinen Bestand mehr haben. Nunmehr müsse die Interessenabwägung zu Gunsten des überragenden öffentlichen Interesses an jeder einzelnen Klimaschutzmaßnahme und damit auch an einem unbeschränkten Nachtbetrieb der hier streitgegenständlichen Anlagen ausfallen.
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Es bestehe ein verfassungsrechtlich fundiertes überragendes und weiter zunehmendes öffentliches Interesse am rechtzeitigen Erreichen der Klimaschutzziele und der Klimaneutralität und damit am Ausbau der Windenergie und an einer schnellen Errichtung und einem möglichst unbeschränkten Betrieb jeder einzelnen Windenergieanlage. Das Bundesverfassungsgericht habe mit Beschluss vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18) entschieden, dass das Ziel, die Stromversorgung durch vermehrten Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien zu sichern, ein verfassungsrechtlich gewichtiger Gemeinwohlbelang sei und Art. 20a des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) den Staat zum Klimaschutz und zur Herstellung von Klimaneutralität verpflichte. Dem Klimaschutz als Belang von Verfassungsrang komme daher in der Abwägung mit anderen Belangen ein erhebliches Gewicht zu, welches zudem bei fortschreitendem Klimawandel weiter zunehme. Im Beschluss vom 23. März 2022 (1 BvR 1187/17) habe das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass jede einzelne auf eine Reduzierung von CO2-Emissionen gerichtete Maßnahme eine Begrenzung des Anstiegs der Erdtemperatur fördere, indem sie einen Beitrag zu dem von der Staatengemeinschaft mit dem Pariser Abkommen in Gang gesetzten globalen Reduktionsprozess leiste. Der Bundesgesetzgeber habe dem mit dem Klimaschutzgesetz 2021 Rechnung getragen und die nationalen Klimaschutzziele verschärft. Zudem habe der Gesetzgeber das verfassungsrechtliche Gewicht des öffentlichen Interesses am Erreichen der Klimaschutzziele zwischenzeitlich in § 2 des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) einfachgesetzlich konkretisiert und zudem einen gesetzlichen Abwägungsvorrang für Erneuerbare-Energien-Vorhaben geregelt. Dieser Abwägungsvorrang gelte insbesondere auch im Rahmen von Abwägungsentscheidungen im Immissionsschutzrecht und ganz besonders eindeutig zu Gunsten von Vorhaben, die – wie hier – innerhalb einer Konzentrationsplanung in Gestalt eines Vorranggebietes lägen. Schon angesichts dieses zwischenzeitlich weiter gestiegenen öffentlichen Interesses am rechtzeitigen Erreichen der Klimaschutzmaßnahmen müsse das Gericht seine Interessenabwägung überdenken und das öffentliche Interesse an einer schnellen Errichtung und an einem möglichst unbeschränkten Betrieb jeder einzelnen Windenergieanlage neu gewichten.
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Zudem komme dem Ausbau erneuerbarer Energien erhebliche Bedeutung für das Gemeinwohlziel der Energiesicherheit und der Minderung der Abhängigkeit von Energieimporten zu. Das Bundesverfassungsgericht habe hierzu im Beschluss vom 23. März 2022 (1 BvR 1187/17) ausgeführt, die Sicherung der Stromversorgung bei gleichzeitiger Wahrung des verfassungsrechtlichen Klimaschutzziels verlange einen verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien; zum anderen diene eine vermehrte Nutzung der in Deutschland verfügbaren erneuerbaren Energien unter anderem deshalb der Sicherung der Stromversorgung, weil so die Abhängigkeit von Energieimporten vermindert und die Eigenversorgung gestärkt werden könne. Auch in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sei die akut gestiegene Bedeutung und Dringlichkeit eines beschleunigten Ausbaus der Windenergie anerkannt worden. Vor diesem Hintergrund könne insbesondere die Annahme des Verwaltungsgerichts keinen Bestand mehr haben, die durch die Betriebsbeschränkung verursachte geringere Stromerzeugung zur Nachtzeit könne womöglich gleichwohl aus anderen erneuerbaren Energien und damit ebenfalls klimafreundlich gedeckt werden. Die Annahme, es stünde genug Strom aus erneuerbaren Energien zur Verfügung, sei ohnehin fernliegend und rein hypothetisch, angesichts der aktuellen Entwicklung sogar unzutreffend: Zudem habe die Bundesregierung auf Grund der erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage die Alarmstufe des Notfallplans Gas des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom September 2019 ausgerufen. Diverse Gesetzesänderungen, insbesondere des Energiesicherungsgesetzes zielten darauf ab, die akut zu befürchtende Strommangellage ebenso wie eine Gasmangellage aufzufangen. Spätestens jetzt trage jede importunabhängig erzeugte Kilowattstunde Strom aus Windenergie nicht nur zur klimaneutralen Stromversorgung, sondern in gleicher Weise zur Versorgungssicherheit bei.
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Ebenso greife das Argument einer bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren nicht auszuschließenden schädlichen Umwelteinwirkung im Rahmen der Interessenabwägung nun nicht mehr: Der Gesetzgeber habe mit dem zum 13. Oktober 2022 in Kraft getretenen § 31k BImSchG die bis 16. April 2023 befristete Möglichkeit geschaffen, speziell bei Windenergieanlagen Überschreitungen der nach der TA Lärm für die Nachtzeit maßgeblichen Schallimmissionsrichtwerte zuzulassen, sofern die Alarmstufe des Notfallplans Gas des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom September 2019 vorliege und sich der nächtliche Schallleistungspegel der Anlage in dieser Zeit um maximal 4 dB gegenüber dem bisher genehmigten Wert erhöhe. Angesichts der aktuell angespannten Lage auf den Energiemärkten sei dies nach dem Willen des Gesetzgebers erforderlich, um die Energieversorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten und die Stromversorgung sicherzustellen. Der genehmigte Schallleistungspegel der streitgegenständlichen Anlagen betrage 106 dB(A). Von diesem genehmigten Schallleistungspegel würde im Falle einer Zulassung des uneingeschränkten Nachtbetriebes nicht einmal abgewichen werden. Es würde lediglich der ursprünglich genehmigte Schallleistungspegel wieder erreicht. Es sei mittels eines Antrags nach § 31k BImSchG sogar möglich, eine Erhöhung des genehmigten Schallleistungspegels um 4 dB auf 110 dB(A) zuzulassen. Neben der „Obergrenze“ für den Schallleistungspegel (Erhöhung um 4 dB gegenüber dem genehmigten Schallleistungspegel) sei eine Obergrenze für eine etwaige Überschreitung der Immissionsrichtwerte aber gerade nicht vorgesehen. Eine etwaige Richtwertüberschreitung werde lediglich durch die Beschränkung der Erhöhung des Schallleistungspegels um maximal 4 dB von vornherein zwangsläufig gedeckelt. Zudem komme es hier nach dem schalltechnischen Messbericht der K. GmbH & Co. KG vom 18. Januar 2019 bei einer Zulassung des unbeschränkten Nachbetriebes mit einem Schallleistungspegel von 106 dB(A) schon gar nicht zu einer Überschreitung der für den Nachtzeitraum maßgeblichen Richtwerte. Diese würden vielmehr um 2 dB unterschritten. Lediglich, wenn man – wie die Beigeladene – eine Tonhaltigkeit der Geräuschimmissionen unterstelle, könne es durch den dann nach der TA Lärm zu vergebenden Zuschlag zu einer Richtwertüberschreitung kommen. Eine solche Überschreitung erachte der Gesetzgeber aber als zumutbar und zulässig sowie insbesondere nicht gesundheitsschädlich, wie sich aus der Gesetzesbegründung zu § 31k BImSchG ergebe.
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Mit Beschluss vom 3. November 2022 wurde die Klägerin des Verfahrens B 9 K 19.477 zum Verfahren beigeladen.
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Der Bevollmächtigte der Beigeladenen beantragte mit Schriftsatz vom 17. November 2022,
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Hinsichtlich des Hauptantrages der Antragstellerin im Ausgangsverfahren, festzustellen, dass die Klage der Beigeladenen im Verfahren B 9 K 19.477 keine aufschiebende Wirkung entfalte, sei keine Änderung der gerichtlichen Entscheidung geboten:
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Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18) stelle weder eine Änderung der Rechtslage noch eine nachträgliche Änderung dar, die im Rahmen des § 80 Abs. 7 VwGO Voraussetzung wäre, da der maßgebliche Beschluss des Verwaltungsgerichts im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits vom 11. November 2021 datiere. Hinsichtlich des Hauptantrages der Antragstellerin im Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO lasse die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zudem die Regelung in § 80 Abs. 1 VwGO unberührt. Im Beschluss vom 11. November 2021 im Verfahren B 9 S 21.538 habe das Gericht insoweit ausgeführt, dass der Klage der Beigeladenen im Verfahren B 9 K 19.477 nach § 80 Abs. 1 i.V.m. § 80a VwGO grundsätzlich aufschiebende Wirkung zukomme. Diese habe ihre Grundlage also nicht in einer Abwägungsentscheidung. Außerdem habe das Bundesverfassungsgericht im zitierten Beschluss lediglich festgestellt, dass es verfassungswidrig sei, wenn im Klimaschutzgesetz keine Regelung über die Fortschreibung der Minderungsziele für Zeiträume ab dem Jahr 2031 getroffen werde. Soweit im Übrigen beanstandet worden sei, dass nicht genügende Maßnahmen ergriffen würden, hätten die Verfassungsbeschwerden keinen Erfolg gehabt. Die Entscheidung sei primär an den Gesetzgeber adressiert und weniger an die Verwaltung und Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht habe sich mit Rücksicht auf die Rolle des Gesetzgebers hinsichtlich der Frage, welche Maßnahmen für das Ziel der globalen CO2-Reduktion effektiv und effizient seien und wie konkrete Instrumente zur Erreichung dieses Ziel zu bewerten seien, bewusst zurückgehalten. Dem Beschluss sei nichts zu entnehmen, was eine andere Auslegung der hier streitgegenständlichen Normen erfordere.
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Auch die Vorrangregelung des § 2 EEG führe nicht dazu, dass immissionsschutzrechtliche Belange der Beigeladenen nun zurückstehen müssten. Die die Ausgangsentscheidung tragende Regelung des § 80 Abs. 1 VwGO bleibe hiervon unberührt. Die Wirkung der Gesetzesänderungen auf das Hauptsacheverfahren sei für das hiesige Verfahren nicht relevant, weil es bei der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht auf die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs ankomme. Die aufschiebende Wirkung entfalle insoweit nur bei einem offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelf, der hier nicht vorliege. Daran habe die Änderung in § 2 EEG nichts geändert. Ein öffentliches Interesse an Energiesicherheit und Energieunabhängigkeit führe noch nicht dazu, dass der Mindestschutz der Anwohner bezüglich der Einhaltung insbesondere der Vorgaben der TA Lärm zurückzustehen habe. Die gesetzgeberische Entscheidung in § 80 Abs. 1 VwGO bleibe von dieser Erwägung ebenso unberührt wie von der Einführung des § 31k BImSchG.
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Im Hinblick auf die Hilfsanträge im Ausgangsverfahren, die darauf gerichtet gewesen seien, die sofortige Vollziehbarkeit des Widerrufs der nachträglichen Anordnungen vom 8. Dezember 2016 und 23. Januar 2018 ganz bzw. teilweise anzuordnen, sei ebenfalls keine Änderung der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO veranlasst.
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Für die vom Gericht im Beschluss vom 11. November 2022 vorgenommene Interessenabwägung habe sich auch durch das Inkrafttreten von § 31k BImSchG nichts geändert. § 31k BImSchG sehe eine Soll-Entscheidung und keine gebundene Entscheidung der zuständigen Behörde vor. Die entsprechende Prüfung und Ermessensausübung der Behörde könne nicht durch eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung ersetzt werden. Die Antragstellerin könne ihre Argumentation nicht auf den schalltechnischen Bericht der K. GmbH & Co. KG vom 18. Januar 2019 stützen. Seit den darin ausgewerteten Messungen seien an den streitgegenständlichen Anlagen zahlreiche Arbeiten durchgeführt worden. Es könne daher nicht unterstellt werden, dass die Emissions- und Immissionssituation unverändert geblieben sei. Die zahlreichen Änderungen machten es erforderlich, die Emissionen, die im Rahmen von § 31k BImSchG relevant sein sollen, neu zu bewerten. Es lasse sich derzeit nicht prüfen und bewerten, ob beispielsweise die 4 dB-Grenze des § 31k BImSchG eingehalten sei oder nicht. Nach § 31k Abs. 2 Satz 1 BImSchG müssten dem Antrag „die zur Beurteilung erforderlichen Unterlagen“ beigefügt werden; dies verdeutliche, dass der Gesetzgeber eine ausreichende Basis für die Prüfung und Bewertung für unabdingbar halte. Vor allem im Hinblick auf den hier streitgegenständlichen Typ von Windkraftanlagen sei eine sorgfältige Prüfung der vorgenommenen Maßnahmen erforderlich.
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Im Rahmen der Abwägungsentscheidung zwischen den widerstreitenden Interessen komme nach dem Beschluss vom 11. November 2022 im Verfahren B 9 S 22.538 den Belangen, die für einen uneingeschränkten Nachtbetrieb sprächen, nur geringes Gewicht zu. Zudem gehe es nicht um die Neuerrichtung, sondern um die Frage der Beschränkung des Betriebs bereits bestehender Windkraftanlagen. Aus der Gesetzesbegründung zu § 2 EEG ergebe sich zudem, dass öffentliche Interessen den erneuerbaren Energien als wesentlicher Teil des Klimaschutzgebotes nur dann entgegenstehen könnten, wenn sie mit einem dem Art. 20a GG vergleichbaren verfassungsrechtlichen Rang gesetzlich verankert bzw. gesetzlich geschützt seien oder einen gleichwertigen Rang besäßen. Der Schutz vor Lärm sei aber sowohl Inhalt des Staatsziels Umweltschutz in Art. 20a GG als auch Inhalt von Art. 2 Abs. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht habe im Beschluss vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18) klargestellt, dass das in Art. 20a GG enthaltene Klimaschutzgebot keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen genieße. Das gelte erst recht, wenn diese anderen Belange ebenfalls Verfassungsrang hätten. Mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lasse sich § 2 EEG nur vereinbaren, wenn Raum für eine Abwägung bzw. die Herstellung praktischer Konkordanz bestehe. Letztlich lasse sich die von der Antragstellerin geforderte Neu-Abwägung so nicht durchführen, da sie weder nachvollziehbar dargelegt noch glaubhaft gemacht habe, in welchem Maße der begehrte Nachtzeitbetrieb zu einer CO2-Reduktion führe. Es sei äußerst zweifelhaft, inwiefern gerade der hier streitgegenständliche Nachtbetrieb zu einer Sicherstellung der Stromversorgung beitrage, da sich der aus Windkraft erzeugte Strom nicht speichern lasse und der Stromverbrauch nachts niedriger sei.
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Für den Antragsgegner erwiderte das Landratsamt mit Schriftsatz vom 18. November 2022 und beantragte,
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Es liege keine Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage vor, die nach dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 11. November 2021 eine Abänderung des Beschlusses rechtfertige.
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Die Ausführungen zu einem weiter zunehmenden überragenden öffentlichen Interesse am rechtzeitigen Erreichen der Klimaschutzziele überzeugten nicht. Das Gericht habe im Beschluss vom 11. November 2022 ausgeführt, dass der Stromerzeugung durch Windkraft im Hinblick auf die Bekämpfung des Klimawandels und den insoweit bestehenden Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland ein erhebliches öffentliches Interesse zukomme. Eine Änderung im Sinne des § 80 Abs. 7 VwGO dergestalt, dass die Interessenabwägung nunmehr zugunsten der Antragstellerin ausfalle, sei jedoch nicht ersichtlich. Sowohl der von Antragstellerseite in Bezug genommene Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 als auch das zum 31. August 2021 in Kraft getretene Bundes-Klimaschutzgesetz stellten im Hinblick auf den Beschluss vom 11. November 2022 im Ausgangsverfahren keine geänderte Sach- oder Rechtslage dar. Selbst unter Berücksichtigung des besonders hohen Gewichts der erneuerbaren Energien – insbesondere im Hinblick auf § 2 EEG – liege kein überwiegendes Interesse der Antragstellerin vor. Wie diese selbst dargestellt habe, könnten andere öffentliche Interessen dann entgegenstehen, wenn sie mit einem dem Art. 20a GG vergleichbaren verfassungsrechtlichen Rang verankert bzw. gesetzlich geschützt seien. Dies entspreche der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit der körperlichen Unversehrtheit i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GG liege hier ein entsprechendes Schutzgut vor. Dieser Belang überwiege nach wie vor die von Antragstellerseite geltend gemachten Interessen. Es könne nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, den Belangen des Klimaschutzes sowie der Versorgungssicherheit und -unabhängigkeit unbedingten Vorrang vor dem Gesundheitsschutz einzuräumen. Im Hauptsacheverfahren stünden die Behebung der bereits gutachterlich festgestellten Mängel der Windenergieanlagen als Ganzes und deren ordnungsgemäßer Betrieb in Zweifel. Auch unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses an der Energiesicherheit und -unabhängigkeit ergebe sich kein anderes Ergebnis. Selbst im Anwendungsbereich des § 31k BImSchG sei der Gesundheitsschutz nicht außen vor zu lassen, wie sich zudem aus der Gesetzesbegründung ergebe. Danach habe der Gesetzgeber eine Rechtfertigung gerade mit Blick auf den Gesundheitsschutz nur im Hinblick auf die enge zeitliche Befristung der Vorschrift als gegeben gesehen. Ziel des hiesigen Antrages sei es aber, den uneingeschränkten Nachbetrieb zeitlich unbeschränkt wiederherzustellen. Dies sei mit dem Gesundheitsschutz gerade nicht vereinbar. Es könne zudem nicht ohne Weiteres vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 31k BImSchG ausgegangen werden. Die Antragstellerin habe bisher weder einen entsprechenden Antrag gestellt noch handele es sich um einen Automatismus. Vielmehr habe der Gesetzgeber der zuständigen Behörde Ermessen eingeräumt. Auch Vorschriften mit intendiertem Ermessen gestatteten gerade Abweichungen in atypischen Fällen. Bei einer Anlage, die in der Vergangenheit nachweislich Probleme bei der Einhaltung der immissionsschutzrechtlichen Nebenbestimmungen gehabt habe, könne daher nicht die Rede davon sein, dass eine Richtwertüberschreitung wie von Antragstellerseite vorgetragen von vornherein zwangsläufig „gedeckelt“ sei. Eine Berufung auf den Messbericht der K. GmbH & Co. KG vom 18. Januar 2019 sei hier nicht möglich, da das Verwaltungsgericht Bayreuth im Hauptsacheverfahren B 9 K 19.477 dieser gutachterlichen Einschätzung gerade nicht gefolgt sei und stattdessen ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben habe. Dieses liege noch nicht vor, so dass ein bescheidskonformer Betrieb der Windkraftanlagen derzeit nicht nachgewiesen sei.
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Der Beigeladenenbevollmächtigte wies mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2022 ergänzend darauf hin, dass nach den von anderen Genehmigungsbehörden verwendeten Hinweisen zu Anträgen nach § 31k BImSchG Windenergieanlagen, bei denen der Behörde bekannt sei, dass sie akustisch auffällig seien (z.B. Tonhaltigkeiten aufweisen) und bei denen deshalb Schallminderungsmaßnahmen angeordnet oder vereinbart worden oder die Anlagen deswegen stärker abgeregelt oder zur Nachtzeit komplett ausgeschaltet seien, einen atypischen Fall darstellten. In dieser Konstellation könne deshalb keine Abweichung nach § 31k BImSchG gewährt werden.
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Das Landratsamt wies mit Schriftsatz vom 23. Januar 2023 darauf hin, dass die Antragstellerin mit Schreiben vom 21. November 2022 für die streitgegenständlichen Windkraftanlagen einen Antrag nach § 31k BImSchG gestellt habe. Nach zwei Anpassungen des Antrages durch die Antragstellerin habe das Landratsamt mit Bescheid vom 21. Dezember 2022 eine entsprechende Zulassung erteilt. Diese beziehe sich, wie von der Antragstellerin zuletzt beantragt, darauf, dass die Anlagen ab dem 27. Dezember 2022 in der Nachtzeit im Betriebsmodus NRO 104, d.h. mit einem maximalen Schallleistungspegel von 104 dB(A) betrieben werden dürften. Die Zulassung sei kraft Gesetzes bis einschließlich 15. April 2023 befristet, sofern die Alarmstufe (oder Notfallstufe) des Notfallplans Gas nicht vor dem 15. April 2023 aufgehoben werde. Aus Sicht des Landratsamtes liege im Hinblick auf den derzeit nur beschränkt zulässigen Betrieb zur Nachtzeit ein atypischer Fall vor, der es rechtfertige, von der gesetzlichen Soll-Regelung in § 31k BImSchG abzuweichen. Als Ausgangspunkt für die Erhöhung des Schallleistungspegels um maximal 4 dB nach § 31k Abs. 1 Nr. 2 BImSchG habe man deshalb den derzeit für die Zeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr maximal zulässigen Schallleistungspegel von 100 dB(A) gewählt. Anders als von Beigeladenenseite vorgetragen, habe man jedoch keinen Anlass gesehen, von der Zulassung einer Abweichung nach § 31k BImSchG gänzlich abzusehen.
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Die Bevollmächtigte der Antragstellerin führte hierzu mit Schriftsatz vom 6. Februar 2023 aus, dass nunmehr beantragt werde, unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 11. November 2021, Az.: B 9 S 21.538 die sofortige Vollziehung des Bescheides des Landratsamtes … vom 8. Februar 2019 (Az. ...) insoweit anzuordnen, dass die fünf Windenergieanlagen während der Nacht (22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) im Betriebsmodus NRO 104 mit einem maximalen Schallleistungspegel von 104 dB(A) betrieben werden dürfen.
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Spätestens mit Erlass des Bescheides des Landratsamtes vom 21. Dezember 2022 greife im Rahmen der Interessenabwägung die Argumentation des Gerichtes aus dem Beschluss im Verfahren B 9 S 21.538 nicht mehr durch, dass bis zu einer Klärung im Hauptsacheverfahren nicht auszuschließende schädliche Umwelteinwirkungen durch Lärm während der Nachtzeit ein gesundheitsschädigendes Potenzial hätten und damit der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG betroffen sei. Nach Einschätzung des Gesetzgebers wie auch des Landratsamtes sei in der Nachtzeit ein Schallleistungspegel von 104 dB(A) im Hinblick auf den Gesundheitsschutz zulässig und zumutbar. Die im Rahmen des Eilverfahrens und im hiesigen Abänderungsantrag durchzuführende Interessenabwägung müsse die gesetzgeberische und behördlich geänderte Gewichtung der Belange des Schallimmissionsschutzes mit entsprechend geringerem Gewicht berücksichtigen. Eine Änderung des Beschlusses sei dabei in Anbetracht der Interessenlage nach wie vor für die gesamte Dauer des Hauptsacheverfahrens geboten. Die durch das Bundeswirtschaftsministerium im Hinblick auf die Ungewissheit einer Gas- und Strommangellage auch noch über April 2023 hinaus bzw. deren Vorbeugung im Winter 2023/24 ausgerufene Alarmstufe des Notfallplans Gas gelte nach wie vor. Deshalb bestehe ein massives öffentliches Interesse an der Gewährleistung der Energiesicherheit und Unabhängigkeit von Energieimporten, sodass eine entsprechende Erhöhung der Anlagenleistung während der Nachtzeit für die gesamte Dauer des Klageverfahrens geboten sei. Zudem bestehe das öffentliche Interesse am rechtzeitigen Erreichen der Klimaschutzziele und an jeder Maßnahme, die hierzu beitrage, nicht nur unverändert fort, sondern habe sich seit Erlass des Beschlusses im Verfahren B 9 S 21.538 weiter erhöht.
36
Das Landratsamt erwiderte hierzu mit Schriftsatz vom 9. Februar 2023, dass der von der Antragstellerin in der jetzigen Form gestellte Antrag bereits Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit begegne. Ihm fehle das Rechtsschutzbedürfnis, da jedenfalls derzeit ein Obsiegen im hiesigen Verfahren die Rechtsstellung der Antragstellerin nicht verbessere. Die streitgegenständlichen Anlagen dürften auf Grundlage der Zulassung nach § 31k BImSchG vom 21. Dezember 2022 zur Nachtzeit mit einem Schallleistungspegel von maximal 104 dB(A) betrieben werden. Zum aktuellen Zeitpunkt gehe der Antrag somit ins Leere. Zudem sei der Antrag unbegründet. Die Antragstellerin verkenne den gesetzgeberischen Willen, der mit § 31k Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 4 Satz 2 BImSchG einhergehe. Aus der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass der Gesundheitsschutz gerade nicht außen vor gelassen werden dürfe. § 31k BImSchG habe danach gerade mit Blick auf den Gesundheitsschutz nur im Rahmen der zeitlich engen Befristung erlassen werden dürfen. Durch die Befristung sei die Vorschrift (gerade) noch mit geltendem Recht vereinbar. Der Antrag der Antragstellerin gehe aber ausdrücklich über diese Befristung hinaus und ziele darauf ab, den vollumfänglichen Nachtbetrieb zeitlich unbeschränkt herzustellen. Gerade dies sei im Umkehrschluss zur Notwendigkeit der Befristung von § 31k BImSchG mit dem Gesundheitsschutz nicht vereinbar. Auch der Bescheid vom 21. Dezember 2022 sei ausdrücklich entsprechend zeitlich befristet. Die Antragstellerseite könne sich insoweit nicht auf die Ungewissheit einer Gas- und Strommangellage noch über den April 2023 hinaus berufen. Es sei Sache des Gesetzgebers, entsprechende Maßnahmen zu treffen und beispielsweise die Geltungsdauer des § 31k BImSchG anzupassen. Über den Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO könne jedoch die ausdrückliche Befristung der Anwendbarkeit von § 31k BImSchG nicht umgangen werden. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass das Landratsamt, anders als von Antragstellerseite dargestellt, seine „behördliche Gewichtung“ nicht generell geändert habe, sondern lediglich die ihm obliegenden Aufgaben nach dem aktuellen Rechtsrahmen erfüllt habe, ohne dass dies als Argument für eine richterliche Entscheidung ins Feld geführt werden könne.
37
Die Antragstellerbevollmächtigte führte hierzu mit Schriftsatz vom 16. Februar 2023 aus, dass der mit Schriftsatz vom 6. Februar 2023 geänderte Antrag aufrechterhalten bleibe. Im Hinblick darauf, dass die erteilte Zulassung nach § 31k BImSchG jedenfalls spätestens zum 15. April 2023 auslaufe, der nun gestellte Antrag aber darauf gerichtet sei, den Betrieb der Windenergieanlagen im Betriebsmodus NRO 104 über diesen Zeitraum hinaus für die gesamte Dauer des Hauptsacheverfahrens zu ermöglichen, bestehe sehr wohl ein Rechtsschutzbedürfnis. Die Antragstellerin könne auch nicht darauf verwiesen werden, einen zulässigen Abänderungsantrag erst nach Ablauf des Befristungszeitraums aus der Zulassung vom 21. Dezember 2022 zu stellen. Denn dann dürfe die Antragstellerin die Windenergieanlagen spätestens ab dem 16. April 2023 erneut nur im Betriebsmodus NRO 100 betreiben, bis das Verwaltungsgericht dem (dann erst noch einzureichenden) Abänderungsantrag stattgegeben habe. Vor diesem Hintergrund bestehe für den streitgegenständlichen Abänderungsantrag bereits zum jetzigen Zeitpunkt ein Rechtsschutzbedürfnis, um zeitliche Unterbrechungen für einen möglichen Betriebsmodus NRO 104 vermeiden.
38
Ergänzend wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten sowie auf die Akten der Verfahren B 9 K 19.477 und B 9 S 21.538 verwiesen.
39
Der mit Schriftsatz vom 6. Februar 2023 zuletzt gestellte Antrag der Antragstellerin ist teilweise unzulässig, im Übrigen aber unbegründet.
40
I. Der Antrag ist bereits unzulässig, soweit mit ihm im Ergebnis begehrt wird, die streitgegenständlichen Windkraftanlagen zur Nachtzeit im Betriebsmodus NRO 104 betreiben zu dürfen, während die vom Landratsamt mit Bescheid vom 21. Dezember 2022 erteilte Zulassung gilt.
41
Insoweit fehlt es der Antragstellerin am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis. Ungeschriebene Voraussetzung für die Zulässigkeit einer jeden Inanspruchnahme des Gerichts, ob durch Klage oder Antrag, ist das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis, d.h. die Verfolgung eines rechtsschutzwürdigen Interesses. Für eine unnötige oder gar missbräuchliche Ausübung von Klagemöglichkeiten brauchen die Gerichte nicht zur Verfügung zu stehen (Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Vorbem. §§ 40-53 Rn. 11 m.w.N.). Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht insbesondere dann nicht, wenn das Verfahren für den Kläger oder Antragsteller offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann und damit die Rechtsstellung des Klägers oder Antragstellers nicht verbessern kann (vgl. Ehlers in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, Vorbem. § 40 VwGO Rn. 94 m.w.N.). Auch im Verfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO unterliegt das Rechtsschutzinteresse für den Abänderungsantrag den allgemeinen Anforderungen; insbesondere muss die Abänderungsentscheidung dem Rechtsbehelfsführer einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringen können (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 80 VwGO Rn. 582).
42
Soweit die Antragstellerin hier für Zeiträume, in denen sie auf Grundlage der ihr erteilten Zulassung nach § 31k BImSchG in der Nachtzeit die streitgegenständlichen Anlagen ohnehin bereits im Betriebsmodus NRO 104 betreiben darf, Gleiches ebenso im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO begehrt, kann sich auch durch eine stattgebende Entscheidung des Gerichts ihre Rechtsposition nicht mehr verbessern. Insoweit geht ihr Antrag aus dem Schriftsatz vom 6. Februar 2023 nicht über das hinaus, was ihr ohnehin bereits gestattet ist.
43
II. Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides des Landratsamtes vom 8. Februar 2019 im von der Antragstellerin erstrebten Umfang käme demnach allenfalls für den Zeitraum ab Ende der Geltung der Zulassung nach § 31k BImSchG in Betracht, d.h. ab dem Zeitpunkt, in dem weder die Alarm- noch die Notfallstufe nach dem Notfallplan Gas des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom September 2019 vorliegen, spätestens aber ab dem 16. April 2023. Insoweit ist der Antrag zulässig, aber unbegründet.
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1. Dem Antrag fehlt insoweit nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da er in zeitlicher Hinsicht über den Regelungsumfang der Zulassung nach § 31k BImSchG hinausgeht (vgl. o.). Er stellt aber auch keinen verfrühten Antrag auf Rechtsschutz dar. Zwar ist Verwaltungsrechtsschutz grundsätzlich nachgängiger Rechtsschutz. Das folgt aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der der Gerichtsbarkeit nur die Kontrolle der Verwaltungstätigkeit aufträgt, ihr aber grundsätzlich nicht gestattet, bereits im Vorhinein gebietend oder verbietend in den Bereich der Verwaltung einzugreifen. Nur wenn die Verweisung auf den nachträglichen Rechtsschutz (einschließlich des vorläufigen Rechtsschutzes) unzumutbar ist, verdient das Interesse an der Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes ausnahmsweise Anerkennung. Erforderlich ist demnach ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis dahingehend, dass der Verweis auf den nachträglichen Rechtsschutz für den Kläger oder Antragsteller mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (vgl. Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Vorbem. §§ 40-53 Rn. 25; Ehlers in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, Vorbem. § 40 VwGO Rn. 101 f.; jeweils m.w.N.). Als normale Sachentscheidungsvoraussetzung muss das Rechtsschutzbedürfnis im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. in Fällen einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts vorliegen (vgl. BVerwG, U.v. 14.9.2022 – 9 C 24.21 – juris Rn. 14 m.w.N.).
45
Ein solches besonderes Rechtsschutzbedürfnis liegt bei der Antragstellerin aufgrund der besonderen Umstände vor: Im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist die erteilte Zulassung nach § 31k BImSchG längstens noch knapp sieben Wochen gültig. Die Zulassung wird zudem allein durch Zeitablauf oder durch Entfall der derzeit vorliegenden Alarmstufe des Notfallplans Gas außer Kraft treten. Ein weiteres behördliches Tätigwerden, das etwa von der Antragstellerin mit der Rechtsfolge des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO angegriffen werden könnte oder einen eigenständigen Antrag im Wege des Eilrechtsschutzes ermöglichen würde, ist dazu nicht erforderlich. Ähnlich wie bei einem drohenden behördlichen Realakt – bei dem ein qualifiziertes Rechtsschutzbedürfnis für vorbeugenden Rechtsschutz regelmäßig anzuerkennen ist, wenn sich das behördliche Handeln hinreichend konkret abzeichnet (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2017 – 6 A 6.16 – juris Rn. 12) – ist hier bereits konkret absehbar, wann die für die Antragstellerin begünstigende Zulassung nach § 31k BImSchG (spätestens) entfallen wird. Jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts wenige Wochen vor diesem Zeitpunkt wäre eine Verweisung der Antragstellerin auf einen dann nochmals neu zu stellenden Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO mit der Gewährung effektiven Rechtsschutzes i.S.d. Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Im Hinblick auf die zu erwartende Verfahrensdauer wäre selbst über einen unmittelbar nach der Entscheidung im hiesigen Verfahren neu gestellten Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO rechtskräftig möglicherweise ohnehin erst nach dem 15. April 2023 und damit zu einem Zeitpunkt entschieden, in dem es eines qualifizierten Rechtsschutzbedürfnisses für vorbeugenden Rechtsschutz gar nicht mehr bedürfte.
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2. Der Antrag ist insoweit aber unbegründet.
47
a) Gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO können die Beteiligten die Aufhebung oder Änderung von Beschlüssen nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Dies umfasst neben der Veränderung der für die Entscheidung maßgeblichen Sach- oder Rechtslage auch die Veränderung der Prozesslage, insbesondere, wenn für die Entscheidung neue Beweismittel zur Verfügung stehen, die ergeben, dass die bisherige Entscheidung überholt ist oder jedenfalls neu überdacht werden muss (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 197). Ein Abänderungsgrund liegt auch im Falle einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung oder der Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage vor (vgl. BVerfG, B.v. 26.8.2004 – 1 BvR 1446/04 – juris Rn. 19; OVG NW, B.v. 9.12.2013 – 16 B 994/13 – juris Rn. 2; VGH BW, B.v. 29.1.1992 – 11 S 1995/91 – juris Rn. 4 ff.). Abgesehen von den Voraussetzungen des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist der Streitgegenstand im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO derselbe wie im Ausgangsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, d.h. der Prüfungsmaßstab ist insoweit der gleiche (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 134).
48
b) Die Antragstellerin begehrt hier die Abänderung des Beschlusses vom 11. November 2021 im Verfahren B 9 S 21.538, soweit mit diesem der Antrag der Antragstellerin abgelehnt wurde. Das Gericht hat seine Entscheidung insoweit entscheidungserheblich darauf gestützt, dass die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren B 9 K 19.477 jedenfalls für die Nachtzeit zwischen 22.00 Uhr und 6.00 Uhr offen seien, weil es hierfür auf das – auch jetzt noch – ausstehende Ergebnis der mit Beschluss vom 19. Oktober 2021 angeordneten Beweiserhebung ankomme. In einer solchen Konstellation offener Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren hat das Gericht daher im Sinne einer sogenannten Doppelhypothese eine Interessenabwägung zwischen den Folgen eines unterstellten Hauptsacheerfolgs bei Ablehnung des Eilantrags mit den Folgen eines Misserfolgs in der Hauptsache bei Erlass der beantragten Eilentscheidung vorgenommen. Dabei hat das Gericht zugunsten der Antragstellerin sowohl deren finanzielles Interesse an einem uneingeschränkten Betrieb der Windenergieanlagen zur Nachtzeit als auch das öffentliche Interesse an einer Bekämpfung des Klimawandels und den deswegen bestehenden Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt. Im Ergebnis hat das Gericht jedoch das das dem gegenüber stehende Interesse der Beigeladenen, vor schädlichen Umwelteinwirkungen verschont zu bleiben, die der ungedrosselte Betrieb der Windenergieanlagen angesichts einer Überschreitung der in der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung festgesetzten Immissionsrichtwertanteile möglicherweise verursachen würde, als vorrangig angesehen.
49
c) Die Antragstellerin hat insoweit im Wesentlichen darauf verwiesen, dass die Interessenabwägung nunmehr zu einem anderen Ergebnis führen müsse, da das öffentliche Interesse am Beitrag der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien zur Eindämmung des Klimawandels sowie das im Hinblick auf die aktuelle Versorgungskrise besondere öffentliche Interesse an einer sicheren und möglichst importunabhängigen Energieversorgung zu berücksichtigen seien und die gewandelte Interessengewichtung durch den Gesetzgeber insbesondere in § 2 EEG und § 31k BImSchG zum Ausdruck komme.
50
aa) Zumindest bei dem von Antragstellerseite in Bezug genommenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 (1 BvR 2656/18) sowie den zum 31. August 2021 in Kraft getretenen Änderungen des Bundes-Klimaschutzgesetzes handelt es sich um Umstände, die bereits im Zeitpunkt der Entscheidung im Ausgangsverfahren am 11. November 2021 vorlagen. Aber auch im Übrigen spricht wenig dafür, dass sich das öffentliche Interesse an einer Stromerzeugung durch erneuerbare Energien allein durch Zeitablauf inzwischen qualitativ so verändert hätte, dass es als „veränderter Umstand“ i.S.d. § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO anzusehen wäre. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da selbst unter Berücksichtigung der von Antragstellerseite dargelegten Gründe kein Anlass besteht, im Ergebnis eine andere Entscheidung als im Ausgangsverfahren B 9 S 21.538 zu treffen.
51
bb) Im Hinblick auf die Nutzung erneuerbarer Energien hat das Gericht im Beschluss vom 11. November 2021 im Verfahren B 9 S 21.538 ausgeführt, dass unzweifelhaft ein besonderes öffentliches Interesse daran besteht, zur Eindämmung des Klimawandels Strom zunehmend nachhaltiger, d.h. insbesondere durch Windkraft zu erzeugen; dieses allgemeine öffentliche Interesse ist aber schon grundsätzlich begrenzt durch den Gesundheitsschutz der Nachbarn entsprechender Anlagen. Daran hat sich auch zum jetzigen Zeitpunkt nichts geändert. Ebenso ist nicht erkennbar, dass nun, gut 15 Monate später, die Bekämpfung des Klimawandels allein durch den Zeitablauf ein derart hohes Gewicht bekommen hätte, dass dieser Belang geeignet wäre sich im Rahmen der Interessenabwägung gegenüber den Interessen der Beigeladenen durchzusetzen.
52
Auch im Beschluss vom 23. März 2022 (1 BvR 1187/17) hat das Bundesverfassungsgericht zwar ausgeführt, dass der Ausbau erneuerbarer Energien dem Klimaschutzziel des Art. 20a GG und dem Schutz von Grundrechten vor den Gefahren des Klimawandels dient, weil mit dem dadurch CO2-emissionsfrei erzeugten Strom der Verbrauch fossiler Energieträger zur Stromgewinnung und in anderen Sektoren wie etwa Verkehr, Industrie und Gebäude verringert werden kann. Der Ausbau erneuerbarer Energien dient dabei zugleich dem Gemeinwohlziel der Sicherung der Stromversorgung, weil er zur Deckung des infolge des Klimaschutzziels entstehenden Bedarfs an emissionsfrei erzeugtem Strom beiträgt und überdies die Abhängigkeit von Energieimporten verringert. Die staatliche Pflicht, Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels zu ergreifen, hat das Bundesverfassungsgericht dabei unter anderem aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG abgeleitet und zugleich festgestellt, dass jede Maßnahme, die durch eine Reduzierung des Ausstoßes von CO2 zur Begrenzung des Anstiegs der Erdtemperatur beiträgt, zugleich geeignet ist, den Schutz von Gesundheit und Leben vor den Gefahren des Klimawandels zu fördern (BVerfG, B.v. 23.3.2022 – 1 BvR 1187/17 – juris Rn. 105 u. 122). Insbesondere kann dem nicht entgegengehalten werden, dass die einzelne Maßnahme für sich genommen im Vergleich zur global emittierten Gesamtmenge von CO2 geringfügig ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 142 f.). Dies bedeutet aber gerade keinen absoluten Abwägungsvorrang für jede einzelne Maßnahme zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Vielmehr hat auch das Bundesverfassungsgericht in der zitierten Entscheidung eine Abwägung mit gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen vorgenommen. Jedenfalls dann, wenn es um den Schutz der ebenfalls durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützten körperlichen Unversehrtheit der Nachbarn von Windkraftanlagen im Hinblick auf mögliche Lärmimmissionen geht, kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass die unter anderem auf die gleiche Grundrechtsposition zu stützende Pflicht, den Klimawandel durch die Minderung von CO2-Emissionen zu begrenzen, generell Vorrang hätte. Insoweit hat sich aber keine Veränderung zu der im Beschluss vom 11. November 2021 im Verfahren B 9 S 21.538 vorgenommenen Interessenabwägung ergeben.
53
Ebenso ergibt sich aus der mit Wirkung zum 29. Juli 2022 neugefassten Vorschrift des § 2 EEG im Ergebnis keine andere, für die vorzunehmende Interessenabwägung maßgebliche Gewichtung des Interesses an der treibhausgasneutralen Energieerzeugung. Zwar sieht das Gesetz in § 2 Satz 2 EEG nunmehr vor, dass erneuerbare Energien als vorrangiger Belang in die jeweils durchzuführenden Schutzgüterabwägungen eingebracht werden sollen, bis die Stromerzeugung im Bundesgebiet nahezu treibhausgasneutral ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist Ziel dieser Vorschrift jedoch die Beschleunigung des Ausbaus erneuerbarer Energien in allen Rechtsbereichen (BT-Drs. 20/1630 S. 139), konkret sollen die erneuerbaren Energien damit im Rahmen von Abwägungsentscheidungen u. a. gegenüber seismologischen Stationen, Radaranlagen, Wasserschutzgebieten, dem Landschaftsbild, Denkmalschutz oder im Forst-, Immissionsschutz-, Naturschutz-, Bau- oder Straßenrecht nur in Ausnahmefällen überwunden werden; besonders im planungsrechtlichen Außenbereich, wenn keine Ausschlussplanung erfolgt ist, muss dem Vorrang der erneuerbaren Energien bei der Schutzgüterabwägungen Rechnung getragen werden (BT-Drs. 20/1630 S. 159). Insgesamt richtet sich das Gesetz zu Sofortmaßnahmen für einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien und weiterer Maßnahmen im Stromsektor (BGBl 2022 I S. 1237), mit dessen Art. 1 Nr. 2 der Wortlaut des § 2 EEG zuletzt neu gefasst wurde, wie bereits die Gesetzesbezeichnung erkennen lässt, auf die Beschleunigung des Ausbaus, d.h. insbesondere die Erleichterung der Neuerrichtung entsprechender Anlagen. Zielrichtung der Neuregelung in § 2 Satz 2 EEG ist damit in erster Linie die Schutzgüterabwägung im Rahmen des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens für die Errichtung von Windenergieanlagen. Vorliegend geht es jedoch um eine Interessenabwägung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren des Eilrechtsschutzes bezüglich des Betriebs bereits bestehender Windenergieanlagen. Insoweit ist schon fraglich, ob § 2 EEG nach seinem Sinn und Zweck in dieser Konstellation überhaupt Anwendung finden kann. Jedenfalls aber stellt auch die Gesetzesbegründung ausdrücklich klar, dass öffentliche Interessen den erneuerbaren Energien als wesentlicher Teil des Klimaschutzgebotes nur dann entgegenstehen können, wenn sie mit einem dem Art. 20a GG vergleichbaren verfassungsrechtlichen Rang gesetzlich verankert bzw. gesetzlich geschützt sind oder einen gleichwertigen Rang besitzen (BT-Drs. 20/1630 S. 159). Eine einfachgesetzlich angeordnete generelle Vorrangregelung für erneuerbare Energien ohne diese Einschränkung liefe auf eine Beschränkung anderer, verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen hinaus und wäre in dieser Pauschalität nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Vor diesem Hintergrund kann hier nicht von einem generellen Vorrang des öffentlichen Interesses an einer Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen gegenüber den verfassungsrechtlich in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Belangen der Beigeladenen ausgegangen werden. Vielmehr stellt das öffentliche Interesse einer treibhausgasneutralen Stromerzeugung einen bei der im Rahmen der gerichtlichen Entscheidung nach § 80a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO bzw. hier im Verfahren nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO anzustellenden Interessenabwägung zu berücksichtigenden Belang dar. Diesen Belang hat das Gericht jedoch bereits in der Ausgangsentscheidung vom 11. November 2021 berücksichtigt (s.o.). Auch die Neufassung von § 2 EEG führt dabei nach Auffassung der Kammer angesichts der dargestellten Zielrichtung der Vorschrift und der auf Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gegründeten Position der Beigeladenen nicht zu einem anderen Ergebnis der Interessenabwägung.
54
cc) Bei der Entscheidung im Ausgangsverfahren B 9 S 21.538 vorgenommenen Abwägung der widerstreitenden Interessen unberücksichtigt geblieben ist dagegen der Umstand, dass mit der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Energieversorgungskrise nunmehr in besonderem Maße ein öffentliches Interesse an einer sicheren und möglichst autarken Stromversorgung besteht. Allerdings kann hier genauso wenig von einem pauschalen und generellen Vorrang dieses öffentlichen Interesses gegenüber allen anderen, insbesondere auch verfassungsrechtlich verankerten Belangen ausgegangen werden. Insoweit handelt es sich um einen (weiteren) Belang, der nun in die anzustellende Interessenabwägung einzustellen ist. Im Ergebnis ist die Kammer jedoch der Auffassung, dass auch dieser für die Interessen der Antragstellerin sprechende Belang nicht dazu führt, dass das Interesse der Beigeladenen, vor nicht auszuschließenden schädlichen Umwelteinwirkungen durch Lärm und damit einhergehenden Gesundheitsgefahren verschont zu bleiben, als nachrangig anzusehen wäre. Zum einen ist dabei zu berücksichtigen, dass es für die Antragstellerin, wie bereits in der Ausgangsentscheidung im Verfahren B 9 S 21.538 ausgeführt, nicht um eine generelle Untersagung des Betriebes der Windkraftanlagen, sondern lediglich um eine zeitlich und in ihrem Umfang beschränkte Einschränkung des Betriebes bereits bestehender Anlagen geht. Selbst wenn der insoweit nicht von den streitgegenständlichen Anlagen abgedeckte Strombedarf möglicherweise nicht – wie von Antragstellerseite vorgetragen – durch erneuerbare Energien gedeckt werden kann, so ist die durch die Betriebsbeschränkung zur Nachtzeit bedingte Minderung der Stromproduktion dennoch begrenzt. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Energiesicherungsgesetzes und anderer energiewirtschaftlicher Vorschriften (BGBl 2022 I S. 1726) bereits mit verschiedenen Maßnahmen auf die akuten Gefahren für die Gas- und Stromversorgung reagiert hat. Insbesondere hat er mit der zum 13. Oktober 2022 in Kraft getretenen Vorschrift des § 31k BImSchG eine Möglichkeit geschaffen, unter bestimmten Voraussetzungen von bestehenden Anforderungen an die vom Betrieb von Windkraftanlagen ausgehenden Geräusche zur Nachtzeit – maßvoll – abzuweichen. Erklärtes Ziel dieser Sonderregelung ist es, zur Sicherstellung der Stromversorgung beizutragen (BT-Drs. 20/3497 S. 1). Dabei hat der Ausschuss für Klimaschutz und Energie des Deutschen Bundestages in seiner Beschlussempfehlung vom 28. September 2022 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „die durch § 31k BImSchG mögliche Überschreitung der Immissionsrichtwerte der TA Lärm […] vor dem Hintergrund einer maximalen Erhöhung um 4 dB(A) und der zeitlich engen Befristung der Regelung noch mit dem Gesundheitsschutz vereinbar [ist]. Die Möglichkeit dieser Überschreitung ist somit zeitlich eng zu befristen. Es wird davon ausgegangen, dass sich durch Gegenmaßnahmen spätestens nach Ablauf des 15. April 2023 die Lage auf dem Strommarkt entspannt hat.“ (BT-Drs. 20/3743 S. 25). Aus Sicht des Gesetzgebers stellt § 31k BImSchG damit die Grenze dessen dar, was im Hinblick auf die Überschreitung von eigentlich einschlägigen Immissionsrichtwerten unter dem Aspekt des Gesundheitsschutzes zumutbar ist. Von dieser Möglichkeit hat die Antragstellerin auch Gebrauch gemacht und mit der Zulassung vom 21. Dezember 2022 die Genehmigung eines erweiterten Betriebes der Windenergieanlagen zur Nachtzeit erhalten. Aus der in der Gesetzesbegründung und der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Wertung lässt sich aber gerade nicht entnehmen, dass die akute Versorgungskrise es rechtfertigen würde, noch über die zeitlichen Grenzen des § 31k BImSchG hinaus Abweichungen zu Lasten des Gesundheitsschutzes von Nachbarn zuzulassen. Im Gegenteil spricht § 31k BImSchG und die dort vorgesehene Befristung gerade dagegen, im Rahmen einer Interessenabwägung im Verfahren des Eilrechtsschutzes hierüber hinaus zu gehen. Auch der Gesetzgeber hat das öffentliche Interesse an einer sicheren Stromversorgung offenbar als nicht derart gewichtig eingeschätzt, dass es sich gegenüber dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verankerten Gesundheitsschutz noch stärker durchsetzen können müsste. Im Hinblick auf den außerhalb der Heizperiode generell geringeren Energiebedarf erscheint diese Befristung jedenfalls nachvollziehbar. Das besondere öffentliche Interesse an einer sicheren und möglichst importunabhängigen Stromversorgung ist daher nicht geeignet, im Rahmen der anzustellenden Interessenabwägung mit den Belangen der Beigeladenen zu einem anderen Ergebnis zu führen.
55
c) Im Übrigen wird auf die Gründe des Beschlusses vom 11. November 2021 im Verfahren B 9 S 21.538 Bezug genommen. Anlass für eine Abänderung dieser Entscheidung von Amts wegen nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO bestand nach den obigen Ausführungen ebenfalls nicht.
56
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dass die Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu erstatten hat, da diese sich durch eine eigene Antragstellung einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, § 162 Abs. 3, § 154 Abs. 3 VwGO.
57
IV. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 und § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) i.V.m. Ziffern 19.2, 2.2.2 und 1.5 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (s. NVwZ-Beilage 2013, 57).