Titel:
Dublin-Verfahren (Italien)
Normenketten:
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Der Rücküberstellung einer Familie mit minderjährigen Kindern (geboren 2007, 2009, 2014 und 2016) im Rahmen eines „Dublin“-Verfahrens nach Italien stehen keine systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens entgegen. (Rn. 31 – 32)
Schlagworte:
„Dublin“-Verfahren, Italien, Illegaler Grenzübertritt, Familie mit minderjährigen Kindern, Keine systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens, Kein Überstellungshindernis bei temporärer „Suspendierung“ der Übernahme durch Italien, illegale Einreise, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Dublin-Überstellung, Konzept der normativen Vergewisserung“
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9446
Tenor
1. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16.03.2023 wird abgelehnt.
2. Die Antragsteller tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner
Gründe
1
Die Antragsteller begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die angeordnete Überstellung nach Italien im Rahmen eines sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
2
Die Antragsteller sind syrische Staatsangehörige. Sie reisten am 05.10.2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 01.03.2023 förmliche Asylanträge.
3
Die EURODAC-Abfrage des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ergab Treffer der „Kategorie 2“ (…, …, …, wonach den Antragstellern zu 1-3 am 22.09.2022 in Messina in Italien Fingerabdrücke abgenommen worden sind. ... Auf ein am 07.12.2022 an Italien gerichtetes Übernahmeersuchen erklärten die italienischen Behörden mit Schreiben vom 06.02.2023 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge der Antragsteller gem. Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO.
4
Mit Bescheid vom 16.03.2023 wurden die Anträge als unzulässig abgelehnt (Ziff. 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Ziff. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 4).
5
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Asylanträge seien gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Italien aufgrund der dortigen illegalen Einreise gem. Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Daher erfolge keine materielle Prüfung des Asylantrags in Deutschland.
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Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG seien nicht gegeben. Eine Abschiebung sei gem. § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus einer Anwendung der EMRK ergebe. In Betracht komme dabei in erster Linie eine Verletzung des Art. 3 EMRK und damit die Prüfung, ob im Falle einer Abschiebung der Betroffene tatsächlich Gefahr laufe, einer dieser absoluten Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Einer Dublin-Überstellung stünden damit einzig außergewöhnliche und schwerwiegende humanitäre Gründe entgegen. Bezüglich eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hätten die Antragsteller im Wesentlichen vorgetragen, dass Deutschland von Anfang an ihr Zielland gewesen sei. In Italien seien sie gezwungen worden, Fingerabdrücke abzugeben. In Italien hätten sie vom eigenen Geld gelebt. Sie seien dort bei einer Privatperson untergekommen, bis sie nach Deutschland weitergereist seien. Aufgrund dieses Vortrags sei nicht davon auszugehen, dass ein unzulässiger Eingriff in die Rechte der Antragsteller stattgefunden habe. Für die Antragsteller sei es zumutbar und für die spätere Antragstellung sogar erforderlich, mit den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats zum Zwecke einer erfolgreichen Durchführung der erkennungsdienstlichen Maßnahmen zu kooperieren. Anhaltspunkte, dass die Maßnahmen unverhältnismäßig oder widerrechtlich gewesen seien, lägen nicht vor. Die Antragsteller hätten diesbezüglich keine konkreten Angaben gemacht. Aufgrund der Grundlage des ermittelten EURODAC-Treffers der Kategorie 2 vom 22.09.2022 sei von einer illegalen Einreise, des Aufenthalts sowie der Weiterreise ohne Stellung eines Asylantrags in Italien auszugehen. In der Praxis stellten viele Flüchtlinge keinen Asylantrag in Italien, da diese häufig nicht in Italien bleiben wollten. Es könne dem italienischen Staat nicht zugerechnet werden, wenn sich Flüchtlinge bewusst dafür entschieden hätten, kein Asyl zu beantragen und diese sich somit außerhalb des Systems aufhielten. Da es sich bei Italien um einen Mitgliedstaat der Europäischen Union handle, sei aufgrund des normativen Vergewisserungskonzepts davon auszugehen, dass in Italien die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK sichergestellt sei. Einer Überstellung entgegenstehende systemische, aber auch bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen, fielen nur dann unter Art. 4 GRC, welcher Art. 3 EMRK entspreche, wenn diese eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichten, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalls abhänge. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit sei erst erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge habe, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung anhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschwürde unvereinbar sei. Diese Schwelle sei selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person gekennzeichneten Situation nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sei, auf derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befinde, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne.
7
Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 AufenthG seien nicht gegeben. Die Antragstellerin zu 2 habe lediglich angegeben, dass sie an einer Schilddrüsenüberfunktion erkrankt sei. Wegen dieser Beschwerden nehme sie ein Medikament ein. Ein Attest sei bislang nicht vorgelegt worden. Bezüglich der medizinischen Beschwerden sei die Antragstellerin zu 2 im Bedarfsfall auf das italienische Gesundheitssystem zu verweisen. Die Antragstellerin zu 2 habe in ihrem Vortrag in keiner Weise darlegen können, inwiefern die angegebenen gesundheitlichen Beschwerden eine erhebliche konkrete Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für sie darstellten. Darüber hinaus befinde sie sich in keiner längerfristigen ärztlichen Behandlung in der Bundesrepublik Deutschland. Die vorgetragenen medizinischen Beschwerden der Antragstellerin zu 2 seien somit als nicht lebensbedrohlich oder schwerwiegend zu beurteilen. Eine Reiseunfähigkeit liege ebenfalls nicht vor. Es sei zu erwarten, dass bei der Antragstellerin zu 2 durch die Abschiebung nach Italien keine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes eintreten werde sowie dass es für sie möglich sein werde, in Italien eine eventuell notwendige medizinische Behandlung zu erhalten, da es keinerlei Anhaltspunkte gebe, dass die Antragstellerin zu 2 von einer derartigen medizinischen Versorgung in Italien grundsätzlich ausgeschlossen sei.
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Außergewöhnliche humanitäre Umstände, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
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Die Androhung der Abschiebung nach Italien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Schutzwürdige Belange, die sich auf die Festsetzung der Frist ausgewirkt hätten, seien nicht ersichtlich. Die Antragsteller verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen gewesen seien. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 15 Monate sei daher im vorliegenden Fall angemessen.
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Am 22.03.2023 erhoben die Antragsteller Klage gegen den Bescheid vom 16.03.2023 und beantragten zugleich,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung gem. § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
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Zur Begründung verwiesen die Antragsteller auf ihre Angaben beim Bundesamt.
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Mit Schriftsatz vom 24.03.2023 beantragte das Bundesamt für die Antragsgegnerin, den Antrag abzulehnen.
14
Zur Begründung bezog sich die Antragsgegnerin auf die angefochtene Entscheidung.
15
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte – auch des Klageverfahrens – verwiesen.
16
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziff. 3 des Bescheids vom 16.03.2023 (vgl. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 34a Abs. 2 und § 75 Abs. 1 AsylG) bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage – im Fall des hier einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO – ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht in der Regel kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Nicht erforderlich sind insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids, denn die Regelung des § 36 Abs. 4 AsylG ist hier nicht (entsprechend) anwendbar. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessensabwägung.
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Vorliegend stellt sich die angegriffene Abschiebungsanordnung unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage bei der im Eilverfahren nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig dar, so dass das Aussetzungsinteresse der Antragsteller hinter dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung zurückzutreten hat.
19
Nach § 34a Abs. 1 AsylG wird die Abschiebung ohne das Erfordernis einer vorherigen Androhung und Fristsetzung insbesondere dann angeordnet, wenn der Ausländer in einem für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Zuständigkeit des anderen Staates gegeben ist und feststeht, dass die Abschiebung in den zuständigen Staat nicht aus anderen Gründen rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich ist.
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Diese Voraussetzungen liegen hier – wie im angefochtenen Bescheid zutreffend ausgeführt – im Hinblick auf die beabsichtigte Überstellung nach Italien vor. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist das Gericht vollumfänglich auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheids (§ 77 Abs. 3 AsylG). Neue bzw. andere Aspekte wurden bei der Antragstellung bzw. bis zum Erlass dieses Beschlusses nicht vorgetragen.
Ergänzend ist lediglich Folgendes auszuführen:
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1. Der Asylantrag ist gem. § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG in Deutschland unzulässig.
22
Wie vom Bundesamt im Ergebnis zutreffend mit Bescheid vom 16.03.2023 festgestellt, ist Italien für das Asylverfahren der Antragsteller zuständig. Die Zuständigkeit Italiens folgt aus Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO. Diese Regelung bestimmt, dass für den Fall, dass auf Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß der beiden in Art. 22 Abs. 3 Dublin-III-VO genannten Verzeichnisse, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 (EURODAC-VO) festgestellt wird, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaates illegal überschritten hat, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Vorliegend ergibt sich aus den EURODAC-Treffern, dass den Antragstellern zu 1-3 in Italien Fingerabdrücke abgenommen wurden. Unerheblich ist, dass für die in den Jahren 2009, 2014 und 2016 geborenen Antragsteller zu 4-6 offensichtlich keine EURODAC-Treffer für Italien vorliegen, zumal die Antragsteller zu 1 und 2 u.a. bei der Erstbefragung gegenüber dem Bundesamt angegeben haben, dass die gesamte Familie, also die Antragsteller zu 1-6 am 22.09.2022 – aus Libyen kommend – nach Italien eingereist ist und sich dort für sechs Tage aufgehalten hat. Im Übrigen hat Italien auch seine Zuständigkeit nach § 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für das Verfahren der Antragsteller in der erklärt.
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Die Zuständigkeit Italiens ist auch nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO entfallen, da noch keine 12 Monate seit dem illegalen Grenzübertritt nach Italien vergangen sind.
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Die Zuständigkeit Italiens ist ferner nicht gemäß Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO entfallen, weil das Bundesamt innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO festgesetzten Frist von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung ein Aufnahmegesuch an Italien gestellt hat. Die italienischen Behörden haben das Übernahmeersuchen akzeptiert. Italien ist damit verpflichtet, die betreffenden Personen aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Das Bundesamt hat in seinem Übernahmeersuchen ausdrücklich auch die minderjährigen Kinder, mit Nennung der jeweiligen Geburtsdaten, aufgenommen. Italien hat die Aufnahmebereitschaft für alle sechs Antragsteller bestätigt.
25
Letztlich ist die Zuständigkeit für das Asylverfahren nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf Deutschland übergegangen, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO vorliegend noch nicht abgelaufen ist.
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2. Die Überstellung nach Italien ist auch nicht aus anderen Gründen rechtlich unzulässig oder tatsächlich unmöglich.
27
a) Insbesondere liegen keine außergewöhnlichen Umstände vor, die die Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO begründen oder möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht bzw. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO sprechen.
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aa) Systemische Mängel sind nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen weder bei der Durchführung von Asylverfahren noch hinsichtlich des Aufnahmesystems in Italien festzustellen.
29
Nach dem vom Bundesverfassungsgericht zur Drittstaatenregelung entwickelten „Konzept der normativen Vergewisserung“ ist davon auszugehen, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK – sichergestellt ist (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris). Dieses vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Konzept steht im Einklang mit dem der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems zugrundeliegenden Prinzips des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris). Unter diesen Bedingungen muss die nur in Ausnahmefällen widerlegbare Vermutung gelten, dass die Behandlung eines Asylbewerbers bzw. als schutzberechtigt anerkannten Ausländers in jedem einzelnen dieser Staaten im Einklang mit den genannten Rechten steht.
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Hiervon kann nur dann nicht ausgegangen werden, wenn sich auf Grund bestimmter Tatsachen aufdrängt, der Ausländer sei von einem Sonderfall betroffen, der von dem Konzept der normativen Vergewisserung bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens nicht aufgefangen wird (vgl. EuGH, U.v. 10.12.2013 – Rs. C-394/12 – juris; BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris). Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Personen implizieren (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris, m.w.N., B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – juris). Schwachstellen fallen daher nur dann unter Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalls abhängt (EuGH, U.v. 19.03.2019 – C-163/17 – juris).
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Gemessen hieran ist in Bezug auf Italien nach dem aktuellen Stand der Erkenntnisse nicht davon auszugehen, dass den Antragstellern bei einer Überstellung derzeit eine menschenunwürdige Behandlung im vorgenannten Sinne droht. In der Rechtsprechung des Gerichts ist geklärt, dass für junge und gesunde Männer das italienische Asylsystem derzeit keine systemischen Mängel aufweist (vgl. beispielsweise VG Bayreuth, B.v. 1.2.2023 - B 7 S 23.50020; VG Bayreuth, B.v. 2.3.2023 – B 4 S 23.50039; vgl. auch BVerwG, B.v. 17.1.2022 -1 B 66.21 – juris; VG Köln, B.v. 17.8.2022 – 8 L 686/22.A – juris; OVG NRW, B.v. 15.7.2022 – 11 A 1138/21.A – juris; VG Würzburg, U.v. 10.6.2022 – juris; BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris). Ferner ist in der Rechtsprechung des Gerichts geklärt, dass auch der Überstellung einer Familie mit Kleinkindern nach Italien keine systemischen Mängel des italienischen Asylsystems entgegenstehen (VG Bayreuth, B.v. 27.10.2022 – B 8 S 22.50212 – juris; vgl. auch VG Stuttgart, U.v. 21.7.2022 – A 4 K 1253/22 – juris).
32
Allein die Tatsache, dass Italien offensichtlich derzeit europarechtswidrig die Aufnahme von zu überstellenden „Dublin-Flüchtlingen“ ablehnt, begründet keinen hinreichenden Beleg dafür, dass das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der überstellten Personen implizieren (vgl. hierzu VG Augsburg, B.v. 20.1.2023 – Au 8 S 23.50020 – juris). Es mag zwar immer wieder vorkommen, dass Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrags in Italien auf sich alleine gestellt und zum Teil auch obdachlos sind. Dies und auch die zum Teil lange Dauer der Asylverfahren sind darauf zurückzuführen, dass das italienische Asylsystem aufgrund der hohen Asylbewerberzahlen stark ausgelastet und an der Kapazitätsgrenze ist. Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber weiterhin feststellbaren Mängel und Defizite sind aber weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen „Dublin-Rückkehrer“ nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad nahelegt. Es ist vielmehr im Grundsatz davon auszugehen, dass Italien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, völker- und unionsrechtskonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, das trotz einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der vor Ort tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass Asylbewerber im Normalfall – gerade wenn minderjährige Kinder unter den zu Überstellenden sind – nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen (vgl. auch VG Bayreuth, B.v. 8.3.2023 – B 7 S 23.50050).
33
Auch wenn ganz aktuell Rücküberstellungen nach Italien nicht oder nur sehr begrenzt durchgeführt werden können, ist nicht ersichtlich, dass derzeit bereits feststünde, dass die Antragsteller innerhalb der nächsten sechs Monate nicht zurückgeführt werden könnten. So gibt es keine belastbaren Anhaltspunkte gegen die Annahme, dass es sich bei derzeitigen „Suspendierung“ von Überstellungen lediglich um ein vorübergehendes Hindernis handelt und Überstellungen auch weiterhin innerhalb der im Dublin-System festgelegten Fristen durchgeführt werden können. Es darf weiterhin erwartet werden, dass sich Italien bemüht, ausreichende Plätze zur Aufnahme bzw. Rückübernahme von Asylbewerbern zu schaffen. Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass Italien längerfristig nicht willens oder nicht in der Lage wäre, den im Gemeinschaftsrecht wurzelnden Verpflichtungen gerecht zu werden, zumal auch für die hiesigen Antragsteller eine ausdrückliche Übernahmezusage abgegeben wurde. Beispielsweise deutet die in den letzten Jahren erzielte Erhöhung der Aufnahmekapazität darauf hin, dass die italienische Regierung flexibel auf die steigenden Flüchtlingszahlen reagiert und bemüht ist, die Kapazitäten den sich ändernden Anforderungen anzupassen. So konnten in den letzten beiden Jahren die Kapazitäten in den SAI-Einrichtungen um ca. 25% erweitert werden. Betrug die Anzahl der finanzierten Unterbringungsplätze im Januar 2021 ca. 30.000, konnte diese – mit Stand Juni 2022 – auf 39.418 finanzierte Plätze erweitert werden. Dies gilt ebenfalls in Bezug auf den starken Zuzug ukrainischer Kriegsflüchtlinge: Mit verschiedenen Gesetzesdekreten wurden zusätzliche Unterbringungsplätze innerhalb der bestehenden Aufnahmeeinrichtungen (SAI und CAS) geschaffen sowie die Weichen für neue Formen der Unterbringung gelegt, welche bis zum 31.12.2022 die Aufnahme von bis zu 15.000 ukrainischen Kriegsflüchtlingen gewährleisten sollen. Hervorzuheben ist auch, dass die Belastung des italienischen Aufnahmesystems nicht mit den Höchstständen der Jahre 2017 bis 2018 vergleichbar ist (vgl. zum Ganzen mit Nachweisen VG Regensburg, B.v. 13.2.2023 – RO 16 S 23.50073 – juris m.w.N.; VG Bayreuth, B.v. 8.3.2023 – B 7 S 23.50050).
34
Es wurden auch Seitens der Antragsteller keine durchgreifenden Anhaltspunkte für systemische Mängel vorgetragen. Sie haben sich lediglich sechs bzw. – nach anderen Angaben – max. 10 Tage in Italien aufgehalten. Das zugewiesene Camp haben sie nicht bzw. allenfalls kurz in Anspruch genommen und haben es vorgezogen, bei „einem Freund“ unterzukommen. Plausible Gründe, warum sie das Camp verlassen haben, sind nicht vorgetragen. Sie erklärten vielmehr unverblümt, dass Deutschland von vorneherein – wegen der besseren Lebensbedingungen und Bildungschancen – das Ziel gewesen sei. Somit haben sich die Antragsteller ohne rechtlich relevanten Grund von Anfang an dem italienischen Asylverfahren „entzogen“.
35
bb) Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO notwendig machen könnten, sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.
36
b) Es sind auch keine Anhaltspunkte für innerstaatliche oder zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG, die der Abschiebungsanordnung entgegenstehen würden, ersichtlich.
37
Insbesondere leidet die Antragstellerin zu 2 an keiner lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung, die sich alsbald nach der Abschiebung verschlechtern würde. Gegenüber dem Bundesamt gab sie lediglich an, die leide an einer Schilddrüsenüberfunktion und nehme eine Tablette gegen die Überfunktion sowie Vitamin D ein. Derartige Standartmedikamente erhält die Antragstellerin zu 2 auch im italienischen Asylverfahren. Im Übrigen würde insoweit nicht einmal ein entsprechendes Attest vorgelegt (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 und 3 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG).
38
Anhaltspunkte für innerstaatliche Abschiebungshindernisse sind weder vorgetragen, noch anderweitig ersichtlich.
39
Der Antrag ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzulehnen.
40
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.