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VG Bayreuth, Urteil v. 27.02.2023 – B 7 K 23.30058
Titel:

Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots – familiäre Belange

Normenketten:
AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt; die in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Behörde "nur", bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, dh entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes, familiäre Belange des Klägers, Aufenthaltstitel der Ehefrau und eines minderjährigen Kindes in Deutschland, Umdeutung einer bloßen Befristungsentscheidung in eine behördliche Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, Anordnung, Befristung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, familiäre Belange, Kernfamilie, schutzwürdige Belange, Aufenthaltstitel von Familienmitgliedern
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9445

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens als Gesamtschuldner.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.  

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich gegen die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
2
Die Kläger, syrische Staatsangehörige, reisten nach eigenen Angaben am 17.11.2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 19.12.2014 Asylanträge.
3
Mit Bescheid vom 06.09.2016, der auch gegenüber der Ehefrau des Klägers zu 1 bzw. der Mutter des Klägers zu 2 erging, wurden die Asylanträge als unzulässig abgelehnt, da den Klägern bereits in Bulgarien der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist (Ziff. 1). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland spätestens 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen, andernfalls würden sie nach Bulgarien abgeschoben werden (Ziff. 2). Unter Ziff. 3 wurde das (seinerzeit) gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Im anschließenden Klageverfahren (Az. B 3 K 16.50056 bzw. – nach Aussetzung und Wiederaufnahme des Verfahrens – Az. B 3 K 21.30154) wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 22.11.2022 die Ziff. 3 des Bescheids vom 06.07.2016 aufgehoben und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots führte die damalige Einzelrichterin im Wesentlichen aus, die angefochtene Regelung unter Ziff. 3 des Bescheids sei rechtswidrig und verletzte die Kläger in ihren Rechten. Die zum Zeitpunkt des Bescheidserlasses vorliegende Annahme des Bundesamts, es seien keine schutzwürdigen Belange gegeben, sei zum jetzigen Zeitpunkt nicht (mehr) haltbar. Der Ehefrau des Klägers zu 1 bzw. der Mutter des Klägers zu 2 sei mittlerweile eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden. Dem im Jahr 2021 geborenen Sohn des Klägers zu 1 bzw. Bruders des Klägers zu 2 sei mit Bescheid des Bundesamts vom 14.07.2022 der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden. Diese schutzwürdigen familiären Belange habe die Beklage nicht in ihrer Entscheidung berücksichtigt. Die Annahme des Bundesamts, es seien keine schutzwürdigen Belange für eine vom Standardfall abweichende Entscheidung vorhanden, sei daher zum jetzigen Zeitpunkt verfehlt und die Ermessensentscheidung somit im Sinne von § 114 VwGO defizitär.
5
Aufgrund des Urteils vom 22.11.2022 ordnete das Bundesamt mit Ergänzungsbescheid vom 11.01.2023 das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete dieses auf zwei Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Zur Begründung wurde insoweit ausgeführt, im Falle einer Abschiebungsandrohung nach § 34, § 35 AsylG habe das Bundesamt gem. § 75 Nr. 12 AufenthG das aus § 11 Abs. 1 AufenthG resultierende Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 2 AufenthG zu befristen. Die Dauer dieses gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots werde gem. § 11 Abs. 3 AufenthG in Anbetracht der jeweiligen Umstände des Einzelfalls festgesetzt und dürfe grundsätzlich fünf Jahre nicht überschreiten. Bei der Festsetzung der Frist sei ein Ausgleich zwischen dem privaten Interesse der Kläger, sich im Bundesgebiet aufzuhalten, und dem öffentlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, unrechtmäßige Aufenthalte zu vermeiden bzw. zu unterbinden, herzustellen. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf zwei Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Die Frist beginne mit der Abschiebung. Die schutzwürdigen Belange der Kläger seien bei der Fristsetzung berücksichtigt worden. Ermessensreduzierend seien im vorliegenden Fall die familiären Belange der Kläger berücksichtigt. Der Ehefrau des Klägers zu 1 bzw. der Mutter des Klägers zu 2 sei mittlerweile eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden. Dem Sohn des Klägers zu 1 bzw. dem Bruder des Klägers zu 2 sei zwischenzeitlich mit Bescheid vom 14.07.2022 der subsidiäre Schutz zuerkannt worden. Besondere Bedeutung sei in diesem Fall beizumessen, dass sich das Kind des Klägers zu 1 bzw. der Bruder des Klägers zu 2 im Kleinkindalter befinde und die Ausreise bzw. Abschiebung zu einer Umgangsbeschränkung führe. Daher sei davon auszugehen, dass dem Interesse der Kläger an einer Wiedereinreise gegenüber dem Interesse der Bundesrepublik Deutschland, eine solche wegen einer zuvor zwangsweise durchgesetzten Ausreise im Anschluss hieran zu unterbinden, durch eine Reduzierung der gesetzlich regelmäßig möglichen Maximalfrist von 60 Monaten auf zwei Monate geeignet, erforderlich und angemessen berücksichtigt erscheine.
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Mit Schriftsatz vom 19.01.2023 forderte der Bevollmächtigte der Kläger das Bundesamt auf, den Bescheid vom 11.01.2023 zurückzunehmen, da dieser offensichtlich nicht konform mit dem Urteil des VG Bayreuth vom 22.11.2022 sei. Die Kläger würden von der Erteilung eines Aufenthaltstitels ausgesperrt werden. Die Ehefrau bzw. die Mutter habe bereits einen Aufenthalt. Ein Aufenthalt der Kläger werde erst zwei Monate nach der Abschiebung ermöglicht.
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Mit Schriftsatz vom 23.01.2023, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag, erhob der Bevollmächtigte der Kläger Klage und beantragt,
den Bescheid vom 11.01.2023 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Kläger sei im Hinblick auf die familiäre Situation nicht zu vertreten. Der Bescheid sei offenkundig nicht konform mit dem Urteil des VG Bayreuth vom 22.11.2022. Die Beklagte sperre die Kläger von der Erteilung eines Aufenthaltstitels aus. Die Ehefrau bzw. Mutter habe bereits einen Aufenthalt. Das Bundesamt wolle den Klägern einen Aufenthalt erst zwei Monate nach der Abschiebung erteilen.
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Mit Schriftsatz vom 26.01.2023 beantragt die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
11
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
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Mit Beschluss der Kammer vom 13.02.2023 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
13
Mit Schriftsätzen vom 13.02. bzw. 14.02.2023 erklärten sich die Kläger und die Beklagte mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
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Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen. Die Gerichts- und Behördenakte des Anerkennungsverfahrens (Gz.: 5875974-475 und B 3 K 16.50065 bzw. B 3 K 21.30154) wurde beigezogen.

Entscheidungsgründe

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I. Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht über die Klage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16
II. Die zulässige Anfechtungsklage (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47/20 – juris Rn. 9/10; OVG Lüneburg, U.v. 6.5.2020 – 13 LB 190/19 – juris Rn. 54) bleibt ohne Erfolg. Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17
Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Fassung (vgl. § 83c i.V.m. § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung und spätestens mit der Abschiebung erlassen werden. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Über die Länge der Frist wird nach Ermessen entschieden (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Bemessung der Frist erfolgt grundsätzlich im Rahmen eines zweistufigen Prüfprogramms, nach dem in einem ersten Schritt aus dem Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, folgende öffentliche Interesse an der zur Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Fernhalteinteresse zu bestimmen und sodann die so bestimmte Höchstfrist in einem zweiten Schritt an verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben nach Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK zu messen ist. Soweit ein Sachverhalt keine Besonderheiten aufweist, kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot ermessensfehlerfrei auf die Dauer von 30 Monaten befristet werden. Bei einer auf dieser Grundlage getroffenen Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots handelt es sich um einen einheitlichen Verwaltungsakt, der nicht zwischen der Anordnung des Verbots und dessen Befristung aufgespalten werden kann. Ermessensfehler bei der Befristungsentscheidung führen daher zur Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots insgesamt, das dann im Regelfall ermessensfehlerfrei neu erlassen werden darf (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 47/20 – juris Rn. 10 ff. u. 16-18).
18
Gemessen hieran ist die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung auf zwei Monate gerichtlich nicht zu beanstanden.
19
Zwar verwendet die Beklagte in der Bescheidsbegründung (Seite 2) offensichtlich zunächst einen „alten Textbaustein“, der noch vom (früheren) gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgeht, aus dem Bescheidstenor ist jedoch klar ersichtlich, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 2 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet wurde. Im Übrigen wäre auch eine „bloße Befristungsentscheidung nach altem Recht“ in eine behördliche Anordnung eines befristeten Einreiseund Aufenthaltsverbots umzudeuten (BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3/21 – juris Rn. 32).
20
Die Besonderheiten im Hinblick auf den Schutz des Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK (vgl. auch BVerwG U.v. 7.9.2021 – 1 C 47/20 – juris Rn. 20) hat die Beklagte bei der Befristung erkannt und aufgegriffen. Der Bescheid geht darauf ein, dass die Frau des Klägers zu 1 bzw. die Mutter des Klägers zu 2 inzwischen einen Aufenthaltstitel in Deutschland hat, sowie, dass einem weiteren Kind der Familie (geb. 2021) zwischenzeitlich der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde. Ferner wurde die Tatsache, dass es sich beim zweiten -aufenthaltsberechtigtem – Kind bzw. Bruder um ein Kleinkind handelt und durch das Verbot das Umgangsrecht mit einem Kleinkind eingeschränkt wird, berücksichtigt. Obwohl es sich um eine „intakte Kernfamilie“, insbesondere auch mit tatsächlichem Umgang des Klägers zu 1 mit dem im Jahr 2021 geborenen Kind handelt, ist es nicht zu beanstanden, dass die Beklagte das Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht noch kürzer befristet bzw. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Kläger überhaupt angeordnet hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG nämlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Die in Art. 6 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet vielmehr die Behörde „nur“, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. z.B. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 29.10.2021 – 10 ZB 21.2261 – BeckRS 2021, 36677 Rn. 5). Indem das Einreise- und Aufenthaltsverbot vorliegend bereits im unteren Bereich der Möglichkeiten befristet wurde, wurde dem Umgangsrecht des Vaters mit dem bleibeberechtigten Kleinkind im vorliegenden Einzelfall auch das notwendige Gewicht beigemessen. Es ist gerichtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Kläger zu 1 – derzeit allenfalls hypothetisch – für zwei Monate von seiner Frau bzw. Bruder räumlich getrennt wird.
21
Nichts anderes folgt aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 22.11.2022 (B 3 K 21.30154). Dort wurde die (damalige) Entscheidung des Bundesamts zum Einreise- und Aufenthaltsverbot nur aufgehoben, weil das Bundesamt im seinerzeitigen Bescheid davon ausgegangen ist, dass keine schutzwürdigen Belange der Kläger gegeben sind, inzwischen aber „Aufenthaltstitel“ für zwei Mitglieder der klägerischen Kernfamilie vorliegen (vgl. UA S. 20/21). Das Gericht hat der Beklagten hingegen keine Vorgaben gemacht, wie lange die Befristung auszufallen hat, geschwiege denn, dass überhaupt kein Einreise- und Aufenthaltsverbot bei den Klägern angeordnet werden dürfe. Diese Entscheidung steht vielmehr allein im Ermessen der Beklagten, die mit der nunmehr angeordneten Befristung von zwei Monaten die gesetzlichen Grenzen ihres vom Gericht nachprüfbaren Ermessens (vgl. § 114 Satz 1 VwGO) nicht überschritten hat.
22
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b VwGO nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.