Titel:
Sekundärmigration, (Drittstaatenbescheid Italien). Nur hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbotes erfolgreiche Klage.
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 3
GRC Art. 4
AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, 7 S. 1
GG Art. 6
Leitsätze:
1. Geht es um die Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, ist die (isolierte) Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Weiterhin ist die Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung mit einem hilfsweisen Verpflichtungsbegehren auf Feststellung nationalen Abschiebungsschutzes zu verbinden, wenn die Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten für fehlerhaft erachtet wird. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Rechtsprechung des BVerwG zur Einbeziehung der gelebten Kernfamilie in die Rückkehrprognose ist zwar zu einem nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK in Bezug auf das Herkunftsland des Ausländers ergangen, jedoch auf die vorliegende „Drittstaaten“-Konstellation übertragbar. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Bundesamt ist gehalten, seine Ermessenserwägungen zum Einreise- und Aufenthaltsverbot auch nach der Entscheidung unter Kontrolle zu halten und im Falle einer wesentlichen Änderung der Sachlage bis zur gerichtlichen Entscheidung seine Ermessenserwägungen entweder zu ergänzen (§ 114 S. 2 VwGO) oder die verfügte Frist gegebenenfalls zu korrigieren. (Rn. 66) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sekundärmigration Italien, gelebte Kernfamilie mit Kleinkind, keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einer Familie mit Kleinkind in Italien, ermessensfehlerhafte Nichtberücksichtigung von schutzwürdigen familiären Belangen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.05.2023 – 24 ZB 23.30310
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9443
Tenor
1. Ziffer 4 des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge von 15.07.2022 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin 5/6 und die Beklagte 1/6. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige mit arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Sie reiste nach eigenen Angaben am 20.08.2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30.05.2022 einen Asylantrag.
2
Die Asylanträge der zusammen mit der Klägerin eingereisten Eltern und der in den Jahren 2004 bzw. 2010 geborenen Brüder lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 21.02.2022 (Gz.: …*) als unzulässig ab. Unter Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG wurde den Eltern und den Brüdern die Abschiebung nach Italien angedroht. Die gegen den Bescheid vom 21.02.2022 gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 09.08.2022 (Az.: B 1 K 22.50032) ab.
3
Die Asylanträge der im Jahr 1997 geborenen Schwester der Klägerin und deren Familie (Ehemann geboren im Jahr 1989 sowie zwei Kinder, geboren 2015 und 2018) lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 23.02.2022 (Gz.: …*) ebenfalls als unzulässig ab. Unter Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG wurde der Schwester der Klägerin und deren Familie die Abschiebung nach Italien angedroht. Eine nachfolgende Klage wies das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Urteil vom 04.08.2022 (Az.: B 3 K 22.30194) ab.
4
Die EURODAC-Trefferabfrage des Bundesamts ergab einen Treffer der „Kategorie 1“ …, wonach die Klägerin am 28.06.2017 in Rom internationalen Schutz beantragt hat. Nach Mitteilung der italienischen Behörden vom 04.07.2022 wurde der Klägerin am 13.07.2017 in Italien der Flüchtlingsstatus zuerkannt.
5
Bei den Befragungen am 30.05.2022 bzw. 01.06.2022 gab die Klägerin gegenüber dem Bundesamt im Wesentlichen an, sie sei im Jahr 2013 mit ihrer Familie aus Syrien ausgereist und in den Libanon gegangen. Durch ein UN-Programm seien sie im Jahr 2017 nach Italien gekommen. Dort habe sie internationalen Schutz zuerkannt bekommen und einen fünfjährigen Aufenthaltstitel erhalten. In Italien habe sie als Bedienung in einem Restaurant gearbeitet und knapp 400,00 EUR pro Monat verdient. Ihre Familie habe sich dann entschlossen, nach Deutschland zu gehen. Sie habe hier in Deutschland einen Freund, den sie schon in Italien kennengelernt habe. Dieser sei seit neun Jahren in Deutschland und habe einen Aufenthaltstitel. Von diesem Freund sei sie schwanger. Sie sei gegenwärtig in der zehnten Schwangerschaftswoche.
6
Mit Bescheid vom 15.07.2022, zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 21.07.2022, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1). Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Der Klägerin wurde die Abschiebung nach Italien angedroht (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
7
Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da der Klägerin laut Schreiben der italienischen Behörden vom 04.07.2022 bereits in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei. Der Antrag werde daher in Deutschland nicht materiell geprüft.
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Der Entscheidung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stehe auch nicht entgegen, dass der EuGH mit Urteil vom 19.03.2019 (Az.: C-297/17) entschieden habe, dass eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig, weil dem Antragsteller in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union bereits internationaler Schutz gewährt worden sei, nur dann möglich sei, wenn der Antragsteller keiner ernsthaften Gefahr ausgesetzt sei, aufgrund der Lebensumstände, die ihm im Mitgliedsstaat erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK zu erfahren. Eine derartige Menschenrechtsverletzung drohe der Klägerin in Italien nicht. Die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkannten Schutzstatus in Italien seien ausreichend (wird umfassend ausgeführt). Schutzberechtigten sei es damit möglich zu vermeiden, dass sie in eine Situation materieller Not gerieten, die es ihnen nicht erlauben würde, die elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse der Klägerin seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich die Lebensverhältnisse in Italien als unmenschlich oder erniedrigend dargestellt hätten oder sich bei einer Rückkehr darstellen würden. Es sei nicht ersichtlich, dass der Klägerin in Italien Unterkunft, Versorgung und medizinische Behandlung verwehrt werden würde. Es sei insbesondere darauf hinzuweisen, dass es der Klägerin möglich und zumutbar sei, bereits von Deutschland aus Vorkehrungen zu treffen, um die Rückkehr nach Italien und den Aufenthalt dort zu organisieren und sicherzustellen. Die Klägerin müsse in Italien nicht befürchten, in ihr Herkunftsland zurückgeführt zu werden. Sie werde in Italien die im Wesentlichen gleichen Lebensbedingungen vorfinden, wie die dortige Bevölkerung, auch wenn diese Lebensbedingungen denen in der Bundesrepublik Deutschland nicht entsprechen. Der Vortrag der Klägerin sei nicht ausreichend für die Annahme einer besonderen Verletzbarkeit, insbesondere weil Hilfsangebote, staatliche Unterstützung und die gegebene medizinische Versorgung im Bedarfsfall diese besondere Verletzbarkeit ausgleichen könnten. Die humanitären Bedingungen in Italien stellten daher keine unabhängig von ihrem Willen oder ihren Entscheidungen ergehende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.
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Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG seien nicht gegeben. Der Klägerin werde die Abschiebung nach Italien angedroht, also in einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union seien Staaten, die im Sinne des Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG gemäß § 29a Abs. 2 AsylG als sichere Herkunftsstaaten eingestuft seien. Die Klägerin habe nicht glaubhaft vorgetragen, dass ihr in Italien eine durch einen Akteur versursachte Folter oder relevante unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe. Die Klägerin laufe im Falle der Abschiebung auch keine Gefahr, im Aufnahmeland auf so schlecht humanitäre Bedingungen (allgemeine Gefahren) zu treffen, dass die Abschiebung dorthin eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bewertet werden. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Insoweit werde auf die Ausführungen unter Ziffer 1 verwiesen.
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Der Klägerin drohe auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Eine Schwangerschaft stelle per se kein Überstellungshindernis dar. Die Abschiebung scheide grundsätzlich sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt aus. In diesem Zeitraum sei wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit der Mutter von einer Reiseunfähigkeit auszugehen.
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Die Abschiebungsandrohung sei nach § 35, § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
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Die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei im vorliegenden Fall rechtmäßig. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder vorgetragen, noch anderweitig ersichtlich. Im Bundesgebiet lebende Verwandte könnten bei der Fristsetzung nur berücksichtigt werden, wenn es sich um Angehörige der Kernfamilie handle, die sich dauerhaft legal im Bundesgebiet aufhalten dürften. Die Eltern, Geschwister, der Schwager und die Neffen der Klägerin seinen dagegen keine Angehörigen der Kernfamilie.
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Mit Schriftsatz vom 30.07.2022, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am 04.08.2022, erhob der Bevollmächtigte der Klägerin Klage und beantragt mit Schriftsatz vom 10.08.2022,
den angefochtenen Bescheid vom 15.07.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, (1.) die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen, (2.) der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, (3.) der Klägerin den subsidiären Schutz zuzuerkennen und (4.) festzustellen, dass für die Klägerin Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen ausgeführt, Hauptgrund für die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens sei der familienrechtliche Status der Klägerin und die Zuständigkeit Italiens. Die Klägerin habe am 28.08.2021 ihren Ehemann, Herrn …, nach islamischem Recht geheiratet und sei inzwischen von ihm schwanger. Herr … lebe seit dem 15.05.2014 in der Bundesrepublik Deutschland. Er sei zwar vorübergehend arbeitslos und beziehe Arbeitslosengeld I. Er werde aber ab dem 15.08.2022 erneut eine Tätigkeit ausüben, die ihn befähige, der Klägerin und seinem zukünftigen Kind den Unterhalt zu gewährleisten. Herr … sei Inhaber einer befristeten Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland.
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Im Übrigen seien laut Angaben der Klägerin die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Italien schlecht. Die Familie der Klägerin sei in Süditalien in Reggio Calabria im Dorf Camini untergebracht gewesen, wo keine Arbeitsmöglichkeiten bestanden hätten und außerdem eine latente Bedrohung durch die Mafia geherrscht habe. Daher sei aus Sicht der Klägerin – auch vor dem Hintergrund der Heirat und der Schwangerschaft – eine Rückkehr unzumutbar. Eine Rückkehr stelle eine unerträgliche Härte dar.
16
Mit Schriftsatz vom 11.08.2022 beantragt die Beklagte,
17
Zur Begründung bezog sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
18
Mit Schriftsatz vom 02.12.2022 teilte die Beklagte auf Nachfrage des Gerichts mit, dass eine Asylakte bzw. ein Asylverfahren eines Herrn …, geboren …, beim Bundesamt nicht bekannt sei.
19
Auf Nachfrage des Gerichts teilte der Bevollmächtigte der Klägerin – unter Vorlage entsprechender Unterlagen – mit Schriftsatz vom 16.12.2022 mit, dass Herr …, syrischer Staatsangehöriger, aus dem Libanon mit einem Visum der Bundesrepublik Deutschland, ausgestellt durch die Deutsche Botschaft im Libanon, wohl im Rahmen einer Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UN bzw. UNICEF, nach Deutschland eingereist sei. Im Übrigen habe Herr … zwischenzeitlich auch die Vaterschaft des am 23.12.2022 erwarteten Kindes der Klägerin anerkannt.
20
Mit Beschluss der Kammer vom 08.02.2023 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
21
Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung am 23.03.2023 wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakte verwiesen. Die Gerichts- und Behördenakten der Asylverfahren der Eltern und der Brüder der Klägerin (Gz.: …*) und der Schwester der Klägerin und deren Familie (Gz.: …*) wurden beigezogen.
Entscheidungsgründe
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I. Das Gericht konnte im vorliegenden Fall über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung am 23.03.2023 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten bei der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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II. Die Klage hat nur im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang (Aufhebung der Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes) Erfolg. Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
24
1. Die Klage ist bereits unzulässig, soweit die – anwaltlich vertretene – Klägerin „Verpflichtungsanträge“ auf Anerkennung als Asylberechtigte bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus bzw. auf (unbedingte) Feststellung von Abschiebungsverboten gestellt hat (vgl. Bezugnahme in der mündlichen Verhandlung auf die schriftsätzlich am 10.08.2022 gestellten Klageanträge). Geht es – wie vorliegend – um die Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, ist die (isolierte) Anfechtungsklage die allein statthafte Klageart gegen den Bescheid des Bundesamts vom 15.07.2022. Hierauf wurde die Klägerseite auch mit gerichtlichem Schreiben vom 05.08.2022 hingewiesen. Eine Verpflichtung der Gerichte zum sog. „Durchentscheiden“ besteht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Falle der Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig gerade nicht (BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris; VG Ansbach, U.v. 21.1.2021 – AN 17 K 18.50426 – juris). Nach einer gerichtlichen Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung ist das Bundesamt nämlich automatisch zur Fortführung des Asylverfahrens verpflichtet. Dies führt zur weiteren/erneuten Prüfung des Asylantrags durch die Beklagte und damit zum erstrebten Rechtsschutzziel, denn damit wird das Verwaltungsverfahren in den Stand zurückversetzt, in dem es sich vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen befunden hat (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris VG Ansbach, U.v. 25.5.2020 – AN 17 K 18.50729 – juris).
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Weiterhin hat die Klägerin jedoch die Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung mit einem hilfsweisen Verpflichtungsbegehren auf Feststellung nationalen Abschiebungsschutzes zu verbinden, wenn sie die Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten für fehlerhaft erachtet und in Bezug auf den Abschiebezielstaat Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG sieht (BVerwG, B.v. 3.4.2017 – 1 C 9/16 – juris; Berlit, Anmerkung zum B.v. 3.4.2017 – 1 C 9/16 vom 10.7.2017, jurisPR-BVerwG, 114/2017, Anm. 1 – juris). Für eine unbedingt beantragte klageweise Verpflichtung der Beklagten auf Feststellung von Abschiebungsverboten fehlt der Klägerin hingegen das Rechtsschutzbedürfnis. Zwar ist wegen der Regelung des § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG das Bundesamt auch in den Fällen zur Entscheidung über das Bestehen von Abschiebungsverboten verpflichtet, in welchen es den Asylantrag (hier nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) für unzulässig erachtet. Aufgrund der gesetzlichen Systematik des § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG kann die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots aber nur für den Fall begehrt werden, dass der Bescheid in Ziffer 1 aufrechterhalten bleibt, also als Hilfsantrag. Denn im Falle der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung wird auch eine Feststellung, wonach Abschiebungsverbote nicht vorliegen kassiert (BVerwG, B.v. 3.4.2017 – 1 C 9/16 – juris; BVerwG, U.v. 1.6.2017- 1 C 9/17 – juris; vgl. auch VG Ansbach U.v. 6.9.2017 – AN 3 K 17.51126 – juris). Vorliegend wurde aber die Verpflichtung der Beklagten auf Feststellung von Abschiebungsverboten nicht (hilfsweise) für den Fall der erfolglosen Anfechtung der Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des Bescheides) beantragt.
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2. Soweit die Klage als Anfechtungsklage gegen Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des Bescheides) zulässig ist, hat diese keinen Erfolg. Die Unzulässigkeitsentscheidung ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihrem Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Der klägerische Asylantrag in Deutschland ist gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig.
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Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Nach Auskunft der italienischen Behörden wurde der Klägerin am 13.07.2017 in Italien Flüchtlingsschutz und damit internationaler Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zuerkannt, so dass nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG der in Deutschland gestellte Asylantrag unzulässig ist.
29
b) Die Unzulässigkeitsentscheidung ist auch nicht aufgrund der gegenwärtigen Lebensverhältnisse in Italien ausnahmsweise rechtswidrig.
30
Liegen die geschriebenen Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vor, kann eine Unzulässigkeitsentscheidung nach der Rechtsprechung des EuGHs aus Gründen des vorrangigen Unionsrechts gleichwohl ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn die Lebensverhältnisse, die die Klägerin als anerkannte Schutzberechtigte in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, diese der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540.17 – juris; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297-17 – juris; BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris; BVerwG, U.v. 21.4.2020 – 1 C 4/19 – juris). Damit ist geklärt, dass Verstöße gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK (vgl. SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris) im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Nichtfeststellung von Abschiebungsverboten bzw. einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen sind, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen.
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Ob für in Italien anerkannte schutzberechtigte Personen bei der Rückkehr eine Situation besteht, in welcher der Schutzbereich des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK in einem generell nicht mehr zumutbaren Ausmaß beeinträchtigt ist, entzieht sich einer fallübergreifenden Klärung. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BayVGH, B.v. 25.3.2020 – 21 ZB 19.32508 – juris).
32
Nach Abwägung und Würdigung aller Umstände des hiesigen Einzelfalls besteht nach Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) eine solche Situation bzw. Gefahr für die hiesige Klägerin nicht.
33
(aa) Für die Beantwortung der Frage, ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC vorliegt, geht der EuGH in den zuvor zitierten Entscheidungen von folgenden Maßstäben aus (vgl. hierzu auch: BVerwG, U.v. 17.6.2020 – 1 C 35/19 – juris; BVerwG, U.v. 21.04.2022 – 1 C 10/21 – juris; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris):
Im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gelte die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller und Schutzberechtigten in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK stehe. Dies gelte insbesondere bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU, in dem im Rahmen des mit dieser Richtlinie eingerichteten gemeinsamen Asylsystems der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck komme. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stoße, so dass ein ernsthaftes Risiko bestehe, dass Antragsteller oder Schutzberechtigte bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt würden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar sei.
Art. 4 GRC – aus Art. 3 EMRK ergebe sich gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC kein anderer Maßstab – sei dahin auszulegen, dass das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein neuer Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt wurde, in dem Fall, dass es über Angaben verfügt, die der Antragsteller vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem bereits internationalen Schutz gewährenden Mitgliedstaat nachzuweisen, verpflichtet sei, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Hierbei sei es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren.
Diese Schwachstellen fielen nur dann unter Art. 4 GRC, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle sei daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden könne. Dass etwa die Formen familiärer Solidarität, die Angehörige des internationalen Schutz gewährenden Mitgliedstaats in Anspruch nehmen, um den Mängeln des Sozialsystems dieses Mitgliedstaats zu begegnen, bei den Personen, denen in diesem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Allgemeinen fehlen, sei keine ausreichende Grundlage für die Feststellung, dass sich eine Person im Fall ihrer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Situation extremer materieller Not befände.
Unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem habe, könnten Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der RL 2011/95/EU, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 GRC führen, die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU eingeräumte Befugnis auszuüben. Der Umstand, dass Personen in dem Mitgliedstaat, der ihnen internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, könne nur dann zu der Feststellung führen, dass die Person dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 GRC verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich diese Person aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihrer persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände. Jedenfalls könne der bloße Umstand, dass in dem Mitgliedstaat, in dem der neue Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist, die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse günstiger sind als in dem bereits internationalen Schutz gewährenden Mitgliedstaat, nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die betreffende Person im Fall ihrer Überstellung in den zuletzt genannten Mitgliedstaat tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende Behandlung zu erfahren.
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(bb) Im Rahmen der vorliegend zu treffenden Prognoseentscheidung ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss insoweit eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr („a sufficiently real risk“) bestehen. Es kommt grds. nicht darauf an, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommen kann und ob dem ein anerkannt Schutzberechtigter in der Vergangenheit schon einmal ausgesetzt war. Zwar sind derartige individuelle Erfahrungen in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, ob im maßgeblichen Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung systemische Mängel im Zielland der Abschiebung vorliegen. Hierbei ist aber auch zu beachten, dass persönliche Erlebnisse Betroffener durch neuere Entwicklungen in dem betreffenden Staat überholt sein können. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK oder Art. 4 GRC zuwiderlaufenden Behandlung muss daher aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein. Erforderlich ist danach die konkrete Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die für eine Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht als die dagegensprechenden Tatsachen haben (vgl. auch OVG Koblenz, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903.18 – juris; BVerwG, U.v. 21.04.2022 – 1 C 10/21 – juris).
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(cc) Für die anzustellende Gefahrenprognose ist bei möglichst realitätsnaher Beurteilung der – wenn auch notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation bei tatsächlich gelebter Lebensgemeinschaft der Kernfamilie im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehrt.
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Vorliegend ist aufgrund der Erkenntnisse des Gerichts in der mündlichen Verhandlung am 23.03.2023 von einer tatsächlichen gelebten Kernfamilie bestehend aus der Klägerin, ihrem religiös angetrauten Ehemann und der am 24.12.2022 geborenen gemeinsamen Tochter auszugehen. Die Klägerin lebt inzwischen mit ihrer Tochter beim Kindsvater in Altenkunstadt. Der Kindsvater hat die Vaterschaft anerkennt. Es wurde die gemeinsame elterliche Sorge nach § 1626a BGB erklärt. Auch nach dem Gesamteindruck von der Klägerin und dem in der mündlichen Verhandlung ebenfalls anwesenden Ehemann geht das Gericht davon aus, dass es sich um eine gelebte Kernfamilie handelt, bei der sich die Eltern gemeinsam um das Kind kümmern und dieses gemeinsam erziehen.
37
Der Einbeziehung des Kindsvaters in die Rückkehrprognose steht auch nicht entgegen, dass dieser über einen Aufenthaltstitel in Deutschland verfügt. Es ist nämlich auch dann die gesamte gelebte Kernfamilie in die Rückkehrprognose einzubeziehen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris). Entsprechendes gilt, wenn ein Mitglied der Kernfamilie – wie hier der Kindsvater – in Deutschland kein Asylverfahren durchlaufen hat, aber anderweitig über einen Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik verfügt. Die Rechtsprechung des BVerwG zur Einbeziehung der gelebten Kernfamilie in die Rückkehrprognose ist zwar zu einem nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf das Herkunftsland des Ausländers ergangen, jedoch auf die vorliegende „Drittstaaten“-Konstellation übertragbar. Das BVerwG hat die der Gefahrenprognose zugrunde zu legende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr damit begründet, dass der grund- und konventionsrechtliche Schutz des bestehenden Kernfamilienverbandes bereits auf die Rückkehrkonstellation einwirke und auch bei bestehender Bleibeberechtigung einzelner Mitglieder eine getrennte Betrachtung einzelner Familienmitglieder für den Rückkehrfall in der Regel nicht zulasse. Bereits das Bundesamt habe das im Regelfall aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot bei der von ihm zu treffenden Prognoseentscheidung über die den einzelnen Familienmitgliedern im Herkunftsland drohenden Gefahren zu berücksichtigen. Diese Betrachtungsweise mindere zugleich Friktionen, die sich daraus ergeben könnten, dass über die Schutzanträge der einzelnen Mitglieder der Kernfamilie nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden werde. Diese Erwägungen greifen in gleicher Weise bei der Prüfung, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung wegen der ernstlichen Gefahr einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung des Antragstellers aufgrund der Lebensverhältnisse im schutzgewährenden Mitgliedstaat ausscheidet. Auch hier ist in Bezug auf den schutzgewährenden Mitgliedstaat eine Gefahrenprognose vorzunehmen, bei der die Schutzwirkungen der Art. 6 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC zu beachten sind. Dies gilt – von Missbrauchsfällen abgesehen – unabhängig davon, ob die familiäre Lebensgemeinschaft der Kernfamilie bereits im Rückkehrstaat bestanden hat oder nicht (vgl. BayVGH, B.v. 3.2.2020 – 13a ZB 19.33975 – juris; VG Bayreuth, U.v. 10.2.2021 – B 7 K 20.31318 – juris; VG Würzburg, U.v. 29.9.2022 – W 4 K 21.30332 – juris).
38
(1) Dies vorausgeschickt, droht der Klägerin in Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit infolge staatlicher Gleichgültigkeit. Die Versorgung von anerkannten Schutzberechtigten mit Wohnraum ist durch das sog. „Salvini-Gesetz“, welches seit Oktober 2018 gilt, entscheidend verbessert worden. Die sog. SPRAR-Zentren (Sistema di protezione per richiedenti asilo e refugati) wurden in SIPROIMI umbenannt und stehen seit dem 05.10.2018 nur noch Minderjährigen oder Personen mit Schutzstatus offen. Das im Dezember 2020 in Kraft getretene Gesetz 173/2020 hat die SIPROIMI-Zentren in Sistema Accoglienza Integrazione (SAI) umgewandelt. (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.06.2021, S. 5 ff).
39
Die Klägerin hat nach einer Rückkehr für sechs Monate Anspruch auf Unterkunft und Versorgung in einer Einrichtung des SAI. SAI-Projekte werden von lokalen Behörden zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben. Sie sollen Dolmetsch- und sprachlich-kulturelle Vermittlungsdienste, Rechtsberatung, Unterricht in italienischer Sprache und Zugang zu Schulen für Minderjährige, medizinische Versorgung, sozialpsychologische Unterstützung insbesondere für Vulnerable, Aus- und Weiterbildung, Unterstützung bei der Suche nach Arbeitsplätzen, Beratung bei den Dienstleistungen auf lokaler Ebene um die Integration vor Ort zu ermöglichen, Informationen zu freiwilligen Rückkehrprogrammen, sowie Informationen zu Freizeit-, Sport- und Kulturaktivitäten bieten. Stand Januar 2020 gab es 809 Einzelprojekte mit insgesamt 31.284 Plätzen (davon 4003 Plätze in 155 Projekten für unbegleitete Minderjährige und 663 Plätze in 45 Projekten für psychisch beeinträchtigte Personen). Die SAI sind kleinteilig und dezentral organisiert (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation – Italien, 11.11.2020, S. 22 f.). Am 20.04.2022 bestand SAI aus 35.898 Plätzen (28.451 „normale Plätze“, 6644 Plätze für Minderjährige und 803 Plätze für Personen mit psychischen oder physischen Beeinträchtigungen), 3470 Plätze sind für Personen aus Afghanistan und der Ukraine reserviert (vgl. SFH, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 29.04.2022, S. 9).
40
Kehren anerkannte Schutzberechtigte aus dem Ausland zurück, kommt es auf den Einzelfall an, ob der Betreffende Zugang zum SAI-System hat. Gemäß Art. 4 des Gesetzes 173/2020 besteht im Rahmen der Kapazitäten Anspruch auf Unterbringung in den SAI-Unterkünften. Ausgeschlossen sind Personen, die zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht waren (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien,10.06.2021, S. 11f.). Die Klägerin hat trotz eines zwischenzeitlichen Aufenthalts in Deutschland Anspruch auf diese Unterstützung. Sie hätte diesen Anspruch nur verloren, wenn sie bereits zuvor in einem SPRAR- oder SIPROIMI-Projekt (nun: SAI) untergebracht gewesen wären und es ohne Nachricht verlassen hätten (vgl. SFH u.a., Auskunft an das VG Berlin vom 16.12.2019, S. 1). Dies ist seitens der Klägerin nicht geltend gemacht worden und für das Gericht auch nicht anderweitig ersichtlich. Im Übrigen können Personen, die den Anspruch verloren haben, beim Innenministerium einen Antrag aufgrund von neuen Vulnerabilitäten stellen (vgl. Aida, Country Report: Italy, Update 2021, S. 215). Die Zurückerlangung bzw. die Wiederaufnahme ist für vulnerable Personen wahrscheinlicher (vgl. SFH, Auskunft an das VG Karlsruhe vom 29.04.2022, S. 7). Dies dürfte auch für die Klägerin, die nach der Rückkehrprognose u.a. mit einem in Deutschland geborenen Kleinkind, zurückkehren wird, der Fall sein. Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um sechs weitere Monate verlängert werden, beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, Update 2021, S. 215).
41
In den SAI-Zentren stehen anerkannten Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu Rechten und Pflichten, die in der Verfassung der Italienischen Republik verankert sind, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12, Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183; Update 2021, S. 215).
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Selbst wenn keine Plätze in einem SAI-Zentrum bereitstehen sollten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin Obdachlosigkeit droht. Denn neben den staatlichen Plätzen in SAI-Unterkünften bieten Kirchen Zimmer oder Wohnungen an, wobei Familien mit kleinen Kindern bessere Chancen haben, untergebracht zu werden (vgl. SFH, Auskunft an VGH Kassel v. 29.10.2020, S. 7; Aida, Country Report: Italy, 2020, S.120, Country Report: Italiy Update 2021, S. 134). Dass kirchliche Einrichtungen in Italien einer Familie mit Kleinkindern keine Hilfe leisten würden, erscheint nicht beachtlich wahrscheinlich (vgl. auch VG Bayreuth, U.v. 4.8.2022 – B 3 K 22.30194 – juris).
43
Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für anerkannte Schutzberechtigte auch die Möglichkeit eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9; AIDA, Country Report: Italy Update 2021, S. 217). Anerkannte Flüchtlinge und Schutzberechtigte haben dabei das selbe Recht auf Zugang zu sozialen Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, Update 2021, S. 217 f; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.). In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Region Friaul – Venezien, wo der Zugang zu Sozialwohnungen auf Personen beschränkt ist, die nachweislich und ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben. Darüber hinaus ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang, in Rom beispielsweise beträgt die entsprechende Wartezeit rund sieben Jahre. Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet in der Praxis, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten.
44
Sollte der Klägerin keine Anmietung einer Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt gelingen, besteht die Möglichkeit, durch staatliche Stellen und Hilfsorganisationen ihren Bedarf auf Zuteilung von Wohnraum zu erfüllen. Dass in einem solchen Fall Wohnraum bereitgestellt wird, erscheint beachtlich wahrscheinlich (vgl. SächsOVG, U.v. 14.3.2022 – 4 A 341/20.A – juris m.w.N.; VG Bayreuth, U.v. 4.8.2022 – B 3 K 22.30194 – juris).
45
Die Klägerin kann schließlich auch darauf verwiesen werden, gegebenenfalls bereits von Deutschland aus geeignete Organisationen zu treffen, um bei einer Rückkehr an geeigneten Wohnraum zu gelangen. Verfügbare Wohnungen und Unterkunftsmöglichkeiten können auf diversen frei zugänglichen Onlineplattformen – auch bereits vom Ausland aus – eruiert werden (vgl. VG Gießen, U.v. 15.9.2021 – 8 K 1520/19.GI.A – juris).
46
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Angaben besteht für anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar noch eine gewisse Gefahr der (vorübergehenden) Obdachlosigkeit (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12 f.). Es liegen jedoch keine Erkenntnismittel vor, wonach tatsächlich ein größerer Teil der anerkannten Schutzberechtigten obdachlos ist. Vielmehr ist ein im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl ein eher kleiner Teil der Migranten tatsächlich obdachlos bzw. lebt in besetzten Häusern. Nach Schätzungen der MÈDECINS SANS FRONTIÈRES (= Ärzte ohne Grenzen) gibt es in Italien ungefähr 10.000 obdachlose Menschen (MSF, „OUT of sight“ – Second edition, Stand: 8.2.2018), unter denen sich auch anerkannte Schutzberechtigte befinden. Dass anerkannt Schutzberechtigte damit regelhaft bzw. systematisch der Obdachlosigkeit anheimfallen würden, lässt sich den aktuellen Erkenntnismitteln somit gerade nicht entnehmen, selbst wenn es auch unter diesen immer wieder zu Obdachlosigkeit kommen kann (vgl. hierzu BFA, Länderinformationsblatt – Italien, Stand: 26.2.2019, S. 25 sowie zum Ganzen auch VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 – W 4 K 20.30192 – juris; VG Bayreuth, U.v. 15.3.2022 – B 7 K 20.30066 – juris).
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(2) Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr auch nicht auf sich alleine gestellt wäre. Der in die Prognose einzubeziehende Ehemann der Klägerin ist jung, gesund und erwerbsfähig. Er hat selbst schon in Italien gelebt und macht derzeit eine Ausbildung als Elektrotechniker. Damit stehen auch diesem – nicht nur im Niedriglohnsektor – Erwerbsmöglichkeiten in Italien offen, während die Klägerin sich vorwiegend um die Kinderbetreuung kümmern kann. Die Klägerin selbst ist ebenfalls jung, gesund und erwerbsfähig. Sie beherrscht die italienische Sprache nach eigenen Angaben zu 50% und hat bereits damals in Italien als Bedienung in einem Restaurant gearbeitet. Es ist nicht ersichtlich, dass daran – trotz Kinderbetreuung – nicht in gewissem zeitlichen Umfang angeknüpft werden könnte.
48
Schutzberechtige haben nämlich vollen Zugang zum Arbeitsmarkt und können für eine Übergangszeit auch auf staatliche Leistungen zurückgreifen. Der italienische Staat stellt somit sicher, dass anerkannte Schutzberechtigte in einer Übergangszeit nicht in eine existenzielle Notsituation geraten. Besondere Bedeutung für die Integration von anerkannten Flüchtlingen bzw. subsidiär Schutzberechtigten in den Arbeitsmarkt kommt dabei den örtlichen Arbeitsämtern sowie den SAI-Zentren zu. Anerkannte Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer entsprechenden Registrierung über Stellenangebote informiert (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10). Anerkannte Schutzberechtigte haben somit rein rechtlich den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie italienische Staatsangehörige. Die Situation für Arbeitssuchende stellt sich in Italien aufgrund der hohen Arbeitslosenzahl generell als schwierig dar. Allerdings erweist sich der italienische Arbeitsmarkt auf regionaler Ebene als sehr heterogen, mit stark industrialisierten Regionen im Norden und solchen im Süden, in denen Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Tourismus überwiegen. Die Erwerbsmöglichkeiten und Arbeitslosenquoten schwanken damit auch regional stark. Nicht selten finden Schutzberechtigte nur Arbeit auf dem „informellen Arbeitsmarkt“, wo sie häufig ausgebeutet werden (vgl. hierzu etwa SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Die Arbeitsmarksituation in Italien mag als angespannt bezeichnet werden. Die Arbeitslosenquote sinkt jedoch seit dem Jahr 2014 (12,78%) im Grunde stetig und lag im Jahr 2021 bei 9,54%. Es wird ein weites Sinken prognostiziert (vgl. https://de.statista.comArbeitslosenquote: Italien 1980 bis 2021 und Prognose bis 2027). Zwischen 2020 und 2024 sind dem italienischen Wirtschaftssystem über 2,5 Mio. der gegenwärtig Beschäftigten zu ersetzen (vgl. auch OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 – 7 A 11038.18 – juris). Insbesondere im Handwerk und im Hotel- und Gaststättengewerbe fehlt es an Arbeitskräften. So fehlten im Hotel- und Gaststättengewerbe zuletzt 50.000 Arbeitskräfte (vgl. hierzu etwa VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 – W 4 K 20.30192 – juris mit Verweis auf Reuters, Harder to attract staff than visitors at Italy`s tourist hotspots, 29.6.2021; Südtirol-News, Handwerk in Südtirol: Zwischen Tradition und Digitalisierung, 8.4.2021).
49
Auch wenn es der Klägerin bzw. dem Ehemann zunächst nur gelingen sollte, im Bereich der Schattenwirtschaft eine Tätigkeit zu finden, so ist dies im Hinblick auf die in Italien weit verbreite übliche Schwarzarbeit auch zuzumuten, um die Existenzsicherung für die kleine Familie zu erreichen (vgl. BVerwG, B.v.17.1.2022 – 1 B 66/21 – juris).
50
Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Eltern und die beiden jüngeren Brüder der Klägerin – mit denen die Klägerin von Italien aus nach Deutschland eingereist ist – ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtig nach Italien sind. Gleiches gilt für die Schwester der Klägerin und deren Familie. Daher spricht vieles dafür, dass die Großfamilie, die bereits in Italien über mehrere Jahre zusammen im selben Ort gelebt hat und die sich auch hier in Deutschland gegenseitig unterstützt, zusammen nach Italien abgeschoben wird, sodass auch insoweit wieder eine gegenseitige Unterstützung und Hilfeleistung möglich erscheint. Selbst wenn man nur von der Rückführung der klägerischen Kernfamilie ausgeht, könnte diese jedenfalls finanziell in gewissen Maßen von der Verwandtschaft aus Deutschland unterstützt werden.
51
Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Klägerin selbst angibt einigermaßen gut italienisch zu sprechen, was die Integrationsbemühungen sowie die Wohnungs- und Arbeitssuche erleichtert. Zudem lebt gegenwärtig noch ein Teil der Familie ihres Schwagers im besagten Ort in Italien. Insoweit gab die Klägerin in der mündlichen Verhandlung an, auch seinerzeit in Italien zur Familie ihres Schwagers Kontakt gehabt zu haben, sodass jedenfalls in der Anfangszeit auch insoweit mit einer gewissen Unterstützung von Bekannten in Italien zu rechnen ist.
52
Nicht unbeachtet bleiben darf ferner, dass es der klägerischen Familie in Italien über längere Zeit möglich gewesen ist, die monatliche Miete von 500,00 EUR zu bezahlen. Der Klägerin und ihren Familienangehörigen war es ohne weiteres möglich, in Italien entsprechende Erwerbsmöglichkeiten zu finden, dass diese nicht unerhebliche Summe alleine für die Miete aufgebracht werden konnte. Hinzukommt, dass nach der Anerkennung auch die sonstigen Lebenshaltungskosten von der klägerischen Familie geschultert werden konnten.
53
Soweit – wider erwarten – die Grundbedürfnisse nicht mit eigenen Mitteln oder aus eigener Anstrengung erwirtschaftet werden können, ist darauf hinzuweisen, dass anerkannt Schutzberechtigte in Italien italienischen Staatsbürgern gleichgestellt sind und erforderlichenfalls staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können, um jedenfalls ihre Grundbedürfnisse zu decken. Gelingt dies nicht sogleich bzw. vollständig, können sie – wie auch Italiener, die arbeitslos sind – die Hilfe caritativer Organisationen erhalten. Das italienische System geht für anerkannte international Schutzberechtigte davon aus, dass sie ab Gewährung des Schutzstatus arbeiten und für sich selbst sorgen.
54
(3) Anerkannte Schutzberechtigte haben in Italien zwar keinen Anspruch auf staatliche Sozialhilfe, die mit der in Deutschland gewährten Sozialhilfe vergleichbar wäre. Einen solchen Anspruch haben aber auch italienische Staatsangehörige nicht. Der Umfang der Sozialleistungen ist in Italien – wie auch in vielen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union – deutlich geringer als in Deutschland. Das italienische Sozialsystem ist insgesamt sehr schwach ausgebildet, weil es traditionell auf eine Unterstützung durch Familienstrukturen aufgebaut war. Seit März 2019 gibt es eine Art Grundeinkommen, ein sog. Bürgergeld. Voraussetzung für dessen Bezug ist jedoch, dass man mindestens die letzten zehn Jahre in Italien gewohnt hat, sodass anerkannt Schutzberechtigte diese Voraussetzungen in aller Regel nicht erfüllen (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Italien, 11.11.2020, S. 24). Weiterhin gibt es in Italien einzelne, in den Zuständigkeitsbereich der Regionen oder Kommunen fallende Fürsorgeleistungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, des Empfängerkreises und der Leistungshöhe jedoch stark variieren (Raphaelswerk, 6/2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11 f.). So ist auch dem Gericht aus weiteren Verfahren bekannt, dass die Fürsorgeleistungen in einigen Kommunen deutlich höher sind als in anderen.
55
Zum März 2022 wurde jedoch das „assegno unico“ (Kindergeld) eingeführt. Dieses wird auf Antrag ab Geburt eines Kindes bis zum 18. Lebensjahr monatlich gezahlt. Die Höhe richtet sich nach dem Familieneinkommen und der Anzahl der Kinder und kann bis zu 175 EUR im Monat betragen (vgl. SächsOVG, U.v.14.3.2022 – 4 A 341/20.A – juris). Es ist insoweit nicht erkennbar, dass Italien unionsrechtliche Vorgaben missachtet und Familien mit Kindern, denen der internationale Schutz zuerkannt wurde abweichend zu italienischen Staatsbürgern behandelt bzw. es diesen nicht ermöglichen würde unter würdigen Bedingungen zu leben. Den Klägern kann abverlangt werden, wie sie es schließlich auch in Deutschland tun, sich hinsichtlich der regional gegebenen sozialen Hilfeleistungen zu erkundigen und diese gegebenenfalls durchzusetzen. Es liegen damit keine Anhaltspunkte vor, dass Familien mit minderjährigen Kindern in einer signifikanten Anzahl von Fällen unter unwürdigen Bedingungen leben müssen, da ihnen staatliche Leistungen versagt wurden (vgl. SächsOVG, U.v.14.3.2022 – 4 A 341/20.A – juris).
56
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird im Übrigen auf die Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes zu den in Italien gewährten Sozialleistungen (z.B. Familienbeihilfe und Elternbeihilfe) verwiesen.
57
(4) Hinsichtlich der medizinischen Versorgung haben Anerkannte in Italien die gleichen Rechte und Pflichten wie italienische Staatsbürger, sobald sie beim nationalen Gesundheitsdienst registriert sind (vgl. zum Ganzen auch: VG Bayreuth, U.v. 15.3.2022 – B 7 K 20.30066 – juris; VG Bayreuth, U.v. 4.8.2022 – B 3 K 22.30194 – juris). Die Registrierung gilt für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung und erlischt auch nicht in der Verlängerungsphase. Für die Registrierung ist dabei eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder ein Nachweis, dass die Verlängerung bzw. Ausstellung angefordert wurde, ein Wohnnachweis oder bei Nichtvorhandensein eine Erklärung zum aktuellen Wohnort sowie eine Steuernummer notwendig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 11). Zwar bestehen für anerkannte Flüchtlinge ohne Aufenthaltsbewilligung und Wohnsitzmeldung Probleme beim Erhalt der Gesundheitskarte, welche umfassende medizinische Leistungen wie kostenlose Arztbesuche und kostenlose Aufenthalte in Krankenhäusern gewährleistet. Im Falle der Zuweisung in eine Zweitaufnahmeeinrichtung bestünde jedoch ein Wohnsitz, so dass die Beantragung der Gesundheitskarte möglich wäre. Im Falle einer Nichtzuweisung könnten zunächst die Adressen von Hilfsorganisationen angegeben werden, welche jedoch nicht von allen Behörden akzeptiert werden. Es gibt jedoch verschiedene Organisationen, welche beim Zugang zur medizinischen Versorgung behilflich sind. Nach der neueren Rechtslage ist die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst auch bereits auf Basis des sog. „domicilio“ garantiert, der üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 20). Unabhängig davon besteht auch für anerkannte Schutzberechtigte bis zur Registrierung im Gesundheitssystem ein Zugang zu medizinischen Basisleistungen und insbesondere zu einer medizinischen Notfallversorgung in öffentlichen Krankenhäusern (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 19 u. S. 20). Im Übrigen gab die Klägerin in der mündlichen Verhandlung an, sie und ihre Familienangehörigen seien in Italien – auch nach der Flüchtlingsanerkennung – auch beim Arzt gewesen, dessen Kosten der Staat übernommen habe. Für das Gericht ist daher nicht ersichtlich, dass der Klägerin eine grundlegende medizinische Versorgung in Italien nicht offenstehen würde.
58
(5) Weitere besondere einzelfallbezogene Umstände, aufgrund derer eine mit dem Unionsrecht unvereinbare Behandlung der Klägerin in Italien zu erwarten ist, sind nicht gegeben. Die Klägerin hat vielmehr im Hinblick auf den Rückhalt der Großfamilie, ihrer Arbeitsfähigkeit und der ihres Ehemannes, der noch in Italien lebenden (weitläufigen) Verwandtschaft, ihres langen Voraufenthaltes in Italien, der Sprachkenntnisse und den Arbeitserfahrungen in Italien besondere Vorteile, die ihr im Falle einer Rückkehr die erneute Integration vereinfachen wird, zumal keine triftigen Gründe für die Sekundärmigration nach Deutschland vorgelegen haben. Die Klägerin erklärte dem Gericht insoweit, ihre Familie habe sich entschlossen, nach Deutschland zu gehen, da die Zukunft für ihre Brüder (Berufs- und Bildungschancen) in Deutschland schlecht gewesen sei. Daher sei sie mit nach Deutschland gegangen.
59
3. Selbst, wenn man zugunsten der Klägerin davon ausgeht, dass das Begehren auf (hilfsweiser) Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen, in prozessual zulässigerweise zum Klagegegenstand gemacht wurde (s.o.), hat die Klägerin jedenfalls in der Sache keinen Anspruch auf Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG.
60
a) Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG liegen nicht vor. Hiernach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Der rechtliche Maßstab für eine Verletzung des hier allein in Betracht kommenden Art. 3 EMRK ist im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG identisch mit dem oben unter 2. dargelegten Maßstab (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris; BVerwG, U.v. 21.04.2022 – 1 C 10/21 – juris; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382.18 – juris). Wie oben dargelegt, droht der Klägerin jedoch bei einer Rückkehr nach Italien keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.
61
b) Ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls nicht festzustellen. Individuelle Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, insbesondere lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich alsbald nach der Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG), sind nicht ersichtlich.
62
c) Soweit die Klagebegründung auf die familiäre Situation der Klägerin, insbesondere auf deren Ehe, den Aufenthaltstitel ihres Ehemannes in Deutschland und das inzwischen geborene Kind abstellt, handelt es sich nicht zum zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote, sondern (allenfalls) um innerstaatliche Vollstreckungshindernisse aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK, die nicht Gegenstand des hiesigen Bescheids und des hiesigen Klageverfahrens, sondern von der Ausländerbehörde bei einer eventuellen Abschiebung zu berücksichtigen sind (vgl. auch VG Bayreuth, U.v. 22.11.2022 – B 3 K 21.30154).
63
4. Die nach Maßgabe des § 35 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 des Bescheides) ist nicht zu beanstanden. Wie bereits unter 3. ausgeführt, stehen auch ggf. einschlägige innerstaatliche Vollstreckungshindernisse der Rechtmäßigkeit des Erlasses einer Abschiebungsandrohung nach § 35 AsylG durch das Bundesamt nicht entgegen. Die gesetzte Ausreisefrist von einer Woche entspricht der Regelung in § 36 Abs. 1 AsylG.
64
5. Die Klage hat hingegen Erfolg, soweit die Beklagte unter Ziffer 4 des Bescheides ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf 30 Monate ab den Tag der Abschiebung befristet hat. Die Regelung unter Ziffer 4 des Bescheides ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
65
Da es sich insoweit um einen einheitlichen Verwaltungsakt handelt und nicht zwischen dem Einreise- und Aufenthaltsverbot selbst und seiner Befristung unterschieden werden kann, ist die Regelung mit der Anfechtungsklage anzugreifen (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 22. 8.2019 – A 19 K 1718/17 – juris; BVerwG, U.v.7.9.2021 – 1 C 47/20 – juris).
66
Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen Fassung (vgl. § 83c i.V.m. § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 2 AufenthG soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Abschiebungsandrohung unter der aufschiebenden Bedingung der Abschiebung und spätestens mit der Abschiebung erlassen werden. Gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Über die Länge der Frist wird nach Ermessen entschieden (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Die Bemessung der Frist erfolgt grundsätzlich im Rahmen eines zweistufigen Prüfprogramms, nach dem in einem ersten Schritt aus dem Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, folgende öffentliche Interesse an der zur Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Fernhalteinteresse zu bestimmen und sodann die so bestimmte Höchstfrist in einem zweiten Schritt an verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben nach Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK zu messen ist. Soweit ein Sachverhalt keine Besonderheiten aufweist, kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot ermessensfehlerfrei auf die Dauer von 30 Monaten befristet werden. Da es auch insoweit auf die Sachlage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt, ist das Bundesamt gehalten, seine Ermessenserwägungen auch nach der Entscheidung unter Kontrolle zu halten und im Falle einer wesentlichen Änderung der Sachlage bis zur gerichtlichen Entscheidung seine Ermessenserwägungen entweder zu ergänzen (§ 114 Satz 2 VwGO) oder die verfügte Frist gegebenenfalls zu korrigieren (vgl. VG Bayreuth, U.v. 22.11.2022 – B 3 K 21.30154).
67
Gemessen hieran ist die Annahme des Bundesamtes, es würden keine Angehörigen der Kernfamilie existieren, die sich dauerhaft legal im Bundesgebiet aufhalten dürften, nicht (mehr) haltbar. Denn die Klägerin hat im August 2021 ihren Ehemann, der über einen Aufenthaltstitel verfügt, geheiratet. Die Klägerin lebt inzwischen bei ihrem Ehemann und erzieht zusammen mit diesem die Ende 2022 geborene gemeinsame Tochter. Diese schutzwürdigen familiären Belange hat die Beklagte nicht in ihrer Entscheidung berücksichtigt Die Annahme des Bundesamtes, es seien keine schutzwürdigen Belange für eine vom Standardfall abweichende Entscheidung vorhanden, ist daher zum jetzigen Zeitpunkt verfehlt und die Ermessensentscheidung im Sinne von § 114 VwGO defizitär.
68
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.