Titel:
Erfolglose Klage gegen ausländerrechtliche Ausweisung bei gewerbsmäßigem Handeln mit Betäubungsmitteln
Normenketten:
AufenthG § 11, § 53, § 55
VwGO § 117 Abs. 3, Abs. 5
Leitsatz:
Das gewerbsmäßige Handeltreiben des Klägers mit Betäubungsmitteln ist geeignet, ohne ausländerrechtliche Reaktion mit vergleichbaren Delikten von anderen Ausländerinnen und Ausländern nachgeahmt zu werden. Ob beim Kläger selbst zum Entscheidungszeitpunkt (noch) eine konkrete Wiederholungsgefahr vorliegt, ist weder für die Beurteilung des Bestands noch die der Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses von Belang. Denn dabei ist nicht das (zu erwartende) Verhalten des Klägers selbst maßgeblich, sondern allein dessen Aufenthalt im Bundesgebiet und die davon ausgehende, auf andere Ausländerinnen und Ausländer verhaltenslenkende Wirkung. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Generalpräventive Ausweisung, Unerlaubte Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige, generalpräventive Ausweisung, unerlaubte Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9307
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet
Tatbestand
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Der Kläger begehrt Rechtsschutz hinsichtlich einer ausländerrechtlichen Ausweisungsentscheidung des Landratsamts … (Landratsamt).
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Nach eigenen Angaben ist der 26-jährige Kläger nigerianischer Staatsangehöriger und wurde in … …, Nigeria geboren. Er verließ sein Heimatland erstmals im Juli 2014 und reiste über Libyen und Italien auf dem Landweg im Juli 2015 in das Bundesgebiet ein. Er wurde mit Bescheid der Regierung von Oberbayern (Regierung) vom 5. August 2015 dem Landratsamt … zugewiesen.
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Sein Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom ... abgelehnt und es wurde festgestellt, dass nationale zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Eine dagegen erhobene Klage wurde abgewiesen. Nach Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung am 3. April 2020 ist die Entscheidung rechtskräftig und der Kläger vollziehbar ausreisepflichtig.
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Seither verfügt der Kläger über Duldungen aufgrund fehlender Passpapiere. Er wurde durch das Landratsamt mehrmals zur Mitwirkung an der Passbeschaffung angehalten.
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Während seines Aufenthalts arbeitete der Kläger nach entsprechender Gestattung der Erwerbstätigkeit vom ... bis ... in Teilzeit bei einer Reinigungsfirma in … als Raumpfleger. Zwei weitere Anträge auf Verlängerung bzw. Gestattung der Erwerbsfähigkeit wurden abgelehnt, die auf den dritten Antrag folgende Gestattung der Erwerbstätigkeit vom ... wurde im Hinblick auf die bereits am 3* … … eingetretene und vom Bundesamt am ... mitgeteilte vollziehbare Ausreisepflicht wegen eines Erwerbstätigkeitsverbots hinfällig. Der Kläger bezog bis zuletzt Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
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Strafrechtlich wurde der Kläger mit Urteil des Amtsgerichts … vom 25. September 2019 (Az. 1 Ls 503 Js 13801/19), nach Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft rechtskräftig seit 9. Juli 2020, wegen gewerbsmäßiger, unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in 4 tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit gewerbsmäßigem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 37 tatmehrheitlichen Fällen schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt. Die Vollstreckung der Strafe wurde für 3 Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Dem Urteil liegt zugrunde, dass der Kläger vorsätzlich an jeweils nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten im Gesamtzeitraum zwischen Juni 2018 und April 2019 mindestens 1g Marihuana mindestens zweimal an einen zum Tatzeitpunkt höchstens 15-Jährigen, mindestens 1g Marihuana mindestens zweimal an einen zum Tatzeitpunkt 16-Jährigen sowie mindestens 35-mal im Durchschnitt 1g Marihuana und mindestens zweimal mindestens 1g Marihuana an zwei Volljährige verkaufte, übergab und dadurch Gewinn erzielte, wobei der Kläger die Absicht hatte, sich durch die wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu schaffen. Weitere 129 Fälle konnten dem Kläger in dubio pro reo nicht nachgewiesen werden. Bei der Strafzumessung wurde zugunsten des Klägers angenommen, dass er zu den Tatzeitpunkten noch nicht wesentlich älter als 21 Jahre gewesen sei, sehr geringe Mengen einer weichen Droge an Minderjährige abgegeben worden seien, ein vorheriger Kontakt der Minderjährigen mit Betäubungsmitteln nicht auszuschließen sei, der Kläger ein Teilgeständnis abgelegt habe, er nicht vorbestraft sei und von einer schlechten Betäubungsmittelqualität auszugehen sei. Straferschwerend sei insbesondere die wiederholte Begehungsweise. Tat- und schuldangemessen seien somit Einzelfreiheitsstrafen von jeweils 1 Jahr und 6 Monaten für die Abgabe an Minderjährige und jeweils 1 Jahr und 2 Monate für die übrigen Fälle. Hinsichtlich der Bewährungsaussetzung sei die Sozialprognose des teilgeständigen und nicht vorbestraften Angeklagten günstig. Vor dem Hintergrund der erlittenen Untersuchungshaft lägen die Bewährungsaussetzung rechtfertigende besondere Umstände vor.
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Zur Anhörung vom ... bzw. ... zu einer vom Landratsamt beabsichtigten Ausweisung äußerte sich der Kläger nicht.
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Mit Bescheid des Landratsamts vom 18. August 2021 wurde der Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. 1). Ihm wurde eine Ausreisefrist von 30 Tagen ab Unanfechtbarkeit der Entscheidung gesetzt und es wurde die Abschiebung nach Nigeria oder einen anderen Staat, in der der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 4 Jahre ab dem Tag der Ausreise befristet (Nr. 3). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Ausweisung aus Gründen der Generalprävention ergehe; im Hinblick auf die Bewährungsaussetzung, einen nicht bekannten Bewährungswiderruf und mangels Bekanntwerden weiterer Straftaten werde beim Kläger sicherheitsrechtlich keine konkrete Wiederholungsgefahr gesehen. Das abgeurteilte Drogendelikt sei aber besonders schwerwiegend. Aus der Wertung des § 54 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG ergebe sich ein Generalpräventionsinteresse. Die Tat sei keine Beziehungs- oder Affekttat gewesen, sondern rational gesteuert und vorsätzlich. Bei der Generalprävention sei die Bewährungsaussetzung unbeachtlich. Die Tat sei mangels Tilgung nach § 46 BZRG auch noch aktuell. Bei einer Abwägung ergäben sich keine Bleibeinteressen gegenüber einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse. Im Übrigen seien die Aufenthaltsdauer des Klägers, das negative Asylverfahren, die Auswirkungen der Straftat auf Volksgesundheit, Jugendgefährdung und Abhängigkeitsförderung, die ungeklärte Identität des Klägers ohne Mitwirkung an einer Passbeschaffung, die sich nur daraus ergebende Duldung, die Erwerbsuntätigkeit, der Bezug von Asylbewerberleistungen und die fehlende familiäre Bindung zu berücksichtigen. Mit Nigeria sei der Kläger vertraut. Er habe sich nicht rechtstreu verhalten und die Ausweisung sei zur Prävention einer Nachahmung erforderlich. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei ermessensgerecht, insbesondere seien schutzwürdige Belange nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK nicht ersichtlich.
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Dagegen wurde am 9. September 2021 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben. Zur Begründung wird ein Verstoß gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geltend gemacht.
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Der Bescheid vom 18. August 2021 wird aufgehoben.
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Der Beklagte beantragt
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Zur Begründung nimmt die Beklagte Bezug auf den Bescheid.
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Im laufenden Verfahren hat die Regierung das Verfahren übernommen. Das Landratsamt ist von ihr zur Vertretung in der mündlichen Verhandlung bevollmächtigt worden.
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Die Kammer hat am 20. April 2023 mündlich zur Sache verhandelt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, die Behördenakten und auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid ist rechtmäßig und nicht rechtsverletzend (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Ausweisungsverfügung in Nr. 1 des Bescheides erweist sich als rechtmäßig.
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Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisungsentscheidung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr, vgl. etwa BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 11 m.w.N.).
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Im Fall des Klägers liegt jedenfalls aus generalpräventiven Gründen eine noch im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor (vgl. a.) und bei einer Abwägung überwiegt das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Antragstellers (vgl. b.).
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a. Eine Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG kann (alleine) auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Vom maßgeblichen weiteren „Aufenthalt“ eines Ausländers, der eine Straftat begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17). Dabei bedarf es keiner Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wie etwa Drogendelikten oder Delikten im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder Terrorismus. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten, im Einzelfall so etwa bei Falschangaben zur Erlangung der Duldung, einer Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde, Falschangaben im Visumsverfahren, Verletzung der Passpflicht oder Körperverletzung. Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 33 m.w.N.). Angeknüpft werden kann dabei nur an ein Ausweisungsinteresse, das zum Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung noch aktuell ist. Dabei ist für die gefahrabwehrrechtliche Beurteilung eines eintretenden Bedeutungsverlustes eines strafrechtlich relevanten Handelns die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB eine untere Grenze, die absolute Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine obere Grenze. In diesem Zeitrahmen ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses an generalpräventiven Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG eine absolute Obergrenze für die Annahme eines noch bestehenden generalpräventiven Ausweisungsinteresses (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 22 f.; U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 18 f.).
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Daran gemessen besteht im konkreten Falle des Klägers ein aktuelles generalpräventives Ausweisungsinteresse. Das Gericht sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und folgt den nicht zu beanstandenden generalpräventiven Erwägungen auf S. 8 f. des Bescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO). Lediglich ergänzend ist auszuführen: Das gewerbsmäßige Handeltreiben des Klägers mit Betäubungsmitteln ist geeignet, ohne ausländerrechtliche Reaktion mit vergleichbaren Delikten von anderen Ausländerinnen und Ausländern nachgeahmt zu werden. Zum Zeitraum der Tatbegehung war der Kläger erwerbslos. Die Taten des Klägers sind nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet, bei einem Unterbleiben der Ausweisung als ausländerrechtliche Reaktion andere Ausländerinnen und Ausländer in vergleichbaren Situationen ohne Erwerbsgestattung dazu zu verleiten, die Betäubungsmitteldelikte nachahmen, um sich dadurch ebenfalls eine illegale laufende Einnahmequelle zu verschaffen.
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Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist auch zum Entscheidungszeitpunkt noch aktuell. Der Kläger hat durch das gewerbsmäßige Handeltreiben mit einer unerlaubten Abgabe von Betäubungsmitteln als über 21 Jahre alte Person an Minderjährige tatbestandlich § 30 Abs. 1 Nr. 1 StGB verwirklicht, der eine Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren vorsieht. Gem. § 38 Abs. 1 und 2 StGB beträgt die Strafandrohung im Höchstmaß somit 15 Jahre Freiheitsstrafe. Gem. § 78 Abs. 4 StGB bleibt für die Verjährung eine Strafmilderung – hier strafgerichtlich angenommen nach § 30 Abs. 2 StGB – außer Betracht. Die für das sicherheitsrechtliche generalpräventive Interesse als Orientierung dienende einfache Verjährungsfrist beträgt somit gem. § 78 Abs. 3 Nr. 2 StGB 20 Jahre, die – selbst bei klägergünstiger Annahme einer Beendigung der Tat bereits im Jahr 2018 – noch nicht abgelaufen ist. Mangels Erreichen der Untergrenze bedarf es nach der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht einmal einer Ermittlung eines Fortbestehens des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen. Auch die 15-jährige Tilgungsfrist nach §§ 46 Abs. 1 Nr. 4, 47 Abs. 1, 36 Satz 1 BZRG als Obergrenze für abgeurteilte Straftaten ist noch nicht erreicht.
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Ob beim Kläger selbst zum Entscheidungszeitpunkt (noch) eine konkrete Wiederholungsgefahr vorliegt, ist weder für die Beurteilung des Bestands noch die der Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses von Belang. Denn dabei ist nicht das (zu erwartende) Verhalten des Klägers selbst maßgeblich, sondern allein dessen Aufenthalt im Bundesgebiet und die davon ausgehende, auf andere Ausländerinnen und Ausländer verhaltenslenkende Wirkung (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 20).
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b. Die von § 53 Abs. 1 AufenthG geforderte Abwägung der Interessen an der Ausweisung mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers in Deutschland erfolgt auf der Tatbestandsseite einer gebundenen Ausweisungsentscheidung und ist damit gerichtlich voll überprüfbar. Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch die weiteren Ausweisungsvorschriften mehrfache Konkretisierungen. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber in den §§ 54, 55 AufenthG von vornherein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen sind weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23 f.; U.v. 25.7.2017 – 1 C 12.16 – juris Rn. 15). Bei der Abwägung sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nicht als abschließend zu verstehen (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 25).
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An der umfangreichen Abwägung im Bescheid gibt es Nichts zu erinnern. Relevante Umstände, die nicht berücksichtigt worden oder neu eingetreten sind und zum Zeitpunkt der Entscheidung ein anderes Ergebnis rechtfertigen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Nach der Klarstellung des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung verfügt der Kläger über keine familiären Bindungen im Bundesgebiet. Ein Verstoß gegen Art. 6 GG, Art. 8 EMRK kommt somit nicht in Betracht. Beachtliche wirtschaftliche oder sonstige Bindungen ans Bundesgebiet bestehen nicht. Nach der – unbestrittenen – beklagtenseitigen Einlassung in der mündlichen Verhandlung ergibt sich der weitere Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik alleine aus der anhaltenden Nichtmitwirkung an der Passbeschaffung. Das Gericht verkennt zwar nicht, dass die Bewährungszeit des Klägers inzwischen weit fortgeschritten ist und nach wie vor weder ein Bewährungswiderruf noch weitere Straftaten bekannt geworden sind. Allein dadurch wird jedoch die Straffälligkeit nach Schwere und Anzahl der Einzeltaten noch nicht aufgewogen, insbesondere da auch die Bewährungszeit noch nicht endgültig abgelaufen ist. Auch eine Berücksichtigung von konkreter Art und Schwere der Anlasstat führen in der Abwägung nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit. Denn insbesondere stellt jede der abgeurteilten Einzeltaten gem. § 12 Abs. 1 und 3 StGB i.V.m. §§ 30 Abs. 1, 29 Abs. 3 StGB ein Verbrechen dar, hinsichtlich der Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige bei gewerbsmäßigem Handel im Regelfall mit nochmals erhöhter Strafandrohung. Im Übrigen ergibt sich auch aufgrund der Vielzahl dieser Einzeltaten keine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisungsentscheidung.
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2. Die Abschiebungsandrohung in Nr. 2 des Bescheides ist rechtlich nicht zu beanstanden. Auch wenn dem Kläger bereits im Bescheid des Bundesamts eine Ausreisefrist gesetzt und ihm die Abschiebung angedroht wurde, ist die Ausländerbehörde nicht an der Setzung einer neuen Ausreisefrist mit erneuter Androhung der Abschiebung gehindert. Jedenfalls ist der Kläger durch eine erneute Ausreisefrist nicht in seinen Rechten verletzt.
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3. Auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Bescheid gem. § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist rechtlich nicht zu beanstanden. Nr. 3 des Bescheides ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass mit der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auch der Erlass einhergeht (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72). Ermessensfehler hinsichtlich der Befristung sind weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
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II. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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III. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit sowie zur Abwendungsbefugnis folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.