Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 15.03.2023 – M 22 K 21.31096
Titel:

 Erfolglose Klage auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 71 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
VwVfG § 51 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
VwGO § 94
Leitsätze:
1. Die nationale Fristgebundenheit von 3 Monaten bei Folgeanträgen ist nach aktueller Rechtsprechung des EuGH mit den unionsrechtlichen Vorgaben der RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) nicht vereinbar und bleibt infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts daher unangewendet (vgl. Dickten in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 1.1.2022, § 71 AsylG Rn. 7, 12). (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine veränderte Sachlage ist im Hinblick auf Asylverfahren nur zu bejahen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse, die Lebensbedingungen im Heimatstaat oder die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Veränderungen der Rechtsprechung führen eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei, denn rechtsprechende Tätigkeit ist aufgrund des rechtsstaatlichen Verfassungsgefüges grundsätzlich nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv und allgemeingültig zu verändern. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylverfahren, Herkunftsland: Arabische, Republik Syrien, Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus, Folgeantrag mit dem Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Unzulässigkeitsentscheidung, Änderung der Sach- und Rechtslage (verneint), EuGH-Rechtsprechung, keine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des VG Sigmaringen (23.3.2022, A 4 K 855/21), Asylfolgeverfahren, Syrien, Wiederaufgreifen, Sachlagenänderung, Rechtslagenänderung, Kriegsdienstverweigerung, Vorlageentscheidung, Verfahrensaussetzung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9304

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.  Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens beanspruchen kann.
2
Der am .. 1991 in … (Syrien) geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Eigenen Angaben zufolge reiste er am ... 2015 auf dem Landweg in Deutschland ein und stellte am ... 2016 Asylantrag. In der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger unter anderem an, Wehrdienst von 2010 bis 2012 geleistet und Syrien 2013 wegen der Kriegshandlungen verlassen zu haben.
3
Mit seit dem ...2016 bestandskräftigem Bescheid vom ... 2016 erkannte das Bundesamt den Kläger als subsidiär Schutzberechtigten an (Tenor Nr. 1) und lehnte dessen Asylantrag im Übrigen ab (Tenor Nr. 2).
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Am ... 2021 stellte der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom ... 2021 einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). Diesen begründete er im Wesentlichen damit, dass sich aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. November 2020 (C-238/19) die Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) geändert habe. Danach müsse die notwendige Kausalität zwischen der drohenden Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund nicht bewiesen werden; vielmehr bestehe eine gesetzliche Vermutung zugunsten des Klägers. Die Verweigerung des Wehrdienstes sei Ausdruck politischer Überzeugung. Der Kläger sei bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am ... 2016 nur unzureichend über die Verweigerung des Militärdienstes befragt worden.
5
Mit Bescheid vom ... 2021 (als Einschreiben am ... 2021 zur Post gegeben), lehnte das Bundesamt mangels Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG den Folgeantrag als unzulässig ab.
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Hiergegen ließ der Kläger am ... 2021 Klage zum Verwaltungsgericht München erheben. Er beantragt (sinngemäß), den Bescheid des Bundesamts vom ... 2021 aufzuheben, hilfsweise unter Aufhebung des Bescheides die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
7
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, der Kläger habe erst jetzt erfahren, dass die Gründe für eine Kriegsdienstverweigerung von erheblicher Bedeutung sein könnten.
8
Die Beklagte legte am 18. Mai 2021 die Akte des Verfahrens vor. Sie beantragt,
die Klage abzuweisen.
9
Mit Beschluss vom ... 2023 wurde die Verwaltungsstreitsache zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen.
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Mit Schreiben vom ... 2023 wurden die Beteiligten zum Erlass eines Gerichtsbescheids angehört.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

12
Das Gericht entscheidet nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
14
Die gegen die Ablehnung der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Unzulässigkeitsentscheidung gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 Asylgesetz – AsylG) gerichtete Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO statthaft (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Rn. 16) und auch im Übrigen zulässig.
15
Die Klage hat in der Sache dennoch keinen Erfolg, da sich der angefochtene Bescheid vom ... 2021 im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) als rechtmäßig erweist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
16
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst vollumfänglich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG), der das Gericht folgt.
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Lediglich ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
18
1. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 AsylG ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn im Falle eines Folgeantrags im Sinne des § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist. Von einem solchen Folgeantrag ist auszugehen, wenn ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Antrags erneut einen Asylantrag stellt. Ein Folgeantrag stellt allerdings kein außerordentliches Rechtsmittel dar, mit dem jederzeit eine vermeintlich unrichtige Sachentscheidung im Erstverfahren korrigiert werden kann (vgl. NdsOVG, B.v. 10.8.1988 – 21 B 423/88 – NVwZ-RR 1989, 276; BayVGH, B.v. 15.4.2021 – 19 CE 15.1300 – juris Rn. 21). Ein Wiederaufgreifen des Verfahrens setzt grundsätzlich voraus, dass die Voraussetzungen in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen.
19
1.1. Gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG muss sich entweder die Sach- oder Rechtslage nachträglich – nach Abschluss des früheren Asylverfahrens – zu Gunsten des Betroffenen geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel müssen vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeigeführt haben würden (Nr. 2), oder es bedarf Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO Nr. 3). Die Geeignetheit dieser Umstände für eine dem Antragsteller günstigere Entscheidung ist dabei schlüssig darzulegen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 14). Es genügt nicht, dass der Wiederaufgreifensgrund lediglich behauptet wird, vielmehr muss durch den weiteren Vortrag die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (bzw. Anerkennung als Asylberechtigter) deutlich wahrscheinlicher geworden sein.
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1.2. Ferner ist ein Folgeantrag gemäß § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Von einem groben Verschulden ist dann auszugehen, wenn dem Betroffenen das Bestehen des Wiederaufnahmegrundes bekannt war oder doch hätte bekannt sein müssen und er es entgegen seinen Mitwirkungspflichten nach § 15 und § 25 AsylG unterlassen hat, diese Umstände in das Verfahren einzuführen.
21
1.3. Unerheblich ist hingegen, ob der Kläger – wie in § 51 Abs. 3 VwVfG gefordert – seinen Folgeantrag innerhalb von drei Monaten ab Kenntnis des Grundes für die Durchführung eines neuen Asylverfahrens gestellt hat. Nach aktueller Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die nationale Fristgebundenheit bei Folgeanträgen mit den unionsrechtlichen Vorgaben der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes vom 26. Juni 2013 (Asylverfahrensrichtlinie) nicht vereinbar; § 51 Abs. 3 VwVfG bleibt infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts daher unangewendet (EuGH, U.v. 9.9.2021 – XY; C-18/20 – juris; vgl. zum Ganzen: Dickten in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 1.1.2022, § 71 AsylG Rn. 7, 12).
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2. Dies zugrunde gelegt ist festzustellen, dass die Ablehnung des Asylfolgeantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden ist, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nach § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG i.V.m. § 51 VwVfG nicht gegeben sind.
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2.1. Dabei ist zunächst klarstellend darauf hinzuweisen, dass die erneute Asylantragstellung mit dem Begehren, darüber hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu erhalten, bei der hier gegebenen Konstellation – Zuerkennung subsidiären Schutzes und (unanfechtbare) Ablehnung eines Asylerstantrags im Übrigen – als (asylverfahrensrelevanter) Folgeantrag gemäß des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG einzustufen ist (vgl. Dickten in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 1.1.2022, § 71 AsylG Rn. 7, 12).
24
2.2. Ein Wiederaufgreifensgrund liegt mangels Änderung der Rechts- und/oder Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG allerdings nicht vor.
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a) Der Kläger kann sich nicht auf eine nachträglich zu seinen Gunsten veränderte Sachlage berufen.
26
Eine veränderte Sachlage ist im Hinblick auf Asylverfahren nur zu bejahen, wenn sich entweder die allgemeinen politischen Verhältnisse, die Lebensbedingungen im Heimatstaat oder die das persönliche Schicksal des Asylbewerbers bestimmenden Umstände so verändert haben, dass eine für den Asylbewerber günstigere Entscheidung möglich erscheint (vgl. Dickten in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 1.1.2022, § 71 AsylG Rn. 18). Eine qualitativ neue Bewertung muss angezeigt und möglich sein (VG Berlin, U.v. 22.6.2021 – 12 K 112/21 A – juris Rn. 18; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 71 AsylG Rn. 24). Dabei genügt die pauschale Behauptung einer Änderung der Sachlage nicht, vielmehr bedarf es eines schlüssigen Vortrags, aus dem sich eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zum Sachverhalt im früheren Asylverfahrens tatsächlich ergibt. Dies erfordert wiederum eine substantiierte Darlegung entsprechender Tatsachen (vgl. BVerwG, U.v. 25.6.1991 – 9 C 33.90 – juris Rn. 13). Schließlich muss die Änderung der Sachlage für den im früheren Asylverfahren ergangenen Verwaltungsakt entscheidungserhebliche Voraussetzungen betreffen, so dass diese Änderung im Asylfolgeverfahren eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder zumindest ermöglicht (vgl. BVerwG, U.v. 10.10.2018 – 1 C 26.17 – juris Rn. 18 m.w.N.).
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Daran gemessen ist hier keine relevante Änderung der Sachlage festzustellen (vgl. Anhörungsprotokoll im Erstverfahren). Aus den aktuellen, dem erkennenden Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln ergibt sich im Vergleich zum Zeitpunkt des unanfechtbaren Abschlusses des Asylerstverfahrens im Jahr 2016 keine erhebliche Änderung der Gegebenheiten in Syrien, die sich – im Hinblick auf das Asylbegehren – zugunsten des Klägers auswirken könnten. Aus den aktuell zur Verfügung stehenden Berichten geht vielmehr hervor, dass einfache Wehrdienstverweigerer (auch Reservisten) in der Regel die Verhängung der gesetzlich vorgesehenen oder einer anderen Form der Bestrafung nicht mehr zu befürchten haben (vgl. dazu etwa VG Trier, U.v. 20.4.2021 – 1 K 3528/20.TR – juris Rn. 56 ff. m.w.N.).
28
Eine Änderung der Sachlage ist auch nicht im Hinblick auf die vom Kläger angegebene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 19.11 2020 – C-238/19) zu sehen. Diese beinhaltet lediglich eine Auslegung unionsrechtlicher Normen – der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Qualifikationsrichtlinie) – im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Zwar ist dies grundsätzlich geeignet, die rechtliche Würdigung eines Sachverhalts zu beeinflussen; eine Veränderung der tatsächlichen Umstände geht damit indes nicht einher (vgl. OVG NW, U.v. 12.4.2021 – 14 A 818/19.A – juris Rn. 48 ff.).
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b) Ebenso wenig ist von einer Änderung der Rechtslage auszugehen.
30
Eine Rechtslageänderung, die das Wiederaufgreifen des Verfahrens rechtfertigt, liegt vor, wenn sich das einschlägige materielle Recht, dem eine allgemeinverbindliche Außenwirkung zukommt, nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (vgl. BVerwG, U.v. 27.1.1994 – 2 C 12.92 – juris). Die für den bestandskräftigen Bescheid aus dem früheren Asylverfahren maßgeblichen Rechtsnormen (d.h. dessen entscheidungserhebliche Rechtsgrundlage) müssten einer nachträglichen Änderung unterworfen gewesen sein (vgl. BVerwG, U.v. 13.8.2020 – 1 C 23.19 – juris), die nunmehr eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder zumindest ermöglicht (vgl. BVerwG, U.v. 10.10.2018 – 1 C 26.17 – juris Rn. 18 m.w.N.)
31
Eine solche Änderung des materiellen Rechts vermag die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) – entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten des Klägers – weder abstrakt noch im konkreten Einzelfall zu begründen. Jedenfalls führt diese aber nicht zu einer möglicherweise günstigeren Entscheidung für den Kläger.
32
Veränderungen der Rechtsprechung führen eine Änderung der Rechtslage grundsätzlich nicht herbei. Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungsfindung ist und bleibt ausschließlich die rechtliche Würdigung des Sachverhalts am Maßstab der vorgegebenen Rechtsordnung. Rechtsprechende Tätigkeit ist aufgrund des rechtsstaatlichen Verfassungsgefüges grundsätzlich nicht geeignet oder darauf angelegt, die Rechtsordnung konstitutiv und allgemeingültig zu verändern (vgl. BVerwG, B.v. 12.11.2020 – 2 B 1.20 – juris Rn. 8 m.w.N.). Dies gilt auch im Allgemeinen für Änderungen einer höchstrichterlichen Entscheidungspraxis (vgl. BVerwG, U.v. 20.11.2018 – 1 C 23.17 – juris Rn. 17; u.U. anders im Falle von mit Bindungswirkung nach § 31 Abs. 2 BVerfGG ausgestatteten Entscheidung des BVerfG, vgl. dazu von Ungern-Sternberg in BeckOK BVerfGG, Stand: 1.6.2022, § 31 BVerfGG Rn. 45 ff.) sowie für Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 25 m.w.N.), dessen Rechtsprechung in Vorabentscheidungsverfahren nach dem eigenen Selbstverständnis nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur ist (EuGH, U.v. 12.2.2008 – Kempter, C-2/06 – juris Rn. 35; BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 26.08 – juris Rn. 16; zum Ganzen vgl. Schoch in Schoch/Schneider, VwVfG, Stand: August 2021, § 51 VwVfG Rn. 63 m.w.N.).
33
Ob eine andere Bewertung – wie vom Bevollmächtigten des Klägers vertreten – zumindest hinsichtlich der EuGH-Rechtsprechung im Bereich des Asylrechts zu erwägen wäre, kann hier dahinstehen.
34
Vorliegend ist bereits zweifelhaft, ob sich aus der bereits erwähnten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 19.11.2020 – C-238/19) überhaupt eine konkrete Änderung im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ergibt. Die deutschen Verwaltungsgerichte haben weit überwiegend ihre bisherige Rechtsprechung zu der Frage, ob Wehrdienstverweigerern ohne Sonderrisikofaktoren eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung in Syrien droht, weiterhin beibehalten (vgl. etwa NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 408/20 – juris Rn. 45 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung; OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A – juris Rn. 104 ff. m.w.N.; abweichende Rspr. des OVG Berlin-Bbg wurde aufgehoben, vgl. BVerwG, U.v. 19.1.23 – 1 C 1.22 u.a. – juris).
35
Darüber hinaus ist anzumerken, dass der Kläger in seinem Asylerstverfahren angegeben hat, Wehrdienst von 2010 bis 2012 bereits geleistet zu haben. Dass er überhaupt befürchtet hätte, (erneut) als Reservist eingezogen zu werden, erklärte er hingegen nicht. Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er zu weiteren Ausführungen ohne grobes Verschulden außerstande gewesen wäre.
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Aber selbst wenn man das Urteil des Europäischen Gerichtshofs als Änderung der Rechtslage ansehen würde, wäre jedenfalls die Möglichkeit der günstigeren Entscheidung im hier maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht gegeben. Bei Berücksichtigung der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestehenden Pflicht zu einer tagesaktuellen Erfassung und Bewertung der entscheidungsrelevanten Tatsachengrundlage (vgl. BVerfG, B.v. 27.3.2017 – 2 BvR 681/17 – juris; BVerfG, B.v. 25.4.2018 – 2 BvR 2435/17 – juris; BVerfG, einstw. Anordnung v. 9.2.2021 – 2 BvQ 8/21 – juris) muss auf Grundlage jüngster Erkenntnismittel, insbesondere den Berichten des UNHCR (International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic – Update VI, März 2021) und des European Asylum Support Office (Syria – Military Service, April 2021), davon ausgegangen werden, dass einfachen Wehrdienstverweigerern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes droht. Auch fehlt es ausweislich dieser jüngsten Erkenntnisse an einer erkennbaren Verknüpfung einer Strafverfolgung oder Bestrafung wegen der Wehrdienstverweigerung mit einem Verfolgungsgrund, so dass die vom Europäischen Gerichtshof aufgestellte „starke Vermutung“ jedenfalls für die hier in Frage stehenden syrischen Wehrdienstverweigerer ohne Sonderrisikofaktoren als widerlegt zu gelten hat (vgl. OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A – juris; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 408/20 – juris; so jüngst auch BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 21 ZB 22.30764). Daran ändern auch die jüngsten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Januar 2023 (1 C 1.22 u.a. – juris) nichts.
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Nach alledem ist die Frage, ob das vorliegende Verfahren im Hinblick auf den Vorlagebeschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 23. März 2022 (A 4 K 855/21 – juris) entsprechend § 94 VwGO auszusetzen wäre (vgl. dazu VG Bremen, U.v. 23.6.2022 – 5 K 630/21 – juris Rn. 17 f.; Peters/Schwarzburg, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 94 Rn. 15 f.), wie vom Bevollmächtigten des Klägers beantragt, nicht entscheidungserheblich.
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2.3. Sonstige Gründe für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens liegen ebenfalls nicht vor. Der Kläger hat kein „neues Beweismittel“ im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vorgelegt, das geeignet wäre, eine für ihn günstigere Entscheidung herbeizuführen (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.1982 – 8 C 75/80 – juris). Auch bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Wiederaufgreifensgrundes nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG i.V.m. § 580 ZPO.
39
3. Dem Kläger steht schließlich auch kein Anspruch auf ein Wiederaufgreifen seines Verfahrens nach §§ 48, 49 VwVfG (i.V.m. § 51 Abs. 5 VwVfG) zu, da § 71 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG lediglich auf § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG verweist; § 51 Abs. 5 VwVfG ist ausdrücklich ausgenommen.
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4. Die Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).