Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 05.04.2023 – W 1 K 23.30107
Titel:

keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes (Afghanistan)

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4
Leitsätze:
1. Derzeit kann generell nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von einer Verfolgung (aller) ehemaligen Regierungsmitarbeiter, Sicherheitskräfte und Mitarbeiter der internationalen Truppen uä Personen ausgegangen werden; das Ausmaß der Gefahr, Opfer von Übergriffen und Vergeltungsmaßnahmen zu werden, kann allerdings mit dem ausgeübten Beruf bzw. der spezifischen Tätigkeit oder Position der betroffenen Person steigen. (Rn. 42 – 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar gibt die Sicherheitslage für die Volksgruppe der Hazara Anlass zur Besorgnis; gleichwohl erreichen Benachteiligungen und gewaltsame Übergriffe nicht die dafür erforderliche Verfolgungsintensität und -dichte, sodass sich – jedenfalls derzeit – kein Hinweis auf eine Gruppenverfolgung ableiten lässt.  (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Afghanistan, Aufstockungsklage, ehemaliger einfacher Polizist/Soldat, Klage im hiesigen Einzelfall nicht erfolgreich, da Tätigkeit bereits 2019 freiwillig aufgegeben, bis zur Ausreise nach Machtübernahme durch die Taliban keinerlei Verfolgungsmaßnahmen gegenüber dem Kläger sowe bis heute keine Nachsuche o.ä. bei der in Afghanistan verbliebenen Familie, Hazara, keine Gruppenverfolgung mangels Verfolgungsdichte, keine beachtliche Verfolgungsgefahr nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland, Verwestlichung, hier nicht gegeben, Taliban, Vorverfolgung, Gefälligkeitsbescheinigung, verfahrensangepasste Dokumente, Gruppenverfolgung, Islamischer Staat in der Provinz Khorasan (ISKP)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9233

Tenor

I.  Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Der Kläger wurde eigenen Angaben zufolge am … in der Provinz … geboren. Er sei afghanischer Staatsangehöriger schiitischer Glaubenszugehörigkeit und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe sein Heimatland am 13.09.2021 verlassen und sei am 19.06.2022 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, wo er am 23.08.2022 einen Asylantrag gestellt hat.
2
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 06.12.2022 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er im Heimatland die Schule für 7 Jahre besucht habe. Er habe keinen Beruf erlernt und sei dann von 2012-2019 Polizist in … gewesen. Er sei in einer Unterstützungseinheit gewesen; wo es Unruhen zwischen Regierung und Taliban gegeben habe, seien sie einbestellt worden; es sei eine Mischung aus Soldat und Polizist gewesen. Er habe keine Sterne auf seiner Schulterklappe gehabt. 2018 habe er seine Familie in eine andere Provinz geschickt. 2019 habe er seinen Job aufgegeben, da ihn seine Familie dazu gedrängt habe; der Job sei gefährlich gewesen/geworden. Er habe dann in der Folge Autos ge- und verkauft. Er habe auch einen Lebensmittelladen eröffnet. In Afghanistan lebten in der Provinz … noch seine Ehefrau und 4 Kinder, seine Mutter, 2 Brüder, 3 Schwestern, ein Onkel, ein Schwager sowie weitere entfernte Verwandte. Zu seinen Fluchtgründen gab der Kläger an, dass er sein Heimatland aus Sicherheitsgründen verlassen habe, da er für die Regierung tätig gewesen und dadurch gefährdet gewesen sei. Ein Teil seiner Bekannten sei den Taliban beigetreten, wodurch diese wüssten, wer zu der früheren Regierung gehört habe. Deshalb habe sein Onkel auch während des Aufenthalts des Klägers in der Türkei, etwa um das Neujahrsfest im Jahre 2022 herum, von den Taliban ein Schreiben in die Hand gedrückt bekommen, wonach er, falls er Gewehre habe, diese abgeben müsse. Der Kläger hat überdies Fotos übergeben, welche ihn bei seiner früheren Tätigkeit zeigten. Zwei Freunde von ihm hätten auch einen Brief erhalten und sich ein Gewehr besorgt, um es abzugeben. Obwohl man ihnen gesagt habe, es werde ihnen nichts passieren, seien sie dann umgebracht worden. Darüber hinaus sei er als Volkszugehöriger der Hazara einer besonderen Gefahr ausgesetzt; sie seien eine Minderheit. Im Jahr 2010 sei er von seinem Wohnzu seinem Geburtsort unterwegs gewesen, als sie von den Taliban angehalten worden seien. Ihm sei als Kind nichts passiert, andere Menschen seien jedoch geköpft worden. Vor der Ausreise sei ihm nichts Besonderes passiert. Aus Sicherheitsgründen sei er dann jedoch ausgereist; sie seien als Hazara ein Dorn im Auge der Taliban. Seine Familie sei ebenfalls in Gefahr. Die kritische Lage bestehe seit 2010. Bedingt dadurch, dass die Taliban ihnen das Grundstück weggenommen hätten, seien sie mit diesen immer im Kampf gewesen. Sobald diese einen von ihnen erwischten, brächten sie ihn um; wenn sie umgekehrt einen von den Taliban erwischten, sei es dasselbe. Wenn er erwischt werde, werde er daher verprügelt und wahrscheinlich umgebracht. Politisch aktiv sei er über seine Tätigkeit als Polizist hinaus nicht gewesen, Verwandte ebenso nicht. Im Rückkehrfalle befürchte er die Obdachlosigkeit seiner Familie; er habe die Rolle des ältesten Sohnes und die Vaterrolle inne.
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Mit Bescheid des Bundesamtes vom 24.01.2023 wurde die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Ziffer 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt, (Ziffer 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 3) sowie festgestellt, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt (Ziffer 4). Zur Begründung wurde u.a. vorgetragen, dass der Kläger unverfolgt ausgereist sei. Es bestehe auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Rückkehrfalle. Er habe im Jahre 2019 selbst entschieden, seine Arbeit als Polizist zu beenden. Er sei nur ein einfacher Soldat gewesen. Auch die Tatsache, dass er nach Aufforderung der Taliban kein Gewehr abgegeben habe, sei folgenlos geblieben. Es müsse davon ausgegangen werden, dass diese über die Information verfügen, dass er persönlich seit längerem die Arbeit als Polizist beendet habe. Somit sei kein weiterer Grund für eine Verfolgung ersichtlich. Zudem sei er nicht politisch aktiv gewesen und seine Familie könne weiterhin in Afghanistan leben. Aus der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und zur Religionsgemeinschaft der Schiiten folge nicht die Gefahr einer landesweiten Gruppenverfolgung; es fehle an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheides Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
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Der Kläger hat gegen diesen Bescheid am 13.02.2023 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben lassen und zu Begründung auf sein Vorbringen bei der Bundesamtsanhörung verwiesen.
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Der Kläger ließ zuletzt beantragen,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung der Ziffern 1 und 3 des Bescheides des Bundesamtes vom 24.01.2022 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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Desweiteren wurde beantragt,
dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der beauftragten Kanzlei zu gewähren.
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Ein/e Vertreter/in der Beklagten hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
8
Mit Beschluss des Gerichts vom 23.02.2023 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zu Entscheidung übertragen, § 76 Abs. 1 AsylG.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die trotz Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO) ist zulässig, jedoch nicht begründet. Denn der Kläger hat keinen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzes nach § 3 bzw. § 4 AsylG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 24.01.2023 ist vielmehr rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Eingangs ist anzumerken, dass der Bescheid vom 24.01.2023 hinsichtlich Ziffer 3 nicht bestandskräftig geworden ist, sondern auch diesbezüglich rechtzeitig Klage erhoben worden ist. Die Klägerbevollmächtigte hat zwar zunächst in ihrem Klageschriftsatz vom 13.02.2023 neben der Aufhebung der Ziffer 1 nur die Aufhebung der Ziffer 2 geltend gemacht, darüber hinaus jedoch den hilfsweisen Verpflichtungsantrag gestellt, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und auch in der Begründung diesbezügliche Ausführungen gemacht. Daraus erschließt sich, dass es sich bei der Erwähnung der Ziffer 2 anstatt der Ziffer 3 um ein offensichtliches Schreibversehen gehandelt hat und der Klageantrag entsprechend auszulegen ist, § 88 VwGO.
12
Der Einzelrichter nimmt zunächst auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vom 24.01.2023 Bezug und macht sich diese zu eigen, § 77 Abs. 2 AsylG. Darüber hinaus ist Folgendes auszuführen:
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
14
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2817) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der RL 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.
15
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung der vorstehend beschriebenen Art liegt vor, wenn dem Antragsteller politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50% Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben allerdings die Gesamtumstände des Einzelfalls die „tatsächliche Gefahr“ („real risk“) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände zudem auch immer die Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung mit einstellen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (vgl. zu alledem BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17; EuGH-Vorlage vom 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 37).
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Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Für Vorverfolgte gilt innerhalb des auch insoweit anzuwenden Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Beweiserleichterung. Denn nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. In diesen Fällen streitet also die tatsächliche Vermutung dafür, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 22 ff.).
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Auch in Asylstreitigkeiten muss sich das Gericht die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotene Überzeugungsgewissheit verschaffen. Dies bedeutet, dass es die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur der Wahrscheinlichkeit – des behaupteten individuellen Schicksals erlangen muss. Hinsichtlich der Anforderungen an den Klägervortrag muss insoweit unterschieden werden zwischen den in den allgemeinen Verhältnissen des Herkunftslands liegenden Umständen und den in die Sphäre des Schutzsuchenden fallenden Ereignissen. Im Hinblick auf Erstere ist es bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine Verfolgungsprognose zu treffen. Bezüglich bereits erlittener Verfolgung im Herkunftsstaat obliegt es demgegenüber dem Antragsteller diese in schlüssiger Form vorzutragen. Hierzu gehört, dass er zu seinen persönlichen Erlebnissen im Verfolgerland unter Angabe genauer Einzelheiten eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Angesichts der insoweit typischerweise bestehenden Beweisnot im Asylverfahren kommt in diesem Zusammenhang der Würdigung des persönlichen Vorbringens des Antragstellers eine gesteigerte Bedeutung zu. So kann allein der Tatsachenvortrag des Schutzsuchenden zur Anerkennung führen, wenn sein Vorbringen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ ist, dass sich das Gericht von der Wahrheit überzeugen kann. Andererseits kann es der richterlichen Überzeugungsbildung von der Wahrheit des Vortrags entgegenstehen, wenn das Vorbringen erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten enthält, die nicht überzeugend aufgelöst werden oder der Schutzsuchende sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, ohne nachvollziehbar erklären zu können, aus welchen Gründen er maßgebliche Umstände nicht bereits früher erwähnt hat (vgl. zu alledem BVerwG, U.v. 25.6.1991 – 9 C 131/90 – juris Rn. 9; B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/08 – juris Rn. 3; U.v. 8.2.1989 – 9 C 29.87 – juris Rn. 9; U.v. 23.2.1988 – 9 C 273/86 – juris Rn. 11).
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Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat der Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
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a) Der Kläger ist zunächst nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist, sodass ihm nicht die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der EU-Anerkennungsrichtlinie (2011/95/EU) zugutekommt. Der Kläger hat vielmehr im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt explizit erklärt, dass ihm vor seiner Ausreise nichts Besonderes passiert sei. Soweit er darauf Bezug genommen hat, dass er im Jahre 2010 mit anderen Personen unterwegs von den Taliban angehalten worden sei und hierbei Menschen geköpft worden seien, so ergibt sich auch hieraus keine relevante Vorverfolgung, da der Kläger ausdrücklich erklärt hat, dass ihm seinerzeit selbst nichts widerfahren sei. Darüber hinaus mangelt es auch an dem erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis im Jahre 2010 und der Ausreise im Jahre 2021, selbst wenn man die pauschal vorgetragene seinerzeitige Begebenheit als wahr unterstellen würde (vgl. dazu unten). Denn ein Zeitraum von rund 11 Jahren zwischen dem geschilderten Ereignis und der Ausreise aus Afghanistan, ohne dass es zwischenzeitlich erneut zu einer solchen Verfolgung gekommen ist, ist nicht geeignet, die erforderliche Kausalität zwischen dem geschilderten angeblichen Verfolgungsvorfall und dem Verlassen des Heimatlandes zu vermitteln (vgl. etwa: BVerwG, U.v. 31.3.1992 – 9 C 34/90 – juris).
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Eine Vorverfolgung ergibt sich auch nicht aus dem lapidaren Hinweis, dass bereits seit 2010 eine kritische Lage mit den Taliban bestehe, nachdem diese ihnen ein Grundstück weggenommen hätten, weshalb sie immer mit diesen im Kampf gewesen seien. Dieser Vortrag ist zum einen in hohem Maße pauschal und oberflächlich geblieben, sodass sich das Gericht nicht vom tatsächlichen Bestehen einer gewaltträchtigen Grundstücksstreitigkeit überzeugen konnte; das Vorbringen erscheint insoweit vielmehr asyltaktisch und nicht glaubhaft, zumal wenn man bedenkt, dass der Kläger eine 13 Jahre schwelende Streitigkeit mit den Taliban glauben machen will, letztlich jedoch keinerlei konkrete Verfolgungsgeschehnisse oder sonstigen Vorgänge aus diesem langen Zeitraum zu berichten in der Lage war. Auch wäre es nach der Wegnahme eines Grundstücks der Familie durch die Taliban – selbst wenn man dies als wahr unterstellen würde – wiederum an der Familie des Klägers, Kompensation hierfür zu suchen oder Rache zu üben, was diese und insbesondere der Kläger als ältester Sohn der Familie selbst in der Hand hat.
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b) Unabhängig von einer fehlenden Vorverfolgung droht dem Kläger auch im Falle seiner jetzigen Rückkehr nach Afghanistan nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung gemäß § 3 AsylG.
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Das Gericht legt seiner Bewertung dabei folgenden Sachverhalt zugrunde:
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Der erkennende Einzelrichter geht davon aus, dass der Kläger der Volksgruppe der Hazara zugehörig ist und von 2012-2019 als einfacher Polizist/ Soldat in einer Unterstützungseinheit in der Provinz … tätig war. Er hat seine Tätigkeit im Jahre 2019 dann auf Drängen seiner Familie aufgegeben und war bis zu seiner Ausreise am 13.09.2021 in der Provinz … als Autoverkäufer und Lebensmittelhändler tätig. Dies ergibt sich aus dem – diesbezüglich – glaubhaften Vortrag des Klägers beim Bundesamt sowie der zu der genannten Tätigkeit vorgelegten Lichtbilder. Überdies hat auch das Bundesamt diese Tätigkeit des Klägers als solche nicht infrage gestellt.
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Hingegen hält es der erkennende Einzelrichter für nicht glaubhaft, dass gegenüber dem Kläger nach seiner Ausreise aus Afghanistan ein (seinem Onkel ausgehändigtes) Schreiben der Taliban ergangen ist, in dem der Kläger aufgefordert wird, im Polizeipräsidium zu erscheinen und dort verschiedene Waffen abzugeben. Denn insoweit hat der Kläger beim Bundesamt geäußert, dass er diesen Aufforderungsbrief erhalten habe, als er in der Türkei gewesen sei, es sei ungefähr um das Nawruz-Fest herum gewesen (20./21.03.2022). Nach seiner Entlassung aus dem dortigen Camp sei er telefonisch von seiner Mutter bezüglich des Schreibens informiert worden. Aus dem vorgelegten Schriftstück hingegen ergibt sich das Ausstellungsdatum „20.07.2022“, was mit dem vom Kläger genannten Zeitpunkt nicht in Einklang zu bringen ist, zumal sich der Kläger bereits seit dem 19.06.2022 in Deutschland aufgehalten hat. Überdies hat der Kläger beim Bundesamt geäußert, dass er gemäß dem genannten Schreiben Gewehre abgeben müsse, falls er solche habe. In dem vorgelegten Schriftstück hingegen wird eine solche Bedingung nicht genannt, sondern dass der Kläger eine Rakete, ein PK, 5 Kalaschnikow, ein Funkgerät und 20 Magazine mitbringen solle, was von seinen Erklärungen beim Bundesamt ersichtlich ebenfalls abweicht. Zusätzlich erscheint nicht plausibel nachvollziehbar, aus welchem Grunde ein ehemaliger einfacher Polizist mehrere Maschinengewehre und zusätzlich eine Rakete bei den Taliban abgeben soll. Gestützt wird diese Einschätzung des Gerichts auch dadurch, dass Gefälligkeitsbescheinigungen ebenso wie verfahrensangepasste Dokumente in Afghanistan sehr häufig vorkommen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16.07.2020, S. 26). Dass sich dies in jüngster Zeit geändert hätte, ist nicht ersichtlich. Nur ergänzend sei angemerkt, dass dem vorgelegten Schreiben vom 20.07.2022 auch keine konkrete Bedrohung gegenüber dem Kläger im Falle des Nichterscheinens zu entnehmen ist. Hiermit in Einklang steht sodann auch, dass der Kläger im Rahmen seines Vorbringens nichts dazu erwähnt hat, dass die Taliban wegen des Nichterscheinens des Klägers auf der Suche nach diesem an dessen Familienmitglieder oder Verwandte herangetreten wären oder diese gar stellvertretend für den Kläger Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt hätten. Insoweit wäre selbst bei Wahrunterstellung des Ergehens eines solchen Schreibens durch die Taliban nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen gegenüber dem Kläger auszugehen, zumal den Taliban – wenn sie sich denn über den Kläger erkundigt hätten – bekannt wäre, dass dieser seine frühere Tätigkeit als Polizist bereits seit längerer Zeit beendet hat und er aufgrund dessen in seinem Besitz befindliche Waffen – bereits bei lebensnaher Betrachtung – bei Beendigung der Tätigkeit an die entsprechenden staatlichen Stellen übergeben hat.
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Die zuvor dargelegte verfahrensangepasste Vorlage des vorgeblichen Schreibens der Taliban vom 20.07.2022 führt in der Folge auch dazu, dass der vom Kläger in innerem Zusammenhang mit dem erwähnten Schreiben geschilderte Vorgang, wonach 2 Freunde ebenfalls einen solchen Brief bekommen hätten, sich daraufhin ein Gewehr besorgt, es bei den Taliban abgegeben und gleichwohl von diesen umgebracht worden seien, ebenfalls nicht glaubhaft erscheint, zumal dieses Vorbringen ohne zeitliche und anderweitige konkrete Einordnung geblieben ist, sodass es dem Kläger auch aufgrund seiner sehr pauschal gebliebenen Darstellung nicht geglaubt werden kann.
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Schließlich hat sich das Gericht auch nicht davon überzeugen können, dass zwischen dem Kläger bzw. dessen Familie und den Taliban ein aktuell bestehender gewaltträchtiger Grundstücksstreit besteht; auf die diesbezüglichen obigen Ausführungen wird insoweit verwiesen.
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Den obigen glaubhaften Sachverhalt zugrunde gelegt ist nach Überzeugung des Gerichts nicht davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner früheren Tätigkeit als Polizist oder aufgrund seiner Volkszugehörigkeit als Hazara im Rückkehrfalle mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG seitens der zwischenzeitlich an die Macht gekommenen Taliban ausgesetzt wäre.
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Aus der Erkenntnismittellage ergibt sich zusammengefasst folgendes Bild mit Blick auf den Umgang der Taliban mit ehemaligen Regierungsmitarbeitern und Angehörigen der ehemaligen Sicherheitskräfte (vgl. insoweit etwa auch: VG Cottbus, U.v. 21.06.2022 – 8 K 1526/16.A – juris):
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In den Wochen vor ihrer Machtübernahme intensivierten die Taliban gezielte Tötungen von wichtigen Regierungsvertretern, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, 4.5.2022, S. 18).
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Bereits im August 2021 berichtete auch Human Rights Watch, dass die vorrückenden Taliban in den Großstädten und entlang der wichtigsten Verkehrsrouten Rachemorde verübten, bei denen u.a. ehemalige Regierungsbeamte in das Visier genommen worden seien. Inhaftierte Soldaten, Polizisten und Zivilisten mit angeblichen Verbindungen zur afghanischen Armee seien summarisch hingerichtet worden (ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 13.6.2022, Kap. 2).
31
Nach Übernahme der Kontrolle in Kabul im August 2021 erklärten die Taliban sodann zwar in ihrer ersten Pressekonferenz, dass sie „alle, die gegen uns gekämpft haben“, begnadigt hätten. Ungeachtet dieser von den Medien als „Generalamnestie“ bezeichneten Erklärung gab es in den darauffolgenden Wochen und Monaten indes zahlreiche Berichte, wonach dies nicht der Realität entspricht:
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So berichten verschiedene Quellen von Vergeltungsmaßnahmen von Taliban-Mitgliedern insbesondere gegenüber ehemaligen Mitgliedern des afghanischen Militärs sowie gegen Beamte der ehemaligen Regierung und der Justiz. Bereits kurz nach der Machtübernahme gab bspw. eine Quelle an, dass die Taliban Afghanen auf einer „schwarzen Liste“ führten und Personen in das Visier nähmen, die im Verdacht stünden, mit der früheren Regierung oder den US-Streitkräften in Verbindung zu stehen. Personen in (ehemals) zentralen Positionen bei Militär, Polizei und Ermittlungsbehörden seien insoweit besonders gefährdet (EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, January 2022, S. 46; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, 4.5.2022, S. 27).
33
Nach der Eroberung Kabuls sollen Taliban-Kämpfer zudem im gesamten Stadtgebiet Kontrollpunkte errichtet und Patrouillen vorgenommen haben. Ausweislich verschiedener Berichte sollen sie von Haus zu Haus gegangen seien, um nach Regierungsmitarbeitern, Waffen und Eigentum zu suchen und Letzteres teilweise zu beschlagnahmen. Auch Angehörige von Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung sollen dabei bedroht worden sein (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, 4.5.2022, S. 27; UK Home-Office, Afghanistan, Fear of the Taliban, 19.4.2022, Kap. 6.1.4, S. 31).
34
Human Rights Watch veröffentlichte im November 2021 einen Bericht, der die summarische Hinrichtung oder das gewaltsame Verschwindenlassen von 47 ehemaligen Angehörigen der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte dokumentiert. Dabei waren Militärangehörige, Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter und paramilitärische Milizen in vier Provinzen betroffen, die sich zwischen dem 15. August 2021 und dem 31. Oktober 2021 den Taliban ergeben hatten oder von ihnen aufgegriffen wurden (UK Home Office, Afghanistan, Fear of the Taliban, 19.4.2022, Kap. 6.1.7, S. 31). Dem Bericht zufolge führten die Taliban auch Durchsuchungsaktionen durch, um verdächtige ehemalige Beamte festzunehmen und zuweilen gewaltsam verschwinden zu lassen. Bei den Durchsuchungen würden auch Familienmitglieder bedroht und misshandelt, um sie dazu zu bringen, den Aufenthaltsort von Untergetauchten preiszugeben. Einige der schließlich aufgegriffenen Personen seien hingerichtet oder in Gewahrsam genommen worden (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, 4.5.2022, S. 30).
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Auch andere Quellen berichten von Hinrichtungen von Zivilisten sowie ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Personen, die vor kurzem Anti-Taliban-Milizen beigetreten waren. In vielen Städten sollen die Taliban nach diesen Berichten – mithilfe von Informationen und Listen – insbesondere nach ehemaligen Mitgliedern der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANDSF), Beamten der früheren Regierung oder deren Familienangehörigen suchen, sie bedrohen und manchmal festnehmen. Manche würden später freigelassen, andere getötet (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, 4.5.2022, S. 19; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 12).
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Angesichts der vorstehend skizzierten Erkenntnismittellage zeigten sich bereits Ende des Jahres 2021 sowohl der UNHCR als auch die Parlamentarische Versammlung des Europarates besorgt im Hinblick auf das Risiko von Menschenrechtsverletzungen für Personen, bei denen angenommen wird, dass sie derzeit oder in der Vergangenheit mit der früheren afghanischen Regierung, internationalen Organisationen oder den internationalen Streitkräften in Verbindung standen (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 13.6.2022, Kap. 1 und Kap. 2.1).
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Im Januar 2022 berichtete die UN-Mission in Afghanistan, Angaben zu mehr als 100 Tötungen von ehemaligen Regierungsmitarbeitern, Sicherheitskräften und Mitarbeitern der internationalen Truppen oder deren Familienangehörigen erhalten zu haben, wovon zwei Drittel außergerichtliche Tötungen seien, die den Taliban bzw. den de facto-Behörden ihrer Interimsregierung zuzurechnen seien (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 13.6.2022, Kap. 1 und Kap. 2.2; UK Home Office, Afghanistan, Fear of the Taliban, 19.4.2022, Kap. 6.1.8, S. 32; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 12).
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Im Juli 2022 berichtete UNAMA (Human Rights in Afghanistan 15. August 2021 – 15. June 2022, July 2022, S. 13 ff.), dass trotz der gegenüber politischen Gegnern abgegebenen Generalamnestie seit der Machtübernahme durch die Taliban Menschenrechtsverletzungen einschließlich Tötungen, Verhaftungen etc. zu verzeichnen gewesen seien (160 extralegale Tötungen, 178 willkürliche Verhaftungen, 23 Fälle von Haft ohne Kontakt zur Außenwelt und 56 Fälle von Folter und Misshandlung), wobei frühere Mitglieder der afghanischen Streitkräfte die Mehrheit der Opfer ausmachten. Diese Vorfälle seien in fast allen Teilen des Landes vorgekommen und hätten eine weite Spanne von Personen betroffen mit unterschiedlichem Ausmaß ihrer Verbindungen zur früheren Regierung. Es sei erkennbar, dass auch Personen, die nicht offiziell oder in hochrangigen Funktionen bei der früheren Regierung oder den Streitkräften gearbeitet hätten, ebenfalls Ziel der de facto-Behörden gewesen seien.
39
Das Auswärtige Amt führt im hiesigen Zusammenhang in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 20.07.2022 (Stand 20.06.2022) aus, dass zielgerichtete, großangelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte oder Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen bislang nicht hätten nachgewiesen werden können (vgl. dort S. 6, 9). VN- und Menschenrechtsorganisationen hätten allerdings Berichte über die Entführung und zum Teil auch Ermordung ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte im niedrigen dreistelligen Bereich verifiziert. Diese Fälle ließen sich zumindest in Teilen eindeutig Taliban-Sicherheitskräften zuordnen. Inwieweit diese Taten politisch angeordnet worden seien, sei nicht zu verifizieren. Sie würden aber durch die de facto-Regierung und die Taliban-Führung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt. Die Taliban hätten offiziell eine Generalamnestie für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt. Hochrangige Taliban, auch das Oberhaupt der Bewegung, Emir Haibatullah Akhundzada, habe die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen. Die Hochkommissarin für Menschenrechte der VN habe bis Mitte Februar 2022 jedoch 130 Fälle geprüft und die Vorwürfe gegenüber den Taliban für begründet befunden, in denen Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte und Regierung ermordet worden seien. Bei rund 100 dieser Fälle handele es sich um extralegale Hinrichtungen, die Taliban-Kräften zugeordnet werden könnten. Laut einer im April erschienenen Medienrecherche der New York Times seien seit August 2021 ca. 500 Fälle verifiziert werden, in denen Angehörige der ehemaligen Regierung verschleppt, gefoltert oder ermordet worden seien bzw. weiterhin verschwunden seien. UNAMA und HRW hielten diese Untersuchung für glaubwürdig.
40
Im Dezember 2022 berichteten die Vereinten Nationen (The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, 07.12.2022) bezüglich der vergangenen 3 Monate von wenigstens 9 extralegalen Tötungen, mindestens 5 Fällen von Folter und Misshandlung sowie wenigstens 29 willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen durch die Taliban gegenüber Beamten der früheren Regierung und der afghanischen Streitsowie Sicherheitskräfte. Unter dem 09.02.2023 wurde von den Vereinten Nationen ausgeführt (Situation of human rights in Afghanistan), dass es im Zeitraum von Juli bis Dezember 2022 weiterhin zu gezielten Rachemorden gegenüber Mitgliedern der früheren Streit- und Sicherheitskräfte gekommen sei. Überdies gebe es Berichte über die Tötung von mehr als einem Dutzend Staatsanwälten des früheren Regimes entgegen der im Jahre 2021 verkündeten Generalamnestie. Am 27.02.2023 wiederum berichteten die Vereinten Nationen The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security) betreffend die vergangenen 3 Monate von wenigstens 9 extralegalen Tötungen, mindestens 17 willkürlichen Verhaftungen und zumindest 9 Fällen von Folter und Misshandlung gegenüber Beamten der früheren Regierung sowie Mitgliedern der früheren afghanischen Streit- und Sicherheitskräfte.
41
EUUA (Country Guidance: Afghanistan, Stand Januar 2023) führte aus, dass die Taliban in ihrer ersten Pressekonferenz eine Generalamnestie gegenüber allen, die gegen sie gekämpft hätten, ausgesprochen hätten. Diese Amnestie sei von Talibanmitgliedern jedoch nicht vollständig respektiert worden. Quellen berichteten von einem Mangel der Taliban-Führung an Kontrolle gegenüber ihren Kämpfern und dass es durch diese zu Vorfällen aufgrund persönlicher Feindschaften und Rache gekommen sei. Obwohl die Kämpfer wiederholt aufgefordert worden seien, die allgemeine Amnestie zu respektieren, wurde berichtet, dass die Rechenschaft für derartige Vorfälle limitiert sei. Vorfälle von summarischen Hinrichtungen, Folter, Misshandlungen und erzwungenem Verschwinden von ehemaligem ANDSF-Personal sei aus fast allen Provinzen gemeldet worden. Verschiedene Quellen lieferten eine unterschiedliche Einschätzung bezüglich des Ausmaßes solche Vorfälle. UNAMA habe von 160 außergerichtlichen Hinrichtungen, 178 willkürlichen Festnahmen und 56 Fällen von Folter und Misshandlung ehemaliger ANDSF-Mitglieder und Regierungsbeamter im Zeitraum vom 15.08.2021 bis 15.07.2022 berichtet. Talibanmitglieder bemühten sich, ehemalige Sicherheitsbeamte über lokale Informanten aufzuspüren, durch Registrierungskampagnen und möglicherweise den Einsatz von ehemaligen Datenbanken der Regierung. Im Februar 2022 hätten die Taliban damit begonnen, in verschiedenen Teilen des Landes Haus-zu-Haus-Durchsuchungen vorzunehmen, die sich laut einiger Quellen auf die Suche nach ehemaligen Regierungsangestellten und Mitgliedern der ANDSF konzentrierten. Es seien auch Fälle gemeldet worden, in denen Familienmitglieder von Taliban getötet, verhört oder gefoltert worden seien, auf deren Suche nach früheren Beamten.
42
Die vorstehenden Erkenntnisse reichen zur Überzeugung des Gerichts nicht aus, um generell von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (aller) ehemaligen Regierungsmitarbeiter, Sicherheitskräfte und Mitarbeiter der internationalen Truppen u.ä. Personen auszugehen und auch beim hiesigen Kläger ist dies unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht der Fall.
43
Zwar lässt sich das Ausmaß der Übergriffe auch angesichts der schwierigen Informationslage schwer einschätzen (vgl. Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 50). Wollten die Taliban allerdings jeden verfolgen, der bspw. in der Vergangenheit für die Regierung gearbeitet hat oder aus welchen Gründen auch immer „gegen sie war“, wären hiervon hunderttausende Personen betroffen. Vor diesem Hintergrund müsste die Anzahl dokumentierter Vorfälle auch unter Berücksichtigung dessen, dass sich offenbar zahlreiche Menschen aus Angst vor den neuen Machthabern nach wie vor versteckt halten (vgl. hierzu: ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 13.6.2022, Kap. 2.1; ACCORD, Aktuelle Lage & Überblich über die relevanten Akteure; Situation gefährdeter Gruppen, März 2022, S. 26; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 11), deutlich höher sein als dies in den derzeit vorliegenden Erkenntnismitteln der Fall ist (vgl. EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, January 2022, S. 47).
44
Hinzu kommt, dass sich die Führung der Taliban von den dokumentierten Übergriffen seit ihrer Machtübernahme mehrfach distanziert und auf das Vorgehen durch Einzeltäter verwiesen hat (vgl. Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 9). Ungeachtet der Frage, wie glaubhaft diese Verlautbarungen sind, und auch wenn die Taliban jedenfalls nicht willens oder in Lage sind, die entsprechenden Übergriffe zu verhindern und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen (vgl. UK Home Office, Afghanistan, Fear of the Taliban, 19.4.2022, Kap. 6.2.5, S. 33; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 50; EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, January 2022, S. 46), kommt diesem Gesichtspunkt jedenfalls insoweit Bedeutung zu als auch seriös einzuschätzende Erkenntnismittel darauf verweisen, dass die stattfindenden Übergriffe ihre Ursache offenbar auch in privaten Racheaktionen einzelner Taliban-Kämpfer oder örtlich bestehenden Feindschaften finden. Dementsprechend leben viele ehemalige Regierungsmitarbeiter gänzlich unbehelligt weiterhin in Afghanistan. Eine systematische Verfolgung dieser Personengruppe durch die neuen Machthaber lässt sich angesichts dieses Gesamtbildes auch nach der in den Erkenntnismitteln ganz überwiegend vertretenen Auffassung derzeit nicht feststellen (vgl. u.a. EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, January 2022, S. 46; ACCORD, Aktuelle Lage & Überblich über die relevanten Akteure; Situation gefährdeter Gruppen, März 2022, S. 25 und S. 30; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 12; Anzeichen für eine „beginnende“ systematische Verfolgung bestimmter Personen sieht derzeit wohl allein das Danish Home Office, vgl. UK Home Office, Afghanistan, Fear of the Taliban, 19.4.2022, Kap. 6.4.14, S. 38).
45
Zu berücksichtigen ist aber andererseits, dass bestimmte Personen(gruppen) durchaus einem gesteigerten Verfolgungsrisiko ausgesetzt sind. Insoweit berichten die Erkenntnismittel übereinstimmend, dass das Ausmaß der Gefahr, Opfer von Übergriffen und Vergeltungsmaßnahmen zu werden, stark von dem ausgeübten Beruf bzw. der spezifischen Tätigkeit oder Position der betroffenen Person abzuhängen scheint. Während Beschäftigte im Gesundheits- und Bildungswesen nach der Machtübernahme weitgehend unbehelligt geblieben sind, sollen Personen in zentralen bzw. exponierten Positionen in Militär, Polizei und bei den Ermittlungsbehörden besonders gefährdet sein. Außerdem könne sich eine erhöhte Gefährdung daraus ergeben, dass jemand aktiv in die Bekämpfung oder Verurteilung der Taliban involviert war (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 13.6.2022, Kap. 2.2; UK Home-Office, Afghanistan, Fear of the Taliban, 19.4.2022, Kap. 6.2.9, S. 34; Schweiz, Staatssekretariat für Migration, Verfolgung durch die Taliban: Potentielle Risikoprofile, 15.2.2022, S. 11/14).
46
Diese Erkenntnislage zugrunde gelegt ist das Gericht im vorliegenden Einzelfall zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger wegen seiner zwischen 2012 und 2019 ausgeübten Tätigkeit als einfacher Polizist/Soldat, welche er freiwillig aufgegeben hat, nicht zu einem besonders gefährdeten Personenkreis gehört, bei dem derzeit von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit für Verfolgungshandlungen seitens der Taliban in Anknüpfung an seine (unterstellte) politische Gesinnung ausgegangen werden kann.
47
Hierbei sind im Ausgangspunkt zunächst die nur relativ geringen Fallzahlen verifizierter Übergriffe auf den Personenkreis derer, die Mitglieder der ehemaligen afghanischen Sicherheitskräfte gewesen sind, ins Kalkül zu ziehen im Verhältnis zur großen Zahl derer, bei denen eine solche Verbindung bestanden hat (vgl. etwa: EUAA, Afghanistan – Targeting of Individuals, Country of Origin Information Report, August 2022, S. 74), dies auch unter Berücksichtigung dessen, dass sich viele Menschen aus Angst vor den neuen Machthabern versteckt halten sollen. Darüber hinaus ist im vorliegenden Einzelfall insbesondere gefahrmindernd zu berücksichtigen, dass der Kläger seine frühere Tätigkeit bereits im Jahre 2019 aus freien Stücken beendet hat, was den Interessen und Überzeugungen der Taliban gerade entspricht und nach Kenntnis des Gerichts aus früheren Asylverfahren von diesen auch immer wieder gegenüber Mitgliedern der Sicherheitskräfte gefordert worden ist. Hierdurch unterscheidet sich der Kläger in erheblicher Weise von Mitgliedern der Sicherheitskräfte, die bis zum August 2021 in deren Diensten gestanden und ihre Tätigkeit erst unter dem faktischen Druck der Änderung der Machtverhältnisse beendet haben. Zudem handelt es sich bei dem Kläger nach eigenen Angaben auch nur um einen einfachen Polizisten/Soldaten ohne jegliche herausgehobene Funktion, der insoweit auch nicht in besonderer Weise ins Visier der Taliban geraten ist und deren Verfolgungsinteresse geweckt hätte; Entgegenstehendes ist hier weder vorgetragen noch ersichtlich. Gegen eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestehende Verfolgungsgefahr im Rückkehrfalle spricht weiterhin, dass der Kläger von 2019 an bis zu seiner Ausreise rund 1 Monat nach der Machtübernahme durch die Taliban völlig unbehelligt in Afghanistan gelebt hat und auch nach seiner Ausreise gegenüber seinen Familienmitgliedern und Verwandten seither keinerlei Nachfragen bezüglich des Klägers erfolgt sind und diese auch nicht etwa unter Druck gesetzt worden sind, um des Klägers habhaft zu werden, wie dies nach der Erkenntnismittellage etwa über Haus-zu-Haus-Durchsuchungen geschehen ist, wenn die Taliban tatsächlich auf der Suche nach einer bestimmten Person sind. Die vorstehend beschriebene Sachlage zeugt vielmehr davon, dass sich der Kläger durch seine frühere Tätigkeit in den Jahren 2012-2019 nicht in einer Weise gegenüber den Taliban exponiert hat, die bei diesen ein Verfolgungsinteresse ausgelöst hätte; ansonsten wäre es bereits früher zu entsprechenden Maßnahmen gegenüber dem Kläger gekommen, zumal er darauf verwiesen hat, dass seine Gegner ihn kennen würden und um seine frühere Tätigkeit wüssten. Darüber hinaus hat der Kläger auch keine persönliche Feindschaft mit den Taliban zur Überzeugung des Gerichts dargetan, welche etwa als Verfolgungsanlass – ggf. unter dem Vorwand der früheren Tätigkeit – genutzt werden könnte. Schließlich ist zu bedenken, dass mittlerweile bereits ein erheblicher Zeitraum von rund 4 Jahren seit Beendigung der früheren Tätigkeit als Polizist/Soldat verstrichen ist. Die vorstehende Einschätzung fehlender Verfolgungsgefahr gilt – mangels erkennbarem Verfolgungsinteresse im vorliegenden Einzelfall – auch unter Berücksichtigung der von der Klägerbevollmächtigten erwähnten Möglichkeit zur flächendeckenden Informationsweitergabe durch die Taliban sowie der Volkszugehörigkeit des Klägers als Hazara, zumal sich der Erkenntnismittellage eine allgemeine Verfolgungspraxis gegenüber dieser Ethnie nicht entnehmen lässt, vgl. auch unter c).
48
c) Der Umstand, dass der Kläger Hazara ist, kann auch unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel nicht zur Bejahung der Flüchtlingseigenschaft führen. Eine den Angehörigen der Ethnie der Hazara drohende Gruppenverfolgung ist – jedenfalls derzeit – nicht anzunehmen (vgl. etwa: VG München, Urteil vom 19.12.2022 – M 15 K 22.31619 –, Rn. 24 – 28, juris); U.v. 8.11.2022 – M 25 K 17.41200 – UA Rn. 19 ff.; VG Berlin, U.v. 24.3.2022 – 20 K 666.17 A – juris; VG Greifswald, U.v. 10.3.2022 – 3 A 2070/20 HGW – juris):
49
Seit der Machtübernahme im August 2021 hat sich die Lage für die Hazara wieder verschlechtert, auch wenn die Taliban wiederholt erklärt haben, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und insbesondere den Hazara Zusicherungen gemacht haben. Zwar haben die Taliban als Beleg für die Ernsthaftigkeit ihrer Äußerungen u.a. die schiitischen Ashura-Feierlichkeiten am 19. August 2021 abgesichert, sich medienwirksam mit Hazara-Führern getroffen sowie zwei Hazara (zweiter stellvertretender Gesundheitsminister und stellvertretender Wirtschaftsminister) ins Kabinett berufen (vgl. BAMF, Afghanistan, Länderanalysen, Kurzinformation, Lage der Hazaras, Mai 2022, S. 5; EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, Januar 2022, S. 42; Lagebericht v. 22.10.2021, S. 10). Darüber hinaus werden jedoch Hazara und weitere nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert und selbst auf lokaler Ebene kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Lagebericht) v. 20.7.2022, S. 12). Diskriminierungen im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich halten weiter an (vgl. https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/rights-freedom/un-human-rights-warns-of-afghanistans-descent-into-authoritarianism/).
50
Zudem existieren Berichte über Übergriffe der Taliban seit der Machtübernahme. Es gibt regelmäßige Vorkommnisse, in denen die Taliban gegen die Hazara-Gemeinschaft vorgehen (Verhaftungen und auch Tötungen), u.a. da diese aufgrund ihres Emporkommens stark mit der ehemaligen Regierung in Verbindung gebracht werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Lage der Hazaras in Afghanistan, April 2022, S. 7 ff.). Viele Hazara-Familien sollen seit der Machtübernahme aufgefordert worden sein, ihre Häuser und Ackerböden zu verlassen (vgl. EASO, Afghanistan Country focus, Country of Origin Information Report, Januar 2022, S. 42). Die meisten Vertreibungen erfolgten in ländlichen Gebieten in den Provinzen Daykundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh. (vgl. ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan, 15.11.2021, S. 8 f.). Am stärksten betroffen waren 15 Dörfer in Daykundi und Uruzgan, wo im September mindestens 2.800 Hazara vertrieben wurden (Danish Immigration Service (DIS), Afghanistan – Recent Events, Dezember 2021, S. 28; ACCORD, Überblick über aktuelle Entwicklungen und zentrale Akteure in Afghanistan 15.11.2021, S. 9). Für die Provinz Daykundi wurde auch von ca. 400 Familien gesprochen, von denen aber nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen die meisten mittlerweile wieder zurückkehren konnten. Weitere derartige Vertreibungen soll es seitdem aber nicht mehr gegeben haben (vgl. u.a. European Union Agency for Asylum (EUAA), Country of Origin Information, Afghanistan Targeting of Individuals, August 2022, S. 136 f.). Nach Einschätzung von Human Rights Watch (HRW) beruht die Diskriminierung von Hazara bei illegaler Landnahme vor allem auf lokalen Konflikten, wird aber von der Taliban-Führung toleriert (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 12). Eine klare systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die de facto-Regierung lässt sich jedoch nicht feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (vgl. Lagebericht v. 20.7.2022, S. 12; DIS, Afghanistan – Recent Events, Dezember 2021, S. 28).
51
Hazara sind aber weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des Islamischen Staats in der Provinz Khorasan (ISKP) zu werden, auch wenn dessen Angriffe nach der Machtübernahme zunächst kurzzeitig zurückgingen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Stand: 10.8.2022, S. 129). Nach einem Bericht von HRW hat sich der ISKP seit der Machtübernahme für 13 Angriffe gegen Hazara verantwortlich erklärt, bei denen mindestens 700 Menschen getötet und verletzt wurden (vgl. HRW, ISIS Group targets religious minorities, 6.9.2022 – abrufbar unter: https://www.hrw.org/news/2022/09/06/afghanistan-isis-group-targets-religious-minorities; EUAA, Country of Origin Information, Afghanistan Targeting of Individuals, August 2022, S. 139 ff. zu den einzelnen Anschlägen der Jahre 2021 und 2022). Der UN-Sonderberichterstatter berichtete am 09.02.2023, dass zwischen dem 30.08.2021und dem 30.09.2022 bei 22 registrierten Angriffen auf Zivilisten mindestens 334 Menschen getötet und 631 verletzt wurden. Davon waren 16 Anschläge, darunter drei gegen Bildungseinrichtungen, speziell gegen die Hazara-Bevölkerung gerichtet (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Lage der Hazaras in Afghanistan, April 2022, S. 4). Zuletzt kamen bei einem Bombenanschlag auf ein schiitisches Bildungsinstitut in West-Kabul am 30. September 2022, der mit ISKP in Verbindung gebracht wurde, 53 Menschen ums Leben und 110 Personen wurden verletzt (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24.10.2022, S. 2; 11.10.2022, S. 2). Nach Einschätzung der Vereinten Nationen schützen die Taliban die Hazara bislang nicht genügend vor Anschlägen (vgl. Lagebericht v. 20.6.2022, S. 13). Berichten zufolge haben die Taliban Journalisten nur beschränkt Zugang zu Anschlagsorten gewährt und Krankenhäuser angewiesen, die Zahl der Todesopfer nicht offenzulegen. Aufrufe der Hazara zu Ermittlungen der Anschläge blieben unbeantwortet (vgl. EUAA, Country of Origin Information, Afghanistan Targeting of Individuals, August 2022, S. 141).
52
Angesichts der dargestellten – nicht abschließenden – sicherheitsrelevanten Ereignisse zum Nachteil von Hazara wird zwar ersichtlich, dass die Sicherheitslage für die Volksgruppe zwar Anlass zur Besorgnis ist. Das Gericht schließt sich dennoch zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Bewertung der oben genannten einhelligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an, wonach die genannten Benachteiligungen und gewaltsamen Übergriffe nicht die dafür erforderliche Verfolgungsintensität und -dichte im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG aufweisen. Die Hazara sind in der afghanischen Bevölkerung als drittgrößte ethnische Gruppe mit etwa 9 bis 20% und als schiitische Religionszugehörige mit ca. 10 bis 15% vertreten (Lagebericht v. 20.7.2022, S. 12), so dass sich auch aus dem Verhältnis der bekanntgewordenen Opferzahlen zum Anteil der Hazara an der afghanischen Bevölkerung – jedenfalls derzeit – kein Hinweis auf eine Gruppenverfolgung ableiten lässt. Das gilt auch bei Würdigung einer zu der verifizierten Anzahl toter und verletzter Zivilisten hinzutretenden Dunkelziffer (vgl. VG Berlin, U.v. 24.3.2022 – 20 K 666.17 A – juris Rn. 45).
53
d) Dem Kläger droht darüber hinaus auch keine Verfolgung wegen seiner Ausreise, seines Aufenthalts in Deutschland und der hier erfolgten Asylantragstellung (vgl. dazu eingehend: VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.02.2023 – A 11 S 1329/20 – juris):
54
Insoweit erscheint zwar grundsätzlich eine Verfolgung wegen der Religion, politischen Überzeugung bzw. Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 2, 4 und 5 AsylG) denkbar. Die genaue Einordnung des Verfolgungsgrundes – wobei ohnehin auch mehrere Verfolgungsgründe kumulativ vorliegen können (vgl. Bergmann, in: ders./Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 3b AsylG Rn. 2) – kann letztlich offenbleiben. Denn es fehlt schon an tragfähigen Anhaltspunkten dafür, dass afghanische Staatsangehörige, die ihr Heimatland unerlaubt verlassen, längere Zeit in der Bundesrepublik Deutschland gelebt und hier einen Asylantrag gestellt haben, bei einer Rückkehr nach Afghanistan Maßnahmen der Taliban befürchten müssen, die als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG zu qualifizieren sind. Darüber hinaus fehlt es an der beachtlichen Wahrscheinlichkeit bezüglich der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer solchen Verfolgung und einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründe (vgl. zur ähnlichen Fragestellung bzgl. des Zielstaats Syrien: NdsOVG, Urteil vom 22.04.2021 – 2 LB 147/18 – juris Rn. 45; OVG Hamburg, Urteil vom 29.05.2019 – 1 Bf 284/17.A – juris Rn. 135 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 23.10.2018 – A 3 S 791/18 – juris Rn. 18 ff. und vom 09.08.2017 – A 11 S 710/17 – juris Rn. 40 ff., jeweils m.w.N.). Eine diesbezügliche beachtlich wahrscheinliche Gefährdung des Klägers im Sinne des § 3 AsylG würde voraussetzen, dass ihm ein entsprechendes Merkmal von den Taliban zumindest zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG). Dafür, dass die Taliban Rückkehrern, die Afghanistan verlassen, sich längere Zeit im nicht muslimisch geprägten Ausland aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt haben, ohne weitere Anhaltspunkte regelhaft unterstellen, vom Glauben abgefallen und/oder oppositionell eingestellt zu sein, gibt es indes keine hinreichenden Anhaltspunkte. Ebenso wenig bestehen belastbare Hinweise darauf, dass nicht den Taliban zugehörige (private) Dritte, wie etwa die Familie oder die lokale Gemeinschaft, als nichtstaatliche Akteure die genannten Rückkehrer wegen eines flüchtlingsrelevanten Verfolgungsgrundes verfolgen werden, ohne dass letzteren durch die Taliban als de-facto-Machthabern insoweit Schutz geboten würde. Die zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen lassen derartige Schlüsse auf das Bestehen der notwendigen Verknüpfung nicht hinreichend verlässlich zu.
55
Da seit der Machtübernahme durch die Taliban kaum Personen aus dem nicht muslimisch geprägten Ausland nach Afghanistan zurückgekehrt sind (DIS, Afghanistan, Taliban’s impact on the population, Juni 2022, S. 38; SEM, Focus Afghanistan, Verfolgung durch Taliban: Potentielle Risikoprofile, S. 44), lässt sich nur schwer prognostizieren, wie die Taliban mit solchen Rückkehrern umgehen werden (so auch die Einschätzung des SächsOVG, Urteil vom 10.11.2022 – 1 A 1081/17.A – juris Rn. 104). Zur aktuellen Situation rückkehrender Geflüchteter aus Deutschland liegen nach Informationen des Auswärtigen Amtes nur vereinzelt Erkenntnisse vor. Rückführungen aus Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten sind gegenwärtig ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 20.6.2022, S. 20; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Version 8, 10.08.2022, S. 194). Über das Schicksal des bislang einzigen afghanischen Evakuierten, der im Februar 2022 von den USA nach Afghanistan abgeschoben wurde (EUAA, Afghanistan, Targeting of Individuals, August 2022, S. 55), ist nichts bekannt.
56
Der spärlichen Informationslage im hiesigen Zusammenhang lassen sich keine belastbaren Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Rückkehrern aus dem westlichen Ausland allein deshalb Verfolgung durch die Taliban – oder dritte Akteure – droht, weil sie aus Afghanistan ausgereist sind, längere Zeit in einem nicht muslimisch geprägten Land gelebt und dort einen Asylantrag gestellt haben (im Ergebnis ebenso SächsOVG, Urteil vom 10.11.2022 – 1 A 1081/17.A – juris Rn. 72 ff.; VG Greifswald, Urteil vom 13.05.2022 – 3 A 1469/19 HGW – juris UA S. 10; ähnlich VG Berlin, Urteil vom 24.03.2022 – 20 K 666.17 A – juris Rn. 51; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 20.09.2021 – 5a K 6073/17.A – juris Rn. 43 f. m.w.N.). Den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass die Taliban oder private Dritte jedem zurückkehrenden Asylantragsteller ohne Weiteres eine oppositionelle Gesinnung oder Apostasie unterstellen. Es liegen auch keine Erkenntnisse dazu vor, dass insbesondere bei der Einreise am Flughafen unterschiedslos jeder Rückkehrer aus dem nicht islamisch geprägten Ausland als regierungs- oder islamfeindlich betrachtet und Repressalien unterzogen wird. Einem von EUAA zitierten unabhängigen Analysten zufolge kann den Verlautbarungen der Taliban in den sozialen Medien nicht entnommen werden, dass eine Person, die im Westen einen Asylantrag gestellt hat, verfolgt werden sollte (EUAA, Afghanistan, Targeting of Individuals, August 2022, S. 51). Anderen Quellen zufolge sollen vereinzelt Rückkehrer ins Visier genommen werden, es bestehe aber kein klarer Zusammenhang allein mit dem Umstand, dass diese Einzelpersonen das Land verlassen hatten. Vielmehr schien eine Verknüpfung mit ihrem ursprünglichen Status zu bestehen, wie der Ausreise aufgrund ihrer Verbindung zur früheren Regierung, aus Furcht aufgrund ihrer Ethnie oder aus anderen Gründen. Gehöre eine Person zu einer dieser Kategorien, bestehe das Risiko unabhängig von der Tatsache, dass sie das Land verlassen habe, da sie ohnehin ins Visier der Taliban geraten werde (EUAA, Afghanistan, Targeting of Individuals, August 2022, S. 55; DIS, Afghanistan, Taliban’s impact on the population, Juni 2022, S. 38).
57
Hinzu kommt, dass die Taliban ausgereiste Afghanen ausdrücklich dazu auffordern, ins Land zurückzukehren (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand 20.06.2022, S. 20), und, zumindest bezogen auf nicht den „Eliten“ angehörige Afghanen, das Narrativ verbreiten, diese seien vor der Armut und nicht vor den Taliban geflohen (EUAA, Afghanistan, Targeting of Individuals, August 2022, S. 50, 52). Ob den von den Taliban verkündeten „Sicherheitsgarantien“ bzw. „Amnestien“ jedenfalls für rückkehrende Regierungsbeamte zu trauen ist (vgl. hierzu EUAA, Afghanistan, Targeting of Individuals, August 2022, S. 51 f.; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Version 8, 10.08.2022, S. 18, 26, 96), darf zwar stark bezweifelt werden (vgl. etwa ACCORD, ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan, 10.08.2022, S. 15; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, Version 8, 10.08.2022, S. 18, 96). Umgekehrt bestehen aber auch keine tragfähigen Hinweise darauf, dass einem Rückkehrer, der nicht explizit als Oppositioneller aufgefallen ist, per se Verfolgung droht. Bei aller Vorsicht, die bei der Bewertung offizieller Äußerungen der Taliban angebracht ist, zeigt sich, dass auch den Taliban bewusst ist, dass die allgemeine Lebenssituation und die Sicherheitslage in Afghanistan hinreichende Motive sind, das Land zu verlassen und Zuflucht in einem anderen Staat zu suchen.
58
Dieser Befund schließt es freilich nicht aus, dass in einer Einzelfallprüfung, gestützt auf entsprechende Erkenntnisquellen, eine Verfolgung aufgrund von Religion (im Sinne eines – unterstellten – Abfalls vom Glauben), politischer Überzeugung (im Sinne einer – unterstellten – oppositionellen Einstellung) oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe feststellbar ist. Dazu bedarf es bei einer solchen Person besonderer, individuell gefahrerhöhender Umstände (vgl. insoweit wiederum die Rspr. zum Zielstaat Syrien: NdsOVG, Urteil vom 22.04.2021 – 2 LB 147/18 – juris Rn. 46; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 04.05.2021 – A 4 S 469/21 – juris Rn. 29; OVG Hamburg, Urteil vom 29.05.2019 – 1 Bf 284/17.A – juris Rn. 136).
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Derartige gefahrerhöhende Momente liegen bei dem – nicht den „Eliten“ zugehörigen – Kläger hier nicht vor. Solche ergeben sich entsprechend obiger Ausführungen unter b) und c), auf die vollumfänglich verwiesen wird, insbesondere nicht aufgrund der früheren, im Jahre 2019 freiwillig aufgegebenen Tätigkeit des Klägers als Polizist/Soldat oder aufgrund seiner Volkszugehörigkeit als Hazara.
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e) Eine Verfolgung nach § 3 AsylG droht dem Kläger schließlich auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer sog. „Verwestlichung“ (vgl. hierzu etwa: VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.02.2023 – A 11 S 1329/20 – juris). Eine Verfolgung wegen des vorgenannten Vorwurfs eines „westlichen Lebensstils“ kann jedenfalls nur dann beachtlich wahrscheinlich sein, wenn dieser die betreffende Person in ihrer Identität derart maßgeblich prägt, dass sie nicht gezwungen werden könnte, darauf zu verzichten. Die Rolle und das Selbstverständnis als Person müssen also auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruhen, die unabweisbare Konsequenzen für die eigene Lebensführung in Afghanistan hätte und daher eine Rückkehr als unzumutbar erscheinen ließe (vgl. VG Berlin, Urteil vom 24.03.2022 – 20 K 666.17 A – juris Rn. 48). Dies ist der Fall, wenn der betreffende Rückkehrer infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in seiner Identität westlich geprägt wurde, dass er aufgrund seines Verhaltens, seiner Wertvorstellungen und seiner politischen Überzeugungen, seiner Sozialisierung im Ganzen und seines Erscheinungsbildes nicht mehr in der Lage wäre, seinen Lebensstil bei einer Rückkehr nach Afghanistan kurzfristig und im durch die Aufnahmebevölkerung erwarteten Umfang an die dortigen Lebensverhältnisse anzupassen. Besteht ein solcher Fall, würde der betreffende Rückkehrer aufgrund seiner Anpassungsschwierigkeiten in den Verdacht geraten, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit in Widerspruch zu den radikal-fanatischen religiösen Vorstellungen, den erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen zu setzen, die das von den Taliban ausgerufene „Islamische Emirat Afghanistan“ kennzeichnen. Eine Verwestlichung im vorgenannten Sinne lässt sich dabei nicht vorrangig an äußeren, ggf. veränderlichen Merkmalen wie Kleidung, Frisur, Barttracht etc. ablesen. Sie findet vielmehr in einer Persönlichkeitsentwicklung des Schutzsuchenden Ausdruck, die während eines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland eine Prägung durch ganz andere Wertvorstellungen und Weltanschauungen erfahren hat (vgl. zum Ganzen VG Berlin, Urteil vom 24.03.2022 – 20 K 666.17 A – juris Rn. 49; VG Freiburg, Urteil vom 21.09.2021 – A 14 K 9391/17 – juris Rn. 33 ff.; speziell zu Frauen: NdsOVG, Urteil vom 21.09.2015 – 9 LB 20/14 – juris Rn. 26; VG Bremen, Urteil vom 24.06.2022 – 3 K 1386/20 – juris Rn. 32 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 06.01.2022 – 3 K 133/21.A – juris Rn. 21 ff.; VG Freiburg, Urteil vom 11.10.2021 – A 15 K 4778/17 – juris Rn. 24 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 26.09.2019 – A 19 K 3124/17 – juris Rn. 26 ff.; dagegen VG Stade, Urteil vom 13.04.2022 – 6 A 2174/17 – juris Rn. 63 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 25.10.2018 – A 2 K 7355/17 – juris Rn. 37 ff.). Zu berücksichtigende Gesichtspunkte können dabei insbesondere sein: Geschlecht (größere Gefahr für Frauen), durch den Rückkehrer übernommene Verhaltensweisen, Herkunftsgebiet (insbesondere ländliche Gebiete), konservatives Umfeld, Pflege der traditionellen Geschlechterrollen durch die Familie, Alter und damit – etwa bei Kindern – verbundene Schwierigkeiten, sich (wieder) an die gesellschaftlichen Einschränkungen in Afghanistan anzupassen, Sichtbarkeit des Rückkehrers (EASO, Leitfaden: Afghanistan, November 2021, S. 27).
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Dass vorliegend der Kläger infolge einer tiefgreifenden westlichen Identitätsprägung bei einer Rückkehr eine ernsthafte und nachhaltige innere Überzeugung verleugnen müsste und ihn die erforderliche Anpassung an die im „Islamischen Emirat Afghanistan“ erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen gleichsam vor eine innere Zerreißprobe stellen würde, ist schon nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich, zumal sich der Kläger erst seit nicht einmal 10 Monaten in Deutschland aufhält.
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2. Der Kläger hat darüber hinaus auch keinen Anspruch auf die Feststellung des subsidiären Schutzstatus, § 4 AsylG.
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Nach § 4 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Nach § 4 Abs. 3 AsylG gelten die Vorschriften aus §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend; bei der Prüfung, ob dem Ausländer ein ernsthafter Schaden droht, ist der bereits in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG dargelegte asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit maßgeblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 27. April 2010, Az. 10 C 5/09 – juris, Rn. 20 ff.).
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a) Der Kläger hat nicht glaubhaft machen können, dass ihm aus individuellen Gründen oder aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung ein i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 AsylG durch die Taliban droht. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen zu § 3 AsylG vollumfänglich verwiesen.
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b) Er hat zudem keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan. Es fehlt jedenfalls an einem nach § 4 Abs. 3 i.V. m. § 3c AsylG notwendigen verantwortlichen Akteur für diese Bedingungen. Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung wegen der schlechten humanitären Situation im Herkunftsland begründet nur dann einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, wenn sie zielgerichtet von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19; B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 13).
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An einem erforderlichen verantwortlichen Akteur für die schlechten humanitären Bedingungen in Afghanistan fehlt es indes (vgl. VG Cottbus, U.v. 3.11.2021 – 8 K 306/17.A – juris, Rn. 18, zur Situation vor der Machtübernahme durch die Taliban: Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, U.v. 25.3.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris Rn. 51 sowie OVG Bremen, U.v. 12.2.2020 – 1 LB 305/18 – juris Rn. 48 jeweils m.w.N.). Zwar hatte der langandauernde militärische Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den westlichen Verbündeten auf der einen Seite und den Taliban auf der anderen Seite negative Auswirkungen auf die humanitären Bedingungen in Afghanistan. Den Erkenntnismitteln kann jedoch nicht entnommen werden, dass die Taliban bewusst eine Verschlechterung der humanitären Bedingungen herbeiführen wollten bzw. wollen. Dagegen spricht, dass Hilfsorganisationen aktuell im ganzen Land tätig sein können (vgl. BAMF, Briefing Notes zu Afghanistan v. 22. November 2021, S. 2; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Humanitäre Lage v. 6. Dezember 2021, S. 6). Desweiteren spricht gegen einen verantwortlichen Akteur, dass die schlechte Versorgungslage nicht allein auf die angespannte Sicherheitslage, sondern auch auf die schwierigen klimatischen Bedingungen und Naturkatastrophen sowie das hohe Bevölkerungswachstum zurückzuführen war und ist.
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c) Dem Kläger droht schließlich auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Bei der wertenden Gesamtbetrachtung der Sicherheitslage in Afghanistan ist unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere im Hinblick auf die allgemeine Gefahrendichte (vgl. EuGH, U.v. 10.06.2021 – C-901/19 – juris; BVerwG, U.v. 20.5.2020, Az. 1 C 11/19 – juris Rn. 19), im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu sehen, dass einhergehend mit dem Abzug der internationalen Kampftruppen aus Afghanistan und darüber hinaus insbesondere seit dem 16. August 2021 durch die Übernahme der (faktischen) Regierungsgewalt und der Gebietskontrolle durch die Taliban unter Beendigung der Kampfhandlungen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften, die allgemeine Gefahrendichte nach dem 16. August 2021 in Afghanistan in sehr erheblichem Umfang abgenommen hat, was auch für die Herkunftsprovinz des Klägers gilt (vgl. etwa: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Afghanistan, 10.08.2022, S. 15 ff.; UNAMA, Human Rights in Afghanistan, July 2022, S. 10 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan, 20.07.2022, S. 4 f.). Seit dem 16. August 2021 gibt es folglich keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt mehr in Afghanistan (so i.E. auch: VGH Baden-Württemberg, U.v. 22.02.2023 – A 11 S 1329/20 – juris; VG Greifswald, U.v. 13.05.2022 – 3 A 1469/19 HGW – juris; VG München, U.v. 26.8.2021 – M 24 K 17.38610 – juris Rn. 31 ff.; VG München, U.v. 25.01.2022 – M 6 K 21.31155 – juris; VG München, U.v. 12.11.2021 – M 2 K 21.30954 – juris; VG Bremen, U.v. 14.01.2022 – 3 K 3558/17 – juris Rn. 39; VG Sigmaringen, G.v. 26.11.2021 – A 13 K 348/18 – juris). Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger die Gefahr eines ernsthaften Schadens im hier betrachteten Zusammenhang droht, ist auch unter Berücksichtigung seiner früheren, im Jahre 2019 bereits freiwillig aufgegebenen Tätigkeit als einfacher Polizist/Soldat sowie aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara nicht gegeben; auf die obigen diesbezüglichen Ausführungen wird vollumfänglich verwiesen.
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Nach alledem war die Klage abzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.