Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 30.01.2023 – Au 8 K 21.30954
Titel:

Rechtswidrige Unzulässigkeitsentscheidung bei Überstellung nach Italien

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Einem in Italien anerkannt Schutzberechtigtem, der gemeinsam mit seiner Ehefrau und zwei Klein(st)-Kindern zurückkehren würde, droht aufgrund der in seiner Person liegenden individuellen Umstände wegen des dortigen Asylsystems mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh bzw. gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung. (Rn. 23 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylverfahren, Afghanistan, international Schutzberechtigter in Italien, Unzulässigkeitsentscheidung, unzureichende Aufnahmebedingungen in Italien, gemeinsame Rückkehr mit Ehefrau und zwei Klein(st)-Kindern, Anschluss an die Rechtsprechung in VGH BW, U.v. 7.7.2022, A 4 S 3696/21, juris, Asyl, Italien, Schutzberechtigter, menschenrechtswidrige Behandlung, Aufnahmebedingungen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 9044

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. September 2021 wird mit der Ausnahme der in Ziffer 3 Satz 4 getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht in den Iran abgeschoben werden darf, aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und die Anordnung der Abschiebung nach Italien.
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1. Der unter Vorlage von Ausweispapieren in das Bundesgebiet eingereiste Kläger ist ... geboren und afghanischer Staatsangehöriger usbekischer Volkszugehörigkeit.
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Am 29. Dezember 2020 beantragte er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) die Anerkennung als Asylberechtigter.
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 26. August 2021 zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass er sich seit etwa 2014 in Italien aufgehalten habe. In Italien sei ihm der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden. Danach habe er die Unterkunft verlassen müssen, eine weitere Unterstützung durch staatliche Stelle oder durch Hilfsorganisationen habe er nicht erhalten. Er habe seinen Lebensunterhalt durch schlecht bezahlte Tätigkeiten sichergestellt. Seine Ehefrau und das zwischenzeitlich im Jahr ... geborene gemeinsame Kind hielten sich bereits im Bundesgebiet auf, ebenso seine Eltern und Geschwister.
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Mit Bescheid vom 29. September 2021, dem Kläger zugestellt am 6. Oktober 2021, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Der Kläger wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Italien angeordnet, eine Abschiebung in den Iran wurde ausgeschlossen (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf einen Monat ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Ziffer 5).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Asylantrag gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig sei, da dem Kläger bereits in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt worden sei. Der Entscheidung als unzulässig stehe auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nicht entgegen, da dem Kläger in Italien keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK drohe. Die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus in Italien seien ausreichend. Abschiebungsverbote seien zu verneinen, die derzeitigen humanitären Bedingungen in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK vorliege. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes berücksichtige die familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet, insbesondere das Sorgerecht für das minderjährige Kind. Die Kindsmutter, die mit dem Kläger verheiratet sei, verfüge im Bundesgebiet über ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistans. Aufgrund der nicht absehbaren Zeitspanne einer Trennung von Kind und Kläger erscheine die Frist von einem Monat angemessen.
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2. Der Kläger ließ am 13. Oktober 2021 Klage erheben.
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Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt, dass der Kläger verheiratet und sorgeberechtigt für das im Januar ... geborene gemeinsame Kind sei. Im Falle der Rückführung nach Italien könne der Kläger den Lebensunterhalt für die Familie nicht in ausreichender Weise sicherstellen. Die Aufnahmebedingungen in Italien seien erheblich defizitär, das OVG Münster habe deshalb im Juli 2021 der Klage eines von Italien nach Deutschland weitergereisten Schutzberechtigten stattgegeben.
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Ergänzend wurde mit Schriftsatz vom 5. September 2022 zur erneuten Schwangerschaft der Ehefrau des Klägers vorgetragen, das gemeinsame Kind werde voraussichtlich Ende ... zur Welt kommen.
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Der Kläger lässt beantragen,
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den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. September 2021, außer des Verbots der Abschiebung in den Iran, aufzuheben und hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG vorliegt.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
14
Zur Überstellung des Klägers und seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Kind trug die Beklagte mit Schriftsatz vom 12. September 2022 vor, dass nach der Rechtsprechung des VG Hamburg vom Mai 2021 auch Familien mit minderjährigen Kindern in Italien eine Unterkunft erhalten würden. Dies werde dadurch gewährleistet, dass den italienischen Behörden die Rücküberstellung angekündigt werde und eine Überstellung nur dann erfolge, wenn durch den sog. Zentralen Dienst in Italien eine vorherige Sicherstellung der Aufnahme mit einem angemessenen Unterkunftsplatz garantiert worden sei. Sollte ein angemessener Unterkunftsplatz nicht zur Verfügung stehen, würde Italien einer Rücküberstellung nicht zustimmen. Rückkehrende international Schutzberechtigte könnten bei den in Italien zuständigen Behörden einen Antrag auf die Rückkehr in eine Unterkunft stellen. Jedenfalls seien die anerkannt Schutzberechtigten mit den italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt und könnten daher Sozialleistungen in Italien erhalten.
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Mit Beschluss vom 9. August 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der Sache wurde am 25. Januar 2023 mündlich vor Gericht verhandelt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird im Einzelnen Bezug genommen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte. Zum Verfahren beigezogen wurde auch die Behördenakte des Asylverfahrens der Ehefrau des Klägers.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2023 entschieden werden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten daran teilgenommen hat. Die Beklagte wurde auf diese Möglichkeit nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung hingewiesen.
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Die zulässig erhobene Klage ist im Hauptantrag erfolgreich. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 29. September 2021, mit dem der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt worden ist, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Die im Hauptantrag begehrte Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids – und in der Folge die Aufhebung der Folgeregelungen in den Ziffern 2 mit 4, außer der Aufhebung des Abschiebungsverbots in den Iran – ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die statthafte Klageart (BVerwG, U.v. 26.2.2019 – 1 C 30.17 – InfAuslR 2019, 248 Rn. 12).
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2. Die Beklagte hat ihren ablehnenden Bescheid auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil Italien dem Kläger subsidiären Schutz zuerkannt hat.
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Diese dem Grunde nach zutreffende Unzulässigkeitsentscheidung ist jedoch dann rechtswidrig und aufzuheben, wenn dem Kläger im Falle einer Überstellung nach Italien dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK droht und sie somit im Ergebnis nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist (vgl. BVerwG, B.v. 24.5.2022 – 1 B 23/22 – juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht Ansbach führt zur Herleitung dieses Ergebnisses, dem sich der Einzelrichter im vollem Umfang anschließt, aus:
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„Durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wird Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) in nationales Recht umgesetzt (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 30). Hierbei wird in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt, einen Asylantrag aufgrund einer internationalen Schutzgewährung in einem anderweitigen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann auch bei der bereits erfolgten Gewährung internationalen Schutzes die Unzulässigkeitsentscheidung aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausnahmsweise ausgeschlossen sein (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed – u.a., C-540/17 u.a. – juris; U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris). Das ist der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, welche den Kläger als anerkannten Flüchtling in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Unter diesen Voraussetzungen ist es den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34/19 – juris Rn. 15 unter Verweis auf EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a., Hamed u.a. – Rn. 35 und U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – Rn. 88). Somit sollen Verstöße gegen Art. 4 GRCh im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung nicht nur bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung Berücksichtigung finden, sondern bereits zur Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung führen (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 15).
Allein der Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. im Kapitel VII der RL 2011/95/EU – Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 – Anerkennungsrichtlinie) gerecht werden, führt dabei angesichts des fundamentalen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu einer Einschränkung der Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU vorgesehenen Befugnis, solange die Schwelle des Art. 4 GRCh nicht erreicht ist (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 36; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16, 17). Denn jeder Mitgliedstaat darf grundsätzlich davon ausgehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16). Auch wenn der Schutzberechtigte in dem Staat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränkterem Umfang existenzsichernde Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaates behandelt zu werden und ohne der ernsthaften Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu sein, kann vermutet werden, dass das Unionrecht durch den betreffenden Mitgliedstaat beachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 16).
Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat das gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis auf größere Funktionsstörungen stößt und dadurch der betroffene Antragsteller tatsächlich der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17). Dass sich ein anderer Mitgliedstaat in diesem Falle nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU berufen darf, folgt aus dem absoluten Charakter des Verbotes in Art. 4 GRCh, wonach ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verboten ist, ohne dass es darauf ankommt, ob eine solche Behandlung zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss droht (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.; BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 34.19 – juris Rn. 17).
Bereits aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in seiner Entscheidung „Ibrahim“ vom 19. März 2019 ergibt sich, dass Mängel des Asylsystems nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen können, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 88 f; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 34). Diese Schwelle soll erst dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre psychische oder physische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 90; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39). Selbst durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betroffenen Person ist diese Schwelle nicht erreicht, wenn diese Verhältnisse nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass diese einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim u.a., C-297/17 u.a. – juris Rn. 91; B.v. 13.11.2019 – Hamed u.a., C-540/17 u.a. – juris Rn. 39).
In jedem Fall muss nach den dargestellten Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs ein „real risk“ der Verletzung von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bestehen, was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 – W 9 K 20.30260 – juris Rn. 26).“
(VG Ansbach, U.v. 16.3.2022 – AN 14 K 20.50315 – juris Rn. 28 ff.)
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In Anwendung dieser Grundsätze ist im konkreten Einzelfall vorliegend davon auszugehen, dass dem Kläger als anerkannt Schutzberechtigtem bei einer Rückkehr nach Italien aufgrund der in seiner Person liegenden individuellen Umstände wegen des dortigen Asylsystems im Ergebnis mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh bzw. gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht.
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a) Mit der überwiegenden Auffassung in der Rechtsprechung (vgl. im Einzelnen die Nachweise etwa in VG Ansbach, U.v. 16.3.2022 – AN 14 K 20.50315 – juris Rn. 34; a.A. OVG NRW, U.v. 20.7.2021 – 11 A 1674/20.A – juris) und unter Berücksichtigung der vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid im Einzelnen herangezogenen Erkenntnismittel (Begründung des Bescheids vom 29.9.2021, S. 3 ff. zu Ziffer 1.) geht der Einzelrichter dem Grunde nach davon aus, dass unter Zugrundelegung der oben dargestellten Maßstäbe anerkannt Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte Gefahr droht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die vorgenannten Entscheidungen bzw. eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
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b) Im Falle des Klägers ist allerdings zu berücksichtigen, dass er in Deutschland Vater von zwei (Kleinst-)Kindern im Alter von ... Jahren und von ... Monaten ist, für die er mit seiner Ehefrau, mit der im gleichen Haushalt zusammenlebt, das gemeinsame Sorgerecht ausübt. Bei Zugrundelegung einer realitätsnahen Rückkehrsituation (vgl. dazu BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – BVerwGE 166, 113 Rn. 15 ff.) ist für die Betrachtung der drohenden Gefahren damit auf die Rückkehr (bzw. gemeinsame Ausreise) der gesamten Kernfamilie nach Italien abzustellen. Denn auch wenn der Ehefrau des Klägers und dem älteren der beiden Kinder im Bundesgebiet ein Abschiebungsverbot für das Herkunftsland Afghanistan zuerkannt ist, ist eine Trennung der Familie in unterschiedlichen Aufenthaltsländern (Italien und Bundesrepublik Deutschland) gerade nicht zu erwarten (ebenso VG Ansbach, U.v. 16.3.2022 – AN 14 K 20.50315 – juris Rn. 54; VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – NVwZ-RR 2022, 963 Rn. 31 ff.).
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Damit ist die im angefochtenen Bescheid des Bundesamtes zugrunde gelegte Bewertung der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren, die von der Rückkehr eines (einzelnen; sic) „gesunden, arbeitsfähigen jungen Mann“ (Begründung des Bescheids vom 29.9.2021, S. 13 zu Ziffer 1.) ausgeht, nicht (mehr) zutreffend.
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c) Für diese Rückkehrsituation einer Familie mit (Klein-)Kindern hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg festgestellt, dass wegen der „besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeit von Kindern die EU-Mitgliedsstaaten zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch Kooperation mit den italienischen Behörden sicherstellen müssen, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen wird, damit garantiert werden kann, dass der(en) besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist“ (VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – NVwZ-RR 2022, 963 Rn. 41). Von einer diesen Anforderungen Rechnung tragenden Kooperation und damit der Vermeidung eines Verstoßes gegen die Anforderungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh ist nur im Falle des Vorliegens einer hinreichend belastbaren Versorgungszusicherung der italienischen Behörden auszugehen (VGH BW, U.v. 7.7.2022 a.a.O).
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Im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 3 AsylG) liegt eine derart belastbare Zusicherung aufgrund einer Kooperation der deutschen und italienischen Behörden im Hinblick auf eine Rückführung des Klägers einschließlich der Kernfamilie nicht vor.
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aa) Zwar hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 12. September 2022 zur generellen Koordination zwischen den deutschen und italienischen Behörden im Falle einer Rückführung von Familien nach Italien vorgetragen. Gegenstand dieser Ausführungen ist jedoch nur die Erkenntnis, dass zwischen den Institutionen der beiden beteiligten Staaten entsprechende Abstimmungsgespräche für den Fall der geplanten Rückführung nach Italien stattfinden werden. „Derartige Aussagen aber können die Anforderungen, die die „Tarakhel“-Rechtsprechung [vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, U.v. 4.11.2014 – „Tarakhel“ v. Switzerland, Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127 Rn. 122; Anm. des Unterzeichners] an die Sicherstellung familiengerechter Unterbringung unmittelbar nach Rücküberstellung stellt, nicht erfüllen“ (VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 50).
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Zwar folgt der Einzelrichter insoweit auch der Auffassung in der vorgenannten Entscheidung (a.a.O.), dass die „Tarakhel“-Anforderungen nicht zwingend eine in jedem Einzelfall erfolgende Kooperation zwischen den Behörden – insbesondere individuelle Zusicherungen – voraussetzen, sondern gegebenenfalls auch durch eine allgemeine Erklärung der zuständigen italienischen Behörden erfüllt werden können. „Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass sich aus einer solchen Erklärung hinreichend klar ergibt, dass die Zurverfügungstellung von geeignetem Wohnraum unmittelbar nach Rückkehr garantiert wird. Eine Einschränkung dahingehend, dass Wohnraum im Rahmen vorhandener Kapazitäten zur Verfügung gestellt wird, würde dem nicht gerecht. Vielmehr muss sich der Erklärung hinreichend klar entnehmen lassen, dass dieser Wohnraum tatsächlich und bedingungslos gewährt wird und die Zusage insbesondere nicht unter Finanzierungs- oder Kapazitätsvorbehalten steht, und dass die Überstellung zwingend unterbleibt, soweit diese Voraussetzungen nicht vollumfänglich erfüllt sind“ (VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 50).
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Eine derartige unbedingte Erklärung liegt erkennbar nicht vor, sie wurde von der Beklagtenseite im vorliegenden Verfahren auch nicht im Schriftsatz vom 12. September 2022 konkret in Aussicht gestellt.
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bb) Hinzu kommt, dass nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln eine Unterbringung des Klägers – und seiner mit ihm nach Italien zurückkehrenden Familie mit zwei (Klein-)Kindern (s.o. zu a) – in einer sog. SAI-Einrichtung nur abhängig von der Auslastung und für den Kläger (und damit auch seiner Familie) als anerkannt Schutzberechtigtem nur für einen begrenzten Zeitraum von maximal sechs Monaten zur Verfügung steht (Gemeinsamer Bericht des Auswärtigen Amtes, des Bundesministerium des Inneren und für Heimat und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zur Aufnahmesituation von Asylantragstellenden sowie anerkannt Schutzberechtigten in Italien, Stand Sept. 2022, [GB], S. 11; vgl. auch VG Bremen, U.v. 4.7.2022 – 6 K 2242/21 – juris Rn. 27).
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Eine Verlängerung dieses Zeitraums um weitere sechs Monate ist zwar möglich (a.a.O.), hängt aber dann eben wiederum von Faktoren ab, die der – hier nicht vorliegenden – Zusicherung im Rahmen der Rückführung der Familie nach Italien entzogen sind. Insoweit sind insbesondere die bereits generell, und durch die große Anzahl von Einreisen nach Italien noch verstärkte, nur in einer beschränkten Zahl zur Verfügung stehenden Unterkunftskapazitäten in den sog. SAI-Einrichtungen zu berücksichtigen (GB, S. 8; Länderinformation der Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Italien, Stand 1.7.2022, S. 12; vgl. auch VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 52).
34
d) Der Kläger wird somit einer unsicheren Unterbringungssituation für sich und seine Familie ausgesetzt sein. Gleichzeitig ist er als alleine Erwerbsfähiger – die Ehefrau ist aufgrund des Alters des zweitgeborenen Kindes zu einer den Lebensunterhalt ansatzweise sichernden Erwerbstätigkeit nicht in der Lage – für die Sicherung des Lebensunterhalts der vierköpfigen Familie verantwortlich. Vor diesem Hintergrund ist es für den Einzelrichter nicht vorstellbar, dass der Kläger alleine für sich und seine Familie ein Einkommen schaffen kann, „das die Gefahr einer Verletzung von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK ausschließen würde“ (VG Ansbach, U.v. 16.3.2022 – AN 14 K 20.50315 – juris Rn. 59; ebenso VG Bremen, U.v. 4.7.2022 – 6 K 2242/21 – juris Rn. 29).
35
e) Die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids ist somit wegen des mit der Rückführung eintretenden Verstoßes gegen die Anforderungen aus Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh als rechtswidrig aufzuheben.
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3. Mit Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids entfällt auch die Grundlage für die Folgeentscheidungen in den Ziffern 2 mit 4, soweit sie nicht das festgestellte Abschiebungsverbot hinsichtlich des Iran betreffen. Sie sind deshalb ebenso aufzuheben (VG Ansbach, U.v. 16.3.2022 – AN 14 K 20.50315 – juris Rn. 62; VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 53).
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Die in Ziffer 5 des angefochtenen Bescheids geregelte Aussetzung der Abschiebungsanordnung ist gegenstandslos geworden.
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Mit dem Erfolg der Klage hinsichtlich des Hauptsacheantrags war über den Hilfsantrag nicht mehr zu entscheiden.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.