Titel:
Privates Baurecht: Architektenvergütung – Unanwendbarkeit der Bestimmung zu Mindesthonoraren für Architekten nach § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2020 bei grenzüberschreitendem Sachverhalt wegen unionsrechtlich ungerechtfertigten Eingriffs in die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV)
Normenketten:
AEUV Art. 56
EGV Art. 49, Art 50
HOAI 1966/2022 § 4 Abs. 1, § 4 Abs. 4,
HOAI 2013 § 7
Leitsätze:
1. Die Vorschrift zum Mindesthonorar nach § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 findet bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt zwischen Privaten keine Anwendung, da die Vorschrift in nicht rechtfertigender Weise in die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EWG (Art. 56 AEUV) eingreift. (Rn. 65 – 38)
2. Die Dienstleistungsfreiheit entfaltet unmittelbare Drittwirkung. (Rn. 54)
1. Eine Beschränkung (der Dienstleistungsfreiheit) ist nur dann zulässig, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses vorliegt (st. Rspr., statt vieler: EuGH BeckRS 2004, 71378 (Cassis de Dijon)) und die Beschränkung verhältnismäßig, insbesondere kohärent, ist. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 ist unverhältnismäßig, nämlich inkohärent, weil sie nicht sicherstellt, dass die Planungsleistungen nur von Dienstleistern erbracht werden, die eine entsprechende fachliche Eignung besitzen und weil sie die Regelung zu den Mindestsätzen nicht bestimmten Berufsständen vorbehält. (Rn. 74 und 78) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
privates Baurecht, Architektenhonorar, Mindestvergütung, grenzüberschreitender Sachverhalt, Dienstleistungsfreiheit, Drittwirkung, ungerechtfertigter Eingriff, Verhältnismäßigkeit, europarechtliche Kohärenz, berufsständischer Vorbehalt
Rechtsmittelinstanz:
OLG München vom -- – 28 U 2486/23
Fundstellen:
MDR 2023, 836
BeckRS 2023, 9035
NZBau 2023, 744
NJW-RR 2023, 1002
LSK 2023, 9035
NJW 2023, 2501
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 1.345.626,03 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten restliches Architektenhonorar mit Blick auf die Mindestsätze der HOAI 1996/2002.
2
Die Klägerin ist eine Planungsgesellschaft; zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses firmierte sie noch als G. G. f. B. und P. mbH (vgl. Anlage K2).
3
Die Beklagte ist ein spanischer Touristikkonzern mit Sitz in Barcelona (Spanien) und Auftraggeberin. Sie ist als S.A. (S...) eine Aktiengesellschaft spanischen Rechts.
4
Die Parteien schlossen am 03./04.05.2007 einen Architektenvertrag über die Planung und Bauüberwachung für das Bauvorhaben Neubau 4*-Hotel Eu... Gr. C. in der A1. straße 35, ... M. zu einem Pauschalhonorar von 2.000.000,00 € netto zzgl. USt. (Anlage K1). Gemäß der „Kostenschätzung nach Gewerken“ vom 03.05.2007 (Anlage K6) gingen die Parteien von Baukosten in Höhe von 18.750.380,00 € aus (vgl. § 4 Ziff. 4.8 der Anlage K1), wobei in Anlage K6 diese Baukosten als Bruttokosten ausgewiesen wurden. Als Gesamtfertigstellungstermin vereinbarten sie den 01.06.2009 (vgl. § 6 Ziff. 6.2 der Anlage K1).
5
In § 4 Ziff. 4.6 Abs. 3 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) war folgendes vorgesehen:
„Die Vertragsparteien haben die Honorargrundlagen geprüft und sind übereinstimmend unter Berücksichtigung der geschätzten anrechenbaren Kosten zu dem Ergebnis gekommen, dass im Hinblick auf den beauftragten Leistungsumfang die gesetzlichen Mindestsätze der HOAI nicht unterschritten und die gesetzlichen Höchstsätze der HOAI nicht überschritten werden.“
6
In § 4 Ziff. 4.8 Abs. 2 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) war folgendes vorgesehen:
"Die vereinbarten Honorare erhöhen sich grundsätzlich nicht, wenn die Baukosten schließlich höher sind als anfangs von beiden Parteien vorgesehen. Erhöhen sich die Baukosten um mehr als 15% und beruht diese Baukostenerhöhung darauf, dass der Auftraggeber entscheidet, das Qualitätsniveau des Hotels oder aber der Kategorie zu erhöhen, erhöhen sich die Honorare entsprechend der tatsächlichen prozentualen Veränderung der Baukosten.“
7
In § 6 Ziff. 6.2 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) war folgende Vertragsstrafenregelung vorgesehen:
„Für die schuldhafte Überschreitung des Gesamtfertigstellungstermins am 01.06.2009 hat der Auftragnehmer für jeden Tag des Verzuges eine Vertragsstrafe in Höhe von 0,1% der Nettoschlussrechnungssumme des AN zu zahlen. Die Vertragsstrafe wird auf insgesamt 5% der Nettoschlussrechnungssumme des AN begrenzt. […]“
8
Eigentümerin des Hotel-Grundstücks, Bauherrin und 100%-iges Tochterunternehmen der Beklagten ist die H. H. GmbH & Co. KG. Diese beauftragte die L. GmbH & Co. KG, Straße ..., 6... N., als Generalunternehmerin mit der Bauausführung des von der Klägerin geplanten Hotel-Neubaus zu einem Pauschalfestpreis in Höhe von 23.590.000,00 € netto (vgl. § 6 Ziff. 6.1 der Anlage B2).
9
Der Hotel-Neubau wurde zwischen Februar 2008 und August 2009 errichtet. Die Eigentümerin des Hotel-Grundstücks nahm am 20.08.2009 die Bauleistungen der Generalunternehmerin unter Teilnahme der Klägerin ab. Das Hotel ist seit September 2009 in Betrieb.
10
Die Beklagte zahlte das vereinbarte Pauschalhonorar sowie einen zusätzlichen Abschlag von einmalig 59.500,00 € brutto an die Klägerin. Eine Honoraranpassung lehnte die Beklagte ab.
11
Am 27.07.2009 forderte die Klägerin die Beklagte mit der Begründung der Mindestsatzunterschreitung auf, bis zum 06.08.2009 eine Bauhandwerkersicherung über 675.000,00 € nach § 648a Abs. 1 BGB a.F. zu stellen (Anlage K4). Mit weiterem Schreiben vom 19.08.2009 setzte die Klägerin eine Nachfrist bis zum 28.08.2009 samt Kündigungsandrohung (Anlage K5). Nach fruchtlosem Ablauf dieser Frist tauschten die Parteien keine Leistungen mehr aus.
12
Die Klägerin erstellte am 09.11.2009 die Schlussrechnung (Anlage K6) und übersandte diese unter dem 10.11.2009 an die Beklagte mit Zahlungsfrist bis zum 10.12.2009 (Anlage K7). Die Klägerin stützte ihre Honorarforderung auf das Mindesthonorar nach HOAI 1996/2002 betreffend Gebäudeplanung, Tragwerksplanung und technische Ausrüstung. Im Übrigen blieben die vereinbarten Teilpauschalen unverändert.
13
Mit Schreiben vom 29.11.2009 rügte die Beklagte die fehlende Prüfbarkeit der Schlussrechnung unter Verweis auf eine fehlende Abgrenzung erbrachter und nicht erbrachter Leistungen (Anlage B1).
14
Mit Mahnschreiben vom 22.12.2009 setzte die Klägerin der Beklagten eine weitere Frist zur Zahlung bis zum 29.12.2009 (Anlage K8). Diese Frist verstrich fruchtlos.
15
Die Klägerin trägt vor, ihr stünde über das in Höhe von 2.000.000,00 € netto vereinbarte Honorar noch weiteres Honorar in Höhe von 1.345.626,03 € brutto zu, da Änderungswünsche der Beklagten zu einem Anstieg der Baukosten geführt hätten und die Mindestsätze der HOAI durch die Pauschalhonorarvereinbarung unterschritten würden.
16
Die Klägerin trägt ferner vor, die Schlussrechnung sei prüffähig und das Honorar sei zutreffend ermittelt, insbesondere im Hinblick auf die anrechenbaren Kosten, die Bewertung der Leistungsphasen und die Berechnung des Honorars nach Mindestsätzen. Dies ergebe sich richtigerweise aus der Kostenberechnung vom 14.05.2007 (Anlage 2 der Anlage K6), dem Kostenanschlag vom 14.01.2008 (Anlage 3 der Anlage K6) sowie der Kostenfeststellung vom 27.10.2009 (Anlage 4 der Anlage K6).
17
Die Klägerin trägt vor, sie sei umfassend mit den Grundleistungen beauftragt worden. Bis zur Kündigung seien nahezu alle geschuldeten und erforderlichen Leistungen erbracht und der Hotel-Neubau sei bis auf wenige unwesentliche Restmängel errichtet worden. Lediglich Leistungen der Leistungsphase 9 „Objektbetreuung“ bezogen auf das Gebäude und die technische Ausrüstung würden teilweise noch fehlen. Dies begründe jedoch allenfalls einen prozentualen Honorarabzug bei den Leistungsphasen 8 und 9 von insgesamt 2%. Der Hotel-Neubau sei seit der Abnahme durch die Beklagte beanstandungsfrei in Betrieb.
18
Die Klägerin behauptet schließlich, die Parteien hätten sich im Vergleichswege geeinigt, den Fertigstellungstermin auf den 15.08.2009 zu verschieben (Anlage K13). Der Vertrag enthalte ferner keine Bausummengarantien.
19
Die Klägerin meint, sie sei umfassend mit den Grundleistungen beauftragt worden, was sich aus den Vollständigkeitsklauseln § 3 Ziff. 3.3.4 Abs. 2 und § 4 Ziff. 4.1, 4.6 des Vertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) ergebe. Danach seien alle vom vereinbarten Pauschalhonorar für die Erreichung der Vertragsziele erforderlichen Planungsleistungen von der Klägerin geschuldet. Dass einzelne Grundleistungen nachträglich entfallen können, wenn diese zur Erreichung der Vertragsziele nicht erforderlich sind, bedeute nicht, dass diese nicht beauftragt seien.
20
Die Klägerin ist der Meinung, der Architektenvertrag gelte mit Wirkung zum 29.08.2009 wegen § 643 BGB a.F. als aufgehoben. Ihr stünde das über das ursprünglich vereinbarte und gezahlte Pauschalhonorar hinausgehende Mindesthonorar der HOAI 1996/2002 betreffend die Leistungsbilder Gebäudeplanung, Tragwerksplanung und Technische Ausrüstung zu; im Übrigen bleibe es bei den vereinbarten Pauschalen. Die Beklagte habe den Mehrvergütungsanspruch der Klägerin durch die Zahlung eines zusätzlichen Abschlags dem Grunde nach anerkannt. Mit der Aufhebung des Vertrages sei der Honoraranspruch sofort fällig. Es bedürfe in diesem Fall weder einer Abnahme der erbrachten Leistungen der Klägerin, noch sei die Vorlage einer prüffähigen Schlussrechnung erforderlich. Dem Honoraranspruch könnten zudem keine Leistungsverweigerungsrechte der Klägerin wegen etwaiger Planungs- bzw. Bauüberwachungsmängeln entgegengehalten werden.
21
Die Klägerin ist ferner der Meinung, sie sei auch nicht unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben an der Geltendmachung der Mindestsätze gehindert. Maßgeblich für die Berechnung des HOAI-Mindestsatzes sei allein die objektiv richtige Kostenermittlung. Eine Bindungswirkung an eine unzutreffende Kostenermittlung bestehe nicht. Aufgrund der vorgesehenen stufenweisen Beauftragung seien die einzelnen Preisabreden abtrennbar, sodass von einer Teilbarkeit des Rechtsgeschäfts nach § 139 BGB auszugehen sei.
22
Die Klägerin meint schließlich, das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 04.07.2019 (Rs.: C-377/17 (Kommission ./. Bundesrepublik)) habe keine Auswirkungen auf das vorliegende Verfahren. Insbesondere hätten EU-Richtlinien keine direkte Wirkung bei Streitigkeiten zwischen Privaten. Im Hinblick auf die Grundfreiheiten fehle es an einer grenzüberschreitenden Leistung der Klägerin. In persönlicher Hinsicht schützen die Niederlassungs- sowie die Dienstleistungsfreiheit nicht die Beklagte, sondern allenfalls die Klägerin, sodass es an einer Betroffenheit der Beklagten fehle. Die Nichtanwendung der Mindestsätze der HOAI 1996/2002 führe zudem zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung und Schlechterstellung von Planern, die für ihren Auftraggeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat tätig seien. Die Anwendbarkeit der Mindestsätze folge schließlich aus § 4 Abs. 4 HOAI 1996/2002.
23
Die Klägerin beantragt zuletzt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.345.626,03 € nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 11.12.2009 zu zahlen.
24
Die Beklagte beantragt,
25
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 04.10.2010 (Bl. 221 d.A.) sowie mit Schriftsatz vom 09.07.2018 (Bl. 1458 d.A.) die Eventualaufrechnung erklärt.
26
Die Beklagte trägt vor, das streitgegenständliche Bauvorhaben sei das erste der Beklagten in Deutschland. Zuvor habe sie noch keinen Architektenvertrag mit einem deutschen Architekten geschlossen gehabt. Von der HOAI habe sie noch nie zuvor gehört. Sie sei daher wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Honorare frei vereinbart werden könnten. Die Klausel in § 4 Ziff. 4.8 Abs. 3 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) stamme aus der Feder Klägerin. Über die Klausel sei nicht verhandelt worden, sodass es sich um AGB handle. Das Qualitätsniveau des Hotels bzw. die Hotelkategorie sei während der gesamten Planung unverändert geblieben. Die Klägerin habe gegenüber der Beklagten über ein überragendes rechtliches Fachwissen hinsichtlich der Spezialmaterie HOAI verfügt, den Vertragstext formuliert und entsprechendes Vertrauen in Anspruch genommen, als sie der Beklagten mehrfach versicherte, das Bauvorhaben für das vereinbarte Pauschalhonorar erbringen zu können. Dennoch habe die Klägerin die Beklagte nicht über die Mindestsätze der HOAI aufgeklärt.
27
Die Beklagte trägt zudem vor, es seien nicht alle Grundleistungen beauftragt worden, sondern nur die erforderlichen, wobei nicht alle Grundleistungen erforderlich gewesen seien. So habe die Klägerin unter anderem keine Außenanlagen planen müssen, da diese nicht erforderlich waren. So behauptet die Beklagte weiter, das Architekturbüro A. & Partner habe bereits vor Vertragsschluss eine ausgereifte Planung für die K. Architektur und Bau Gesellschaft mbH erbracht, in die lediglich von der Klägerin die Sonderwünsche der Beklagten eingepasst werden mussten (Anlage B7). Ein (Mindestsatz)-Honorar stehe der Klägerin für die Leistungsphasen 1-3 daher nicht zu, da die von der Klägerin erstellten Vorlagen keine wesentlichen Änderungen enthielten bzw. solche jedenfalls nicht erforderlich gewesen seien. Gegebenenfalls erforderliche Änderungen würden von der Leistungsphase 4 abgedeckt.
28
Die Klägerin habe darüber hinaus nicht alle Leistungen erbracht, die sie hätte erbringen müssen.
29
Die Leistungen der Klägerin seien nicht abnahmefähig. Die Klägerin habe in der Schlussrechnung nicht aufgeschlüsselt, welche Leistungen sie erbracht bzw. nicht erbracht habe; eine pauschale prozentuale Bewertung genüge nicht. Der Schlussrechnung sei nicht zu entnehmen, nach welchen Kriterien das Bauvorhaben in Honorarzonen einzuordnen sei; die angesetzten Honorarzonen träfen jedenfalls nicht zu. Die mit Schlussrechnungsstellung vorgelegte Kostenberechnung nenne den ursprünglich angesetzten Bruttobetrag als Nettobetrag.
30
Zudem erklärt die Beklagte, der Generalunternehmerin stehe keine höhere Forderung zu als der zwischen der Bauherrin und der Generalunternehmerin um unstrittige Kürzungen bereinigte Pauschalfestpreis in Höhe von 23.194.495,34 €.
31
Schließlich trägt die Beklagte vor, die Kosten des Bauvorhabens seien überschritten worden und die verspätete Fertigstellung beruhe auf einer zu späten Planlieferung, einer ungenügenden Vorbereitung von Bemusterungen, abnahmehindernden Planungsfehlern sowie einer unberechtigten Leistungseinstellung. Für den Zeitraum 01.07.2009 bis 01.09.2009 seien ein Umsatzausfall in Höhe von 1.384.842,67 € sowie Finanzierungskosten entstanden. Außerdem seien ihr Schäden aus Planungsfehlern wie der zu lauten Lüftung in den Zimmern mit Mangelbeseitigungskosten von mindestens 350.000,00 € und einem Gesamtschaden von 1.055.800 € entstanden. Ferner würden die Fenster eine zu geringe Absturzhöhe aufweisen. Für dafür notwendige Reparaturen entstünden Kosten in Höhe von 336.000,00 € auf Straßenseite sowie für Reparaturmaßnahmen und wegen Umsatzausfalls auf Hofseite in Höhe von 1.330.400,00 €. Ferner bestünden noch weitere Mängel (Seiteneingang Restaurant, Abflussrohre, Anschluss an öffentlichen Gehweg), für die Mangelbeseitigungskosten von mindesten 80.000,00 € anfallen würden. Es liege ein Planungsmangel für das im Poolbereich verwendete Schwimmbad-Lüftungsgerät vor. Für den Austausch dieses Schwimmbad-Lüftungsgeräts seien Kosten über 75.550,63 € angefallen.
32
Die Beklagte meint, das Vertragsverhältnis sei mangels berechtigten Verlangens nach Sicherheit nicht beendet; es liege jedenfalls eine erhebliche Zuvielforderung vor. Mangels Beendigung des Vertragsverhältnisses sei der Honoraranspruch daher nicht fällig, jedenfalls aber durch Aufrechnung mit einem Schadenersatzanspruch wegen Verletzung einer Aufklärungs- und Hinweispflicht (Dolo-agit-Einrede) erloschen. Die Klägerin sei an die getroffene Honorarvereinbarung gebunden, selbst wenn diese wegen angeblichen Verstoßes gegen die Mindestsatzregelung unwirksam sein sollte. Aufgrund § 4 Ziff. 4.8 Abs. 3 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) müsse sich die Klägerin selbst dann an das vereinbarte Pauschalhonorar halten, wenn dieses unter den gesetzlichen Honorarmindestsätzen liegen würde. Die vertraglichen Voraussetzungen zur Erhöhung des Pauschalhonorars lägen jedenfalls nicht vor. Die Bestimmung in § 4 Ziff. 4.6 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) enthalte keine verbindlichen Teilpauschalen; vielmehr sei die Aufschlüsselung nur aus informativen Gründen vorgenommen worden.
33
Die Honorarberechnung nach Mindestsätzen sei nicht richtig, da auch insoweit die ursprünglichen Vereinbarungen zur Honorarberechnung berücksichtigt werden müssten: ursprünglich hätten die Vertragsparteien allein auf die Kostenschätzung bzw – berechnung (letztere habe zum Zeitpunkt der Honorarvereinbarung bereits vorgelegen, da der Planungsstand hinreichend detailliert vorlag) abgestellt; der Klägerin sei es daher verwehrt, nunmehr auch auf den Kostenanschlag und die Kostenfeststellung abzustellen. Dazu, dass das Vertragsverhältnis zwischen den Parteien so zu verstehen sei, passe auch, dass eine Änderung der Baukosten keine Auswirkung auf das Honorar haben sollte.
34
Die Beklagte ist ferner der Meinung, die Schlussrechnung der Klägerin sei nicht prüffähig, sondern vielmehr willkürlich („Rosinentheorie“): Die zusätzliche Abschlagszahlung über 59.500,00 € sei nicht in das Pauschalhonorar eingerechnet worden. Es sei widersprüchlich, wenn die Klägerin vorträgt, sie sei berechtigt, eine Anpassung des ursprünglichen Pauschalhonorars zu verlangen, der Vergleichsberechnung zum Nachweis einer Mindestsatzunterschreitung dann aber die ursprünglich vereinbarte Pauschale zu Grunde lege. Es sei nicht nachvollziehbar, ob und ggf. in welcher Höhe bei einer korrekten Gegenüberstellung aller beauftragten Leistungen ggf. eine Mindestsatzunterschreitung auftreten könne. Welche der vom Generalunternehmer abgerechneten Kosten nun in welcher Form zu anrechenbaren Kosten umgesetzt würden, sei aus der Schlussrechnung nicht zu entnehmen. Ferner sei ein Mindestsatzvergleich nur bei einer Gesamtbetrachtung möglich. So dürften bei der Berechnung von Mindestsätzen z.B. besondere Leistungen nicht berücksichtigt werden, da es keine schriftliche Vergütungsvereinbarung hierzu gebe. Auch gebe es keine Honorarvereinbarung für Einzelpauschalhonorare einzelner Grundleistungen oder für Nebenkosten. Die Beklagte meint ferner, wenn eine Kostenermittlung für eines der beauftragten Leistungsbilder zu anrechenbaren Kosten oberhalb des für das jeweilige Leistungsbild vorgesehenen Höchsttafelwertes liege, der Mindestsatzschutz für die gesamte Vertragsleistung nicht greife. Im Übrigen stelle es ein treuwidriges Verhalten des Architekten/ Ingenieurs dar, wenn dieser sich ein Pauschalhonorar versprechen lasse, dann jedoch nach Abschluss der Baumaßnahme den Abrechnungsmodus ändere und dem Besteller eine auf Mindestsatzbasis erstellte Honorarschlussrechnung präsentiere (venire contra factum proprium).
35
Die Beklagte ist zudem der Meinung, die Regelungen zum sog. Kalkulationsirrtum seien zu beachten. Selbst wenn die Klägerin in der Kostenschätzung nach Gewerken vom 03.05.2007 versehentlich Bruttostatt Nettopreise – wie nicht – ausgewiesen habe, könne das nicht zu Lasten der Beklagten gehen.
36
Die Beklagte meint ferner, die Schlussrechnung sei auch unter anderem wegen der folgenden Punkte evident fehlerhaft: Bei angeblichen Bauzeitverlängerungen und einem gestörten Bauablauf handle es sich nicht um anrechenbare Kosten, da es sich insoweit um Schadenersatzansprüche und nicht um Mehrvergütungsansprüche handle. Ansätze aus der Kostengruppe 4 seien bei der Ermittlung der Mindestsatzhonorare für das Leistungsbild Tragwerksplanung ferner nicht anrechenbar. Eine Anrechnung der Haustechnikkosten (TGA) für das Leistungsbild der Objektplanung könne nicht verlangt werden. Die Klägerin habe zudem keinen Anspruch auf Mindestsatzhonorar für die Leistungsphasen 1 bis 3/4, da sie sich diese nicht zweimal vergüten lassen dürfe. Der Kaufpreis für fertig gestellte Planungsergebnisse unterliege nicht der Mindestsatzbindung. Zudem sei die Architektenleistung nicht mehrwertsteuerpflichtig.
37
Die Beklagte meint des Weiteren, ihr stünde gegen die Klägerin eine Vertragsstrafe wegen der Verzögerung der Gesamtfertigstellung in Höhe von 100.000,00 € zu, da die Klägerin den Verzug zu vertreten habe. Wegen der Kostenüberschreitung des Bauvorhabens stehe ihr ein weiterer Schadensersatzanspruch zu.
38
Die Beklagte ist schließlich der Meinung, die Vorgabe verbindlicher Mindest- und Höchstpreise in § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 stelle eine unverhältnismäßige und damit rechtswidrige Beeinträchtigung der Grundfreiheiten aus Art. 43 und Art. 49 EGV dar. Ein grenzüberschreitender Sachverhalt sei gegeben.
39
Die Kammer hat aufgrund Beweisbeschluss vom 29.08.2011 (Bl. 313/317 d.A.), ergänzt durch Beschluss vom 04.11.2011 (Bl. 345/348 d.A.) sowie durch Beschluss vom 21.06.2012 (Bl. 392/394 d.A.) Beweis erhoben durch ein Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) K., auf dessen schriftliche Ausführungen vom 27.03.2014 verwiesen wird (Bl. 440/651 d.A. zzgl. 5 Leitzordner Anlagen).
40
Zudem hat der Berichterstatter als beauftragter Richter den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vom 19.07.2018 (Bl. 1461/1474 d.A.) gemäß Beweisbeschluss vom 27.04.2018 (Bl. 1444/1446 d.A.) hierzu in noch nicht abschließender Art und Weise mündlich angehört. Im Hinblick auf das Ergebnis der Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll vom 19.07.2018 (Bl. 1461/1474 d.A.) verwiesen.
41
Die Kammer hat am 30.11.2010 (Bl. 243/248 d.A.), am 04.11.2011 (Bl. 345/348 d.A.), am 10.12.2013 (Bl. 434/437 d.A.), am 20.01.2020 (Bl. 1944/1948 d.A.), am 17.11.2020 (Bl. 1993/2012 d.A.) sowie in der mündlichen Verhandlung vom 12.10.2010 (Bl. 224/227 d.A.) und vom 26.01.2023 (Bl. 2259/2261 d.A.) Hinweise erteilt.
42
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf die Sitzungsprotokolle vom 12.10.2010 (Bl. 224/227 d. A.), vom 19.07.2018 (Bl. 1461/1474 d.A.), vom 11.04.2019 (Bl. 1895/1898 d.A.), vom 15.09.2020 (Bl. 1964/1966 d.A.) sowie vom 26.01.2023 (Bl. 2259/2261 d.A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
43
Die Klage ist zulässig (A.), aber unbegründet (B.).
44
Die Klage ist zulässig.
45
Das Landgericht München I ist sachlich nach §§ 1, 5 Hs. 1 ZPO in Verbindung mit §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sowie örtlich nach §§ 12, 29 ZPO zuständig.
46
Die Klage ist unbegründet.
47
Ein Anspruch der Klägerin auf ein nach den Mindestsätzen nach § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 berechnetes Honorar besteht nicht. Die Klägerin hat trotz Hinweis der Kammer nicht näher vorgetragen (I.). Zudem verstößt § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 gegen die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EGV und ist daher europarechtswidrig, sodass die Vorschrift im vorliegenden, grenzüberschreitenden Sachverhalt unanwendbar ist (II.). Aus gleichem Grund lässt sich ein Anspruch auch nicht auf § 4 Abs. 4, 1 HOAI 1996/2002 stützen (III.). Der Klägerin steht zudem kein Anspruch auf Anpassung des Honorars nach § 4 Ziff. 4.8 Abs. 3 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) zu, da dessen Voraussetzungen nicht vorliegen (IV.).
48
I. Trotz Hinweis der Kammer im Hinblick auf die Schlüssigkeit der Klage – zuletzt erteilt mit Beschluss vom 17.11.2020 (Bl. 1993/2012 d.A.) – hat die Klägerin ihren Vortrag nicht ausreichend dargelegt und substantiiert. Ein wiederholter Verweis der Klageseite auf Sachverständigengutachten wird den von der Kammer im genannten Beschluss dargestellten Anforderungen an eine hinreichend schlüssige und substantiierte Klage nicht gerecht.
49
II. Ungeachtet dessen hat die Klägerin keinen Anspruch auf ein nach den Mindestsätzen nach § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 berechnetes Honorar. Die Norm ist europarechtswidrig, so dass es insoweit nicht darauf ankommt, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 per se vorliegen würden. Die Europarechtswidrigkeit führt zur Unanwendbarkeit der Norm im vorliegenden, grenzüberschreitenden Fall.
50
1. Die Bestimmung des Art. 49 EGV ist unmittelbar anwendbar. Eine spezielle Regelung aus dem Sekundärrecht greift im vorliegenden Fall nicht.
51
a) Die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV ist Teil des unionsrechtlichen Primärrechts.
52
Die unionsrechtlichen Grundfreiheiten haben auf nationaler Ebene grundsätzlich unmittelbare Wirkung, da diese inhaltlich hinreichend bestimmt sind und eine unbedingte Verpflichtung enthalten, die keines weiteren Vollzugsakts mehr bedarf; sie haben „Selfexecuting“-Charakter (EuGH, U. v. 05.02.1963 – Rs.: C-26/62 (Van Gend en Loos)).
53
b) Sofern eine gesetzliche Regelung mit dem Primärrecht nicht im Einklang steht und auch nicht in Einklang zu bringen ist, kommt dem Primärrecht ein Anwendungsvorrang zu, sodass die nationale Regelung verdrängt wird (vgl. BVerfG, B. v. 06.07.2010 – Az.: 2 BvR 2661/06, in: NJW 2010, 3422, 3423). Der Anwendungsvorrang folgt aus dem Unionsrecht, weil die Union als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn die einheitliche Wirksamkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet wäre (vgl. EuGH, U. v. 15.07.1964 – Rs.: C-6/64 (Costa./. E.N.E.L.)).
54
c) Der Dienstleistungsfreiheit kommt im Hinblick auf den effet utile und der Konvergenz der Grundfreiheiten zudem eine Drittwirkung zu. Auf einen Verstoß gegen europäisches Primärrecht kann sich der Einzelne daher auch in einem Rechtsstreit gegenüber einem Privaten berufen mit der Folge, dass die mit dem europäischen (Primär-)Recht nicht in Einklang zu bringende nationale Regelung unangewendet bleiben muss (vgl. EuGH, U. v. 19.04.2016 – Rs.: C-441/14 (Danks Industrie); EuGH, U. v. 19.01.2010 – Rs.: C-555/07 (Kücükdeveci); EuGH, U. v. 11.12.2007 – Rs.: C-438/05 (Viking); EuGH, U. v. 18.12.2007 – Rs.: C-341/05 (Laval un Partneri)).
55
d) Eine Spezialregelung im Sekundärrecht lag zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vor, sodass eine solche auch nicht vorrangig zu berücksichtigen ist.
56
Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses galt der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) und damit die in diesem Vertrag normierten Grundfreiheiten, insbesondere die Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV). Die RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist zwar mit der Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union am 27.12.2006 – und damit vor Vertragsschluss – in Kraft getreten, die Umsetzungsfrist der Bundesrepublik Deutschland lief jedoch bis zum 28.12.2009. Dieser Zeitpunkt liegt erst nach dem Vertragsschluss vom 03./04.05.2007 (Anlage K1).
57
2. Durch die Mindestsatzregelung in § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 liegt ein nicht gerechtfertigter Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV vor.
58
a) Der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV ist eröffnet, da ein grenzüberschreitender Sachverhalt vorliegt, der sachliche sowie persönliche Schutzbereich gegeben ist und keine Bereichsausnahme eingreift.
59
aa) Ein grenzüberschreitender Sachverhalt liegt vor, da die Klägerin als Dienstleistungserbringerin und die Beklagte als Dienstleistungsempfängerin jeweils in einem anderen Mitgliedsstaat ansässig sind. Es ist insoweit irrelevant, dass die Leistung selbst in Deutschland zu erbringen war. Denn jedenfalls der Sitz der Beklagten als Auftraggeberin liegt nicht in Deutschland, sondern in Spanien und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union.
60
bb) Der persönliche sowie sachliche Schutzbereich ist eröffnet.
61
Gemäß Art. 50 EGV sind Dienstleistungen im Sinne dieses Vertrags Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Als Dienstleistungen gelten insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. Die Dienstleistungsfreiheit setzt dabei eine entgeltliche Leistung voraus, die selbstständig und weisungsfrei ausgeübt wird und in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit nach Art. 43 EGV nur von vorübergehender Natur ist.
62
Die Leistung von Architekten- und Ingenieursleistungen – wie hier – unterfällt damit in sachlicher Hinsicht als freiberufliche Tätigkeit dem Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit.
63
Der persönliche Anwendungsbereich ist gleichfalls eröffnet. Die Dienstleistungsfreiheit schützt sowohl die Dienstleistungserbringer als auch die Dienstleistungsempfänger. Die Beklagte kann sich als Dienstleistungsempfängerin auf die (negative) Dienstleistungsfreiheit berufen, da sie eine Binnengrenze überschreiten muss, um die Dienstleistung in Empfang zu nehmen.
64
cc) Eine Bereichausnahme im Sinne des Art. 55 EGV in Verbindung mit Art. 45 EGV liegt nicht vor, da es vorliegend nicht um eine Tätigkeit geht, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist.
65
b) Es liegt ein Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EGV vor.
66
Ein Eingriff liegt bei jeder unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung sowie auch bei nichtdiskriminierenden Maßnahmen vor, sofern diese eine Beschränkung darstellen. Nach der Dassonville-Formel stellt jede nationale Maßnahme, die geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Dienstleistungsfreiheit durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, eine Beschränkung im Sinne des Art. 49 EGV dar (EuGH, U. v. 11.07.1974 – Rs.: C-8/74 (Dassonville)). Nach der Keck-Formel darf es sich dabei jedoch nicht um eine bloße Einschränkung einer Modalität handeln, welche sämtliche Wirtschaftsteilnehmer gleichermaßen trifft (EuGH, U. v. 24.11.1993 – Rs.: C-267/91 (Keck et Mithourd)).
67
Eine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung liegt nicht vor. Jedoch beschränken die Mindestsätze die Dienstleistungsfreiheit. Sie erschweren es einem Dienstleistungsempfänger aus einem Mitgliedstaat mit einem Architekten zu kontrahieren, der seinen Sitz in der Bundesrepublik Deutschland hat und behindern es, einen günstigen, konkurrenzfähigen und attraktiven Preis zu vereinbaren.
68
Es handelt sich bei der Regelung in § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 auch nicht um eine bloße Dienstleistungsmodalität im Sinne der Keck-Rechtsprechung (EuGH, U. v. 24.11.1993 – Rs.: C-267/91 (Keck et Mithourd)), da der Kernbereich der Dienstleistung betroffen ist und gerade keine bloße Modalität.
69
Der Drei-Stufen-Test führt ebenfalls zu keiner anderen Einschätzung. Die Regelung hat zwar keinen diskriminierenden Charakter und der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung greift, es liegt jedoch eine sonstige Behinderung des Marktzugangs vor. Damit besteht auch nach dem Drei-Stufen-Test ein Eingriff.
70
c) Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt.
71
aa) Ein geschriebener Rechtfertigungsgrund im Sinne des Art. 55 EGV in Verbindung mit Art. 46 Abs. 1 EGV ist nicht ersichtlich.
72
bb) Eine – nicht diskriminierende – Beschränkung ist ferner nur dann zulässig, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses vorliegt (st. Rspr., statt vieler: EuGH, U. v. 20.02.1979 – Rs.: 120/78 (Cassis de Dijon)) und die Beschränkung verhältnismäßig, insbesondere kohärent, ist. An letzterem scheitert es jedoch, sodass § 4 Abs. 1 HOAI mit seiner Vorgabe verbindlicher Mindest- und Höchstpreise eine unverhältnismäßige und damit rechtswidrige Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit darstellt. Die Schranken-Schranken sind nicht gewahrt.
73
(1) Die RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungs-RL) ist in diesem Fall nicht anwendbar (vgl. unter Ziffer B.I.1.d.). Gleichwohl stellt die Dienstleistungs-RL eine Ausprägung von Werten dar, die selbst ihren Ursprung in den Grundfreiheiten haben. Aus diesem Grund kann hinsichtlich der Argumention zur Europarechtswidrigkeit des § 7 HOAI 2013 im Hinblick auf die Dienstleistungs-RL auf die tragenden Annahmen des EuGH zur Unvereinbarkeit der Mindestsätze (EuGH, U. v. 04.07.2019 – Rs.: C-377/17 (Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland), in: NZBau 2019, 511) gleichsam Bezug genommen werden. Die Dienstleistungs-RL diente der Konkretisierung der Grundfreiheiten (vgl. Erwägungsgründe Nr. 5 und Nr. 15 der Dienstleisuntgs-RL). Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch, dass die Bestimmungen der Dienstleistungs-RL den Grundfreiheiten ihrem Wesen nach schon immanent sind und ihr auch schon vor Erlass der Dienstleistungs-RL immanent waren.
74
(2) Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 ist unverhältnismäßig, da ein Fall von Inkohärenz vorliegt.
75
Die Verhältnismäßigkeit ist nur gegeben, wenn die Regelung zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Weniger einschneidende Maßnahmen dürfen zudem nicht zum selben Ergebnis führen.
76
Grundsätzlich sind die Ziele der Qualität der Arbeit und des Verbraucherschutzes zwingende Gründe des Allgemeininteresses (vgl. z.B. EuGH, U. v. 03.10.2000 – Rs.: C-58/98). Die Festsetzung von Mindesthonoraren ist per se auch geeignet, eine hohe Qualität der erbrachten Leistungen sowie den Schutz der Verbraucher sicherzustellen. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die Festsetzung eines Mindestpreises hilft, in einem Kontext wie dem eines Marktes, der durch eine ausgesprochen große Anzahl von Dienstleistungserbringern gekennzeichnet ist, einen Konkurrenzkampf zu vermeiden, der zu Billigangeboten führen könnte, was das Risiko eines Verfalls der Qualität der erbrachten Dienstleistungen zur Folge hätte (vgl. EuGH, 05.12.2006 – Rs.: C-94/04 und C-202/04 (Cipolla und Macrino/Capodarte, in: NZBau 2007, 43).
77
Eine Regelung kann jedoch nur verhältnismäßig sein, wenn sie zugleich kohärent ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH kann eine nationale Regelung nur dann geeignet sein, die Erreichung des angestrebten Ziels zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen (vgl. EuGH, U. v. 04.07.2019 – Rs.: C-377/17 (Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland), in: NZBau 2019, 511, Rn. 89).
78
Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 ist in dieser Hinsicht nicht kohärent, da im Rahmen der HOAI jedenfalls nicht sichergestellt sei, dass die Planungsleistungen nur von Dienstleistungserbringern erbracht werden, die eine entsprechende fachliche Eignung besitzen. Die HOAI und insbesondere die Regelung zu den Mindestsätzen sind jedoch gerade nicht bestimmten Berufsständen vorbehalten.
79
(3) Eine unzulässige Ungleichbehandlung von grenzüberschreitenden Sachverhalten gegenüber rein innerdeutschen Sachverhalten liegt im Übrigen nicht vor. Dazu sei darauf hingewiesen, dass das Europarecht Inländerdiskriminierung gerade nicht verbietet. Das Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung ändert sich hierdurch nicht.
80
3. Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 ist europarechtswidrig. Aufgrund der Drittwirkung der Dienstleistungsfreiheit wirkt sich dies wie oben beschrieben auch auf das Privatrechtsverhältnis aus, sodass der Klägerin kein Anspruch auf die Mindestsätze der HOAI zukommt.
81
4. Klarstellend weist die Kammer darauf hin, dass sie von einer Vorlage der Frage an den EuGH, ob § 4 Abs. 1 HOAI 1996/2002 gegen die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 49 EGV verstößt und sich dieser Verstoß unmittelbar auf das Privatrechtsverhältnis auswirkt, abgesehen hat (vgl. EuGH, U. v. 18.01.2022 – Rs.: C-261/20 (Thelen T. B1. GmbH ./. MN)). Eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH besteht gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV (ex-Art. 234 EGV) nicht (vgl. EuGH, U. v. 22.10.1987 – Rs.: 314/85 (Foto-Frost)). Zudem ist kein Fall einer Ermessensreduktion auf Null im Hinblick auf das Vorlageermessen ersichtlich.
82
III. Ein Anspruch der Klägerin auf das Mindesthonorar ergibt sich auch nicht aus § 4 Abs. 4 HOAI 1996/2002.
83
Der Einwand der Klägerin, die geschlossene Pauschalhonorarvereinbarung sei formell nach § 4 Abs. 4 HOAI 1996/2002 unwirksam, sodass schon aufgrund dessen auf die Mindestsätze zugegriffen werden soll, verfängt in rechtlicher Hinsicht nicht. Wie bereits unter Ziffer B.I. festgestellt, sind die Regelungen der HOAI 1996/2002 europarechtswidrig. Selbst bei Annahme einer formellen Unwirksamkeit der Pauschalhonorarvereinbarung könnte daher auf die Mindestsatzregelungen nicht zurückgegriffen werden. Ein Tatsachenvortrag der Klägerin, inwiefern in dieser Konstellation dann das Honorar berechnet werden soll und die Darstellung der hierfür notwendigen Aspekte ist jedoch unterblieben.
84
IV. Der Klägerin steht zudem kein Anspruch auf Anpassung des Honorars nach § 4 Ziff. 4.8 Abs. 3 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) zu, da dessen Voraussetzungen nicht vorliegen.
85
Gemäß § 4 Ziff. 4.8 Abs. 2 des Architektenvertrages vom 03./04.05.2007 (Anlage K1) erhöhen sich die vereinbarten Honorare grundsätzlich nicht, wenn die Baukosten letztendlich höher sind als anfangs von beiden Parteien vorgesehen. Das Honorar erhöht sich nur, wenn sich die Baukosten um mehr als 15% erhöhen und dieser Umstand darauf beruht, dass der Auftraggeber, das heißt die Beklagte, entscheidet, das Qualitätsniveau des Hotels oder aber der Kategorie zu erhöhen.
86
1. Die Hotelkategorie hat sich nicht erhöht, sodass aus diesem Grund eine Erhöhung des Honorars ausscheidet. Es wurde ein 4*-Hotel geplant und auch errichtet. Etwas anderes wurde auch nicht vorgetragen.
87
2. Hinsichtlich der zweiten Möglichkeit – Honorarerhöhung bei Erhöhung des Qualitätsniveaus – fehlt es an hinreichend substantiiertem Vortrag der Klägerin. Die Klägerin hat nicht vorgetragen, inwiefern Baukostenerhöhungen auf einer auftraggeberseits angeordneten Erhöhung des Qualitätsniveaus beruhen sollen. Hierauf wurde die Klägerin bereits von der Kammer im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 12.10.2010 (Bl. 224/227 d.A.) hingewiesen, dennoch hat die Klägerin hierzu nie näher vorgetragen.
88
I. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
89
II. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 Satz 2 ZPO.
90
III. Die Streitwertfestsetzung bestimmt sich gemäß § 48 GKG in Verbindung mit § 3 ZPO nach der Höhe der begehrten Hauptforderung.