Titel:
Erfolgloser Eilantrag der Standortgemeinde gegen technisches Dienstleistungszentrum – unzulässige Rechtsausübung
Normenketten:
BGB § 242
BauGB § 31 Abs. 2
Leitsätze:
1. Eine unzulässige Rechtsausübung kann gegeben sein, wenn eine Gemeinde im Rahmen einer Einvernehmenserteilung ein- und denselben Sachverhalt unterschiedlich zu einer zuvor anderen Bewertung im Rahmen eines Bauleitplanverfahrens bewertet. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nicht jede Befreiung berührt automatisch die Grundzüge der Planung in einer eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ausschließenden Weise. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eilrechtsschutz einer Standortgemeinde gegen Befreiungen (u.a.) von einer Festsetzung über Verkehrsflächen, unzulässige Rechtsausübung wegen widersprüchlichem Verhalten, Verschattung, Grundzüge der Planung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 26.07.2023 – 9 CS 23.790
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8925
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt der Antragsteller.
3. Der Streitwert wird auf 7.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
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Die Beteiligten streiten im Wege einstweiligen Rechtsschutzes über die Rechtsmäßigkeit einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung für die Errichtung eines technischen Dienstleistungszentrums mit 22 Stellplätzen, einer Garage mit Lagernutzung und einer Trafostation auf dem Grundstück FlNr. … der Gemarkung … in … Das eingangs genannte, großflächige und bisher unbebaute Grundstück befindet sich im Stadtgebiet des Antragstellers als Standortgemeinde. Das Grundstück liegt im Bebauungsplan Nr. … „…“ aus dem Jahr 1998, welcher für den zur Bebauung anstehenden Bereich hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung ein „eingeschränktes Gewerbegebiet“ (Einzelhandelsausschluss) festlegt. Im Bebauungsplan werden mittels Baugrenzen und dem abbiegenden Verlauf einer Stichstraße, welche in einem Wendehammer endet, auf dem Grundstück zwei Baufelder definiert. Westlich grenzt an das streitgegenständliche Grundstück die … und dahinter Gewerbebauten an. Im Norden grenzt Wohnbebauung, im Süden Wohn- und Gewerbebebauung sowie im Osten eine Waldfläche an.
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Mit Bauantrag vom 8. Juli 2022 begehrte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für das eingangs genannte Vorhaben. Auf dem Grundstück soll ein Dienstleistungszentrum mit einer Grundfläche von ca. 3.000 qm errichtet werden. Die Anlage besteht aus einer eingeschossigen Lagerhalle mit einer abgesenkten Laderampe für zwei Wechselcontainer (Wareneingang) und einem Ladehof für Lieferwagen (Warenausgang). Die Regale in der Halle werden größtenteils von Hand beschickt. Auf der Südseite ist ein zweigeschossiger Gebäudeteil integriert, in dem die Warenausgabe, Büroflächen, die Sozialräume für die Mitarbeiter sowie ein Schulungszentrum untergebracht sind. Das Gebäude ist nicht unterkellert. Zwischen Gebäude und der westlichen Grundstücksgrenze werden der Ladehof für den Wareneingang sowie die Stellplätze für Kunden und Mitarbeiter angeordnet. Im Westen – neben der dortigen Einfahrt – wird eine Fertiggarage als Zwischenlager für die Anlieferung durch externe Lieferanten außerhalb der Geschäftszeit aufgestellt. Ebenso wird in der Nähe eine Trafostation errichtet. Die verbleibenden Freiflächen (ca. 20% der Grundstücksfläche) werden entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans begrünt.
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Neben dem Bauantrag wurden gleichzeitig zwei Anträge auf Befreiungen im Hinblick auf die Firsthöhe und im Hinblick auf „die Festsetzung von Ziffer 3.2.4 des Bebauungsplans, die im Bebauungsplan dargestellten Grenzen, Lage der Zufahrtsstraße und Anzahl der einzelnen Grundstücke sowie ihrer Größe“ gestellt. Die Zufahrtsstraße werde um ca. 2 m in Richtung Süden verschoben und es werde neu parzelliert. Weitere Anträge auf Befreiungen wurden auf Anforderung des Landratsamts mit Schreiben vom 3. November 2022 gestellt. Diese betreffen die Überschreitung der Baugrenze durch die Fertiggarage, die Überschreitung der Baugrenze durch einen kleinen Teil der geplanten Warenausgabe im Südwesten und die Lage der Trafostation außerhalb der Fläche für Versorgungseinrichtungen.
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Mit Beschluss vom 19. Juli 2022 erteilte der Antragsteller sein Einvernehmen zur Befreiung von der Firsthöhe und verweigerte das Einvernehmen hinsichtlich der Verschiebung der Straßenverkehrsfläche, da die Grundzüge der Planung betroffen seien. Mit Schreiben vom 18. August 2022 wurde der Antragsteller zu einer beabsichtigten Ersetzung des Einvernehmens angehört. Das Landratsamt führt im Anhörungsschreiben aus, dass es sich streitgegenständlich um eine Umplanung handle, welche im Vergleich zu der Planung, der der Antragsteller bereits zugestimmt habe, vorwiegend eine Standortverschiebung nach Norden um 3 m zum Gegenstand habe. Hierdurch hätten sich Unterschiede bezüglich der Befreiungen ergeben, die jedoch wesentlich besser bzw. geringfügiger von den Festsetzungen des Bebauungsplans abweichen würden, als es die ursprüngliche Planung getan hätte, welcher der Antragsteller zugestimmt habe. Dies betreffe die Verschiebung der Lage der Erschließungsstraße, die Änderung der Grundstückseinteilung, die Überschreitung der Baugrenze nach Süden, die Lage der beantragten Trafostation und der Fertiggarage außerhalb der Baugrenze und auf der festgesetzten Verkehrsfläche und die Flächen zum Anpflanzen von Bäumen (hier interne Grundstücksbepflanzung).
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Mit Schreiben vom 4. Oktober 2022 teilte der Antragsteller dem Landratsamt mit, dass der erste vorgelegte Bauantrag zusätzlich zu den 3 m Abstand gemäß Bebauungsplan einen weiteren Abstand von 4 m zur Grundstücksgrenze zu den nördlichen Nachbarn vorgesehen habe. Da hier die gewerbliche Bebauung von der Wohnbebauung abgerückt sei, habe der Antragsteller einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans zugestimmt. Das Landratsamt wiederum habe dem Bauvorhaben nicht zugestimmt, weil die Grundzüge der Planung vor allem wegen der Verschiebung der festgesetzten Straßenverkehrsfläche auf dem Grundstück und der Überschreitung der Baugrenze in den Süden betroffen gewesen seien. Eine Änderung des Bebauungsplans sei vom Antragsteller einstimmig abgelehnt worden. Im hiesigen Verfahren würden die Festsetzungen des Bebauungsplans im Norden (3 m Abstand von der Grundstücksgrenze) eingehalten. Trotzdem sei der Baukörper so groß, dass das Baufenster der Straßenführung um 2 m nach Süden verschoben werden müsse. Dieses Verschieben sei für das Landratsamt nun kein Tatbestand mehr, der die Grundzüge der Planung betreffe. Die Planungshoheit habe jedoch die Gemeinde. Der Antragsteller halte deshalb am Beschluss vom 19. Juli 2022 fest. Mit E-Mail vom 4. November 2022 teilte die Verwaltung des Antragstellers mit, dass eine nochmalige Behandlung der Gemeindegremien im Hinblick auf die neuen Befreiungsanträge nicht mehr notwendig sei, da eine Befreiung von den Baugrenzen bereits abgelehnt worden sei. Ebenso wurde auf eine nochmalige Anhörung verzichtet.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 15. November 2022 wurde der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung unter Erteilung von sechs Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans sowie unter Ersetzung des Einvernehmens des Antragstellers erteilt. Zur Begründung wird unter anderem ausgeführt, dass keine Verletzung der Grundzüge der Planung gesehen würden. Die Verschiebung der Lage der Erschließungsstraße im Vergleich zum Bebauungsplan nach Süden falle relativ gering aus und die Straße diene nur der Erschließung des Grundstücks, welches sich derzeit noch als eine Einheit darstelle. Etwaige Teilungen könnten sich dann an der neuen Lage orientieren. Des Weiteren werde die Erschließungsstraße im Hinblick auf ihre Ausgestaltung so ausgeführt, wie es der Bebauungsplan vorsehe (Rundung und Wendehammer). Die Änderung der Grundstückseinteilung (Änderung der bebaubaren Bereiche) könne aufgrund der Tatsache, dass es sich derzeit um eine Einheit handle und keine nachbarlichen Belange hierdurch betroffen seien, als städtebaulich vertretbar angesehen werden. Die Überschreitung der Baugrenze durch einen Teilbereich des geplanten Gebäudes im Süden sei ebenfalls städtebaulich vertretbar und bedinge sich durch die Verschiebung der Erschließungsstraße. Dies gelte auch für die Lage der Trafostation und der Fertiggarage außerhalb der Baugrenze. Die Verweigerung des Einvernehmens sei daher rechtswidrig. Nach Art. 67 Abs. 1 BayBO sei das verweigerte Einvernehmen des Antragstellers zu ersetzen.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 14. Dezember 2022 – hier eingegangen am gleichen Tag – ließ der Antragsteller Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2023 begründet der Antragsteller die Klage und stellte Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Zur Begründung ist ausgeführt, dass dem Antragsteller nach der Rechtsprechung ein Anspruch auf volle Überprüfung der Ersetzungsentscheidung nach Art. 67 BayBO zukomme. Die Erfolgsaussichten der Hauptsache lägen vor, da auch die Klage aller Voraussicht nach Erfolg haben werde. Selbst bei offenen Erfolgsaussichten sei zu berücksichtigen, dass die Befreiungen, wobei im besonderen Maße die Befreiung im Hinblick auf die Verschiebung der Erschließungsstraße hinzuweisen sei, eine erhebliche Rolle spielten und auch einen nahezu unausweichlichen Nachfolgeeffekt haben könne, womit die Gefahr bestehe die Planungshoheit des Antragstellers auszuhebeln. Die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens im Hinblick auf die sechs gewährten Befreiungen sei rechtswidrig erfolgt. Die Rechtsfrage sei, ob die Grundzüge der Planung berührt würden. Seien die Grundzüge der Planung berührt, bedürfe es keiner weiteren Prüfung der sonstigen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB. Mit dieser Frage habe sich das Landratsamt im angefochtenen Bescheid nur ansatzweise beschäftigt. Zur Verschiebung der Lage der Erschließungsstraße werde auf die Geringfügigkeit abgestellt, die Überschreitung der Baugrenze werde als städtebaulich vertretbar benannt. Nachvollziehbare Ausführungen zum unbestimmten Rechtsbegriff „Grundzüge der Planung“ seien in der Begründung des Bescheides nicht auffindbar. Hinsichtlich der städtebaulichen Vertretbarkeit der Abweichungen liege ein vollständiger Abwägungs- und Ermessensausfall vor. Das Landratsamt habe das Begründungserfordernis nach Art. 67 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 BayBO nicht beachtet. Für die Begründung der Ersatzvornahme gälten nicht die erleichternden Regeln. Eine zuvor eingereichte Bauplanung, die ein Abstand von 4 m zur Grundstücksgrenze zu den nördlichen Nachbarn vorgesehen habe, sei von der Baugenehmigungsbehörde nicht gebilligt worden. Das Landratsamt habe hierzu die Auffassung vertreten, die Grundzüge der Planung seien vor allem wegen der Verschiebung der festgesetzten Straßenverkehrsfläche auf dem Grundstück und der Überschreitung der Baugrenze in den Süden berührt. Ausgangspunkt der Betrachtung sei die Festsetzung der Straßenverkehrsfläche, die zeichnerisch in der Planurkunde im Bebauungsplan enthalten und bei I. Planzeichen Ziffer 1.4 Verkehrsflächen festgesetzt sei. Durch die Befreiung werde die öffentliche Verkehrsfläche als Bestandteil des Erschließungssystems nach Süden verschoben. Den öffentlichen Verkehrswegen zur Erschließung von Baugrundstücken liege eine planerische Konzeption des Antragstellers zugrunde. Gemeinden könnten diejenige Städtebaupolitik betreiben, die ihren Ordnungsvorstellungen entspreche. Es sei nicht erkennbar, dass eine Verschiebung der Erschließungsstraße nach Süden vom planerischen Willen gedeckt sei. Die für den Antrag auf Befreiung vorliegende Begründung für die Verschiebung der Erschließungsstraße sei nicht derart aussagekräftig, dass – hätte der Plangeber dieses Anliegen bereits vorausgedacht – nicht wegabgewogen hätte. Die Befreiung müsse, wenn sie mit den Grundzügen der Planung vereinbar sein solle, noch im Bereich dessen liegen, was der Planer gewollt habe oder gewollt hätte, wenn er die weitere Entwicklung einschließlich des Grundes für die Befreiung gekannt hätte (BVerwG, U. v. 29.1.2009 – 4 C 16/07 – juris Rn. 23). Es komme hinzu, dass eine weitere Vielzahl von Fällen entstehen könne, bei welchen zur angeblich besseren Nutzbarkeit des Grundstücks Befreiungen von der Festsetzung der Lage der öffentlichen Verkehrsflächen beantragt würden, wobei damit verstärkt durch mehrere Abweichungen die Grundkonzeption des Bebauungsplans in Bezug auf die Erschließung tangiert sei. Ein Sonderfall könne nicht bei der hier vermeintlichen Befreiungslage gesehen werden, da das Grundstück der Beigeladenen auch keine besondere Lage insoweit aufweise. Es gehe in dem hier zugrundeliegenden Fall nicht (nur) um eine geringfügige Verschiebung einer Straßenbegrenzungslinie, sondern vielmehr um eine Veränderung der Gesamtkonzeption in diesem Bereich, da die Verschiebung der öffentlichen Verkehrsfläche nach Süden gleichsam eine Veränderung der Grundstückssituation sowie der weiteren Festsetzungen entlang der Straßenbegrenzungslinie im Süden zur Folge habe. Solche Änderungen beträfen den Kernbereich der Planung und seien nur über eine Änderung des Bebauungsplans möglich. Dies habe das Landratsamt gegenüber der Beigeladenen auch noch im vorherigen Antragsverfahren vertreten. Dies sei auch nachvollziehbar, da eine Änderung einer Festsetzung, die in weitere Festsetzungen automatisch eingreife, wohl kaum im Wege der Befreiung gelöst werden könne, da weitere Festsetzungen hiervon betroffen seien. Die hier gewährte Befreiung greife daher durchaus tief in das Interessensgeflecht der Planung ein, weshalb der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption naheliege, die nur im Wege der Umplanung möglich sei. Die Bebauung des Grundstücks der Beigeladenen habe sich, soweit dies irgend möglich ist, der geplanten Erschließungsstraße anzupassen. Durch eine großzügige Befreiungspraxis werde die Planungskompetenz des Antragstellers aus den Angeln gehoben. Wolle eine Gemeinde die Planung eines Vorhabens umfassend in die Hände eines Vorhabenträgers legen, habe sie die Möglichkeit, den Weg über einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan nach § 12 BauGB zu gehen, bei welchem der Vorhabenträger nicht an den Festsetzungskatalog des BauGB gebunden sei.
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Mit Schriftsatz vom 8. Februar 2023 beantragt der Antragsteller,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid anzuordnen.
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Mit Schriftsatz vom 8. März 2023 beantragt der Antragsgegner, den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass ein fehlendes Einvernehmen durch die Baugenehmigungsbehörde nach Art. 67 Abs. 1 Satz 1 BayBO ersetzt werden dürfe, wenn es zu Unrecht verweigert worden sei, weil ein Rechtsanspruch auf Erteilung der Genehmigung bestehe. Handle es sich bei den materiell-rechtlichen Rechtsvorschriften um Ermessensvorschriften, müsse das Ermessen auf Null reduziert sein. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 lägen allesamt vor und das Ermessen des Antragsgegners sei auf Null reduziert. Vorliegend seien Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze des Hauptgebäudes nach Süden, der Trafostation, der Fertiggarage sowie der Lage der Erschließungsstraße und der Änderung der bebaubaren Bereiche ausgesprochen worden. Die erteilten Befreiungen seien nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht zu beanstanden, da insoweit die Grundzüge der Planung nicht berührt seien und die Abweichung städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Die Verschiebung der Erschließungsstraße nach Süden falle im Vergleich zu dem im BPlan festgesetzten Straßenverlauf nunmehr relativ gering aus (2 m). Hinzu komme, dass die Straße der Erschließung eines zusammengehörigen Grundstücks diene (fehlende Durchgangsfunktion), welches sich im Eigentum der Beigeladenen befinde. Die Erschließung lasse sich weiterhin verwirklichen. Wie der Standort (gemeint wohl der Straße) das Ergebnis der Planabwägung getragen haben solle, werde durch die Ausführungen der Antragstellerseite nicht ersichtlich. Aber selbst wenn dies der Fall sein solle und die Abweichung von einer Festsetzung in Rede stehe, die für die Grundzüge der Planung maßgeblich sei, werde die Grenze für die Erteilung einer Befreiung dann nicht überschritten, wenn die Abweichung – wie hier – nicht ins Gewicht falle (BayVGH, B. v. 28.3.2017 – 2 ZB 16.561 – juris Rn. 6). Dem entspreche sogar die vom Antragsteller nicht aufgenommene Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts in der zitierten Entscheidung vom 29. Januar 2009, wonach bezogen auf das planerische Wollen bei der Abweichung vom Planinhalt keine derartige Bedeutung zukommen dürfe, dass die angestrebte und im Plan zum Ausdruck gebrachte städtebauliche Ordnung in (beachtlicher) Weise beeinträchtigt werde. Die Änderung der Grundstückseinteilung sei aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem Grundstück momentan um eine Einheit handle und keine nachbarlichen Belangte hierdurch betroffen seien, städtebaulich vertretbar (laut Begründung des BPlans ginge es um „flexible Grundstückszuschnitte“). Die Überschreitung der Baugrenze durch das Hauptgebäude im Süden bedinge sich durch die Verschiebung der Straße und sei ebenfalls städtebaulich vertretbar. Selbiges treffe für die Lage des Trafohauses und der Fertiggarage zu, welche von der neu zu errichtenden Straße erschlossen würden. Die Antragsbegründung sei in dieser Hinsicht wenig substantiiert. Nachbarliche Belange würden nicht tangiert. Die erteilte Befreiung bewirke keine ins Gewicht fallende Verschlechterung der planerischen Situation und der allgemeine Geltungsanspruch des Bebauungsplans werde dadurch auch nicht zusätzlich in Frage gestellt. Eine geringfügige Überschreitung der überbaubaren Grundstücksfläche sei städtebaulich vertretbar. Die städtebauliche Vertretbarkeit lasse sich nicht abstrakt beurteilen, sondern nur anhand der konkreten Gegebenheiten. Zu fragen sei, ob das Leitbild einer geordneten städtebaulichen Entwicklung gewahrt bleibe, welches dem Plan zugrunde gelegt worden sei. Letzteres ergebe sich vor allem daraus, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt sein dürften (unter Verweis auf Rechtsprechung). Die beantragten Befreiungen seien städtebaulich vertretbar, da zum einen die Grundzüge der Planung durch sie nicht berührt würden und die Abweichungen auch zulässiger Inhalt eines Bebauungsplans sein könnten, da insbesondere die Art der baulichen Nutzung durch das Vorhaben der Beigeladenen nicht berührt werde und aufgrund der geringen Abweichungen das Leitbild einer geordneten städtebaulichen Entwicklung nicht beeinträchtigt werde. Wenn die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung gegeben seien, bestehe für die Ausübung des Ermessens bereits grundsätzlich nur noch wenig Raum. Erforderlich für eine negative Ermessensentscheidung sei, dass der Befreiung gewichtige Interessen entgegenstünden. Dies sei hier nicht der Fall, sondern das Ermessen sei reduziert.
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Mit Schriftsatz vom 23. Februar 2023 beantragt die Beigeladene, den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung führt der Beigeladenenbevollmächtigte aus, dass eine Verletzung der Rechte des Antragstellers nicht in Betracht komme und die Klage in der Hauptsache daher abzuweisen sei. Unklar sei, ob sich der Antragsteller gegen alle Befreiungen wende, da sich die Antragsbegründung im Wesentlichen nur mit der Verschiebung der Lage der im Bebauungsplan festgesetzten Erschließungsstraße auseinandersetze. Der Antragstellerseite sei entgegenzuhalten, dass sie sich mit ihrer eigenen Argumentation widersprüchlich verhalte. Zutreffend weise die Antragstellerseite darauf hin, dass ursprünglich die Vorhabenplanung eine Stellung der Baukörper 4 m weiter südlich vorgesehen habe. Diesem Bauantrag, der eine Verschiebung der Erschließungsstraße um ca. 6 m nach Süden zum Inhalt gehabt habe, habe der Antragsteller sein Einvernehmen erteilt. Dem Landratsamt sei jedoch eine Verschiebung der Erschließungsstraße zu weitgehend erschienen, weshalb es nunmehr zu der streitgegenständlichen Umplanung gekommen sei. Insofern habe die Antragstellerseite inzident eingeräumt, dass eine Verschiebung sogar um 6 m die Planungshoheit der Antragstellerin nicht verletzt habe. Das Klagevorbringen sei somit widersprüchlich. Der Antragsteller müsse sich insoweit den Grundsatz von Treu und Glauben entgegenhalten lassen. Selbst wenn die Rechtsausübung durch den Antragsteller vorliegend nicht nach § 242 BGB unzulässig sei, bleibe die Klage dennoch ohne Erfolg. Die Verschiebung der Erschließungsstraße um 2 m nach Süden (die weiter beantragten Baugrenzenüberschreitungen stünden damit im Zusammenhang) berühre nicht die Grundzüge der Planung. Das dem Bebauungsplan zugrundeliegende Erschließungskonzept sei in der Bebauungsplanbegründung vom 1. Oktober 1998 dargestellt. Hiernach sei die betreffende Stichstraße Bestandteil der internen Verkehrserschließung im Gewerbegebiet im Osten des Bebauungsplans (Begründung Nr. 4.3.5 der Begründung zum Bebauungsplan). Weiter werde auf Seite 10 der Begründung verwiesen (wird weiter ausgeführt).
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Die Abweichung von einer im Bebauungsplan festgesetzten öffentlichen Verkehrsfläche könne die Grundzüge der Planung berühren, wenn die Abweichung dem von der Gemeinde mit der Festsetzung beabsichtigten planerischen Grundkonzeption zuwiderlaufe (unter Verweis auf OVG Münster, U. v. 8.5.2009 – 7 A 3366/07). Dies sei eine Frage des Einzelfalls, sodass es keinen allgemein diesbezüglichen Grundsatz gebe. Im vorliegenden Fall finde zwar die betreffende Stichstraße in der Bebauungsplanbegründung ausdrücklich Erwähnung. Indessen werde die Bedeutung dieser Straße – im Unterschied zu den weiteren Straßen im Plangebiet – relativiert, in dem die Planbegründung darauf hinweise, dass die Stichstraße ausschließlich dem Anliegerverkehr diene. Ferner heiße es in der Begründung, dass die interne Erschließung der Baugrundstücke auch über Privatwege erfolgen könne, was im Sinne der Flexibilität der möglichen Grundstückszuschnitte sei und eine unnötige Versiegelung verhindere. Der Begründung des Bebauungsplans sei vorliegend demnach ein Planungsgrundsatz dahingehend zu entnehmen, dass die innere Erschließung der Gewerbegrundstücke möglichst schlank und variabel gehalten werden solle, um flexible Grundstückszuschnitte zu gewährleisten. Dem gegenüber lege der Antragsteller nicht dar, welche „nahezu unausweichliche Nachfolgeeffekte“ im Sinne einer spürbaren Veränderung der Gesamtkonzeption des Bebauungsplans die Verschiebung der Stichstraße nach Süden haben solle. Dass nicht jede Veränderung der Lage einer im Bebauungsplan festgesetzten Erschließungsstraße die Grundzüge der Planung berühre, ergebe sich auch aus der Regelung in § 125 Abs. 3 BauGB, die unter den dort genannten Voraussetzungen eine planabweichende Herstellung von Erschließungsanlagen ausdrücklich für zulässig erkläre. Gemessen an den Größenverhältnissen der im vorliegenden Gewerbegebiet gelegenen Grundstücke sei die Verschiebung der Stichstraße um 2 m nach Süden geringfügig zu nennen und lasse die planerische Grundkonzeption unberührt. Das Grundstück der Beigeladenen umfasse 16.900 qm und die nunmehr zur Bebauung anstehende Teilfläche betrage 6.800 qm. Angesichts dieser Größenverhältnisse sei die Verschiebung der sechseinhalb Meter breiten Straßenverkehrsfläche um nur noch 2 m geringfügig und bleibe ohne Auswirkung auf die Grundzüge der Planung. Soweit sich der Antragsteller auch gegen die weiteren Befreiungen wende, sei sein Vorbringen unsubstantiiert, da der Antragsteller insoweit nur pauschal auf die Grundzüge der Planung verweise. Diese würden auch insoweit nicht berührt. Die nördliche Baugrenze nur Wohnbebauung werde eingehalten. Das Vorhaben halte in diesem Bereich auch die Abstandsflächen ein. Die erteilten Befreiungen seien insgesamt rechtmäßig, da die Grundzüge der Planung nicht berührt würden und die Abweichungen städtebaulich vertretbar seien.
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Mit Schriftsatz vom 7. März 2023 replizierte der Antragsteller hierauf nochmals. Er führt aus, dass sich hier aus einer bestimmten Planfestsetzung durchaus ableiten ließe, ob die Festsetzung überhaupt befreiungsfähig sei. Festsetzungen zur Lage von öffentlichen Verkehrsflächen seien in der Regel Bestandsteil eines Erschließungskonzepts. Eingebunden in dieses Konzept seien die Verkehrsflächen (Straßen, Wege u.a.) sowie Straßenbegleitgrün und Planungen, Nutzungsregelungen, Maßnahmen und Flächen für Maßnahmen zum Schutz, Pflege und zur Entwicklung von Natur und Landschaft wie etwa das Anpflanzen von Bäumen und der Erhalt von Bäumen sowie Flächen zum Anpflanzen von Bäumen. Ebenso damit verbunden seien die – wie auch hier – Straßenbegrenzungslinien und abhängig von der jeweiligen Lage der Verkehrsfläche auch die Baugrenzen bzw. Baufenster. Der Bebauungsplan müsse in seinen Festsetzungen nicht ausdrücklich konkret benennen, ob eine Verkehrsfläche dem öffentlichen Verkehr diene. In der Regel dienten Verkehrsanlagen dem öffentlichen Verkehr. Sollen Verkehrsflächen als private Verkehrsflächen festgesetzt werden, so müsse die Erforderlichkeit der Festsetzung einer besonders sorgfältigen Prüfung unterzogen werden. Die hier strittige Verkehrsfläche, welche mehrere Baugrundstücke erschließe und mit einem Wendehammer ende, werde eine öffentliche Verkehrsfläche und als solche auch durch eine Widmung dem öffentlichen Verkehr zur Verfügung gestellt werden. Hierüber sei sich die Beigeladene auch im Klaren, da schließlich schon seit einiger Zeit über den Abschluss eines (echten) Erschließungsvertrages mit dem Antragsteller verhandelt werde und die Flächen mit Fertigstellung der Erschließungsanlage an den Antragsteller zu übereignen seien. Ein dementsprechender städtebaulicher Vertrag befinde sich in Vorbereitung. Auch für den Fall, dass die Grenzen durch die Verschiebung der Verkehrsfläche nicht verändert würden, bedinge die Verschiebung gleichsam eine Veränderung der sonstigen oben ausgeführten Festsetzungen (Grünordnung und Straßenbegrenzungslinie). Die jeweiligen Anschlüsse an die Baugrundstücke würden durch die Verschiebung der gesamten Verkehrsfläche samt des Wendehammers verändert. Es gehe hier schlichtweg bei der Einzelfallbetrachtung nicht um die Verlegung eines privaten Stichweges (z.B. eines Hinterliegergrundstücks), sondern vielmehr um einen Bestandteil des Erschließungskonzepts. Die konzeptionelle Eingebundenheit der Stichstraße in das System der internen Erschließung ergebe sich auch aus der Begründung des Bebauungsplans.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid ist zulässig, aber unbegründet.
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Nach § 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen, soweit der Klage – wie im vorliegenden Fall – aufgrund § 80 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 212a BauGB keine aufschiebende Wirkung zukommt. Hierbei trifft das Gericht eine originäre Ermessensentscheidung, welche sich in erster Linie an den Erfolgsaussichten der Hauptsache (BayVGH, B. v. 26.4.2021 – 15 CS 21.1081 – juris Rn. 22) orientiert. Dem Charakter des vorläufigen Rechtsschutzes entspricht es, dass diese Prüfung grundsätzlich nur summarisch erfolgt, da für eine Beweisaufnahme grundsätzlich bei diesen Verfahren kein Raum bleibt. Bei offenen Erfolgsaussichten wird die Ermessensentscheidung anhand einer Interessenabwägung getroffen (BayVGH a.a.O.).
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Die Anfechtungsklage hat nach summarischer Prüfung wohl keine Aussicht auf Erfolg, da dem Antragsteller der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegensteht (1.). Hilfsweise geht das Gericht von aktuell offenen Erfolgsaussichten aus, bei der die Folgenabwägung zu Lasten des Antragstellers ausgehen würde (2.).
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1. Eine unzulässige Rechtsausübung ist Ausfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben nach § 242 BGB, welcher auch im öffentlichen Recht als allgemeiner Rechtsgrundsatz Geltung beansprucht (BVerwG, B.v. 1.4.2004 – 4 B 17/04). Hierzu gehört etwa das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens (vgl. BayVGH, B.v. 13.9.2013 – 3 ZB 11.1692 – juris Rn. 7), wenn durch den Rechtsausübenden ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde oder sonstige besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen. Ein solcher Fall kann etwa gegeben sein, wenn eine Gemeinde im Rahmen einer Einvernehmenserteilung ein- und denselben Sachverhalt unterschiedlich zu einer zuvor anderen Bewertung im Rahmen eines Bauleitplanverfahrens bewertet (vgl. VGH Kassel, U.v. 1.4.2014 – 9 A 2030/12 – juris Rn. 44 ff.).
20
So liegt der Fall hier. Der Antragsteller hat aktenkundig mit Schreiben vom 4. Oktober 2022 und auch schriftsätzlich eingeräumt, dass er das Einvernehmen für einen wesensgleichen Bauantrag (B-2022-43), der – zwischen den Beteiligten insoweit unstreitig – noch viel tiefgreifendere Befreiungen bezüglich der gleichen Festsetzungen des hier einschlägigen Bebauungsplans vorsah, erteilt hat. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es sich hier um unterschiedliche Bauanträge handelt und der Antragsteller bei dem hier streitgegenständlichen (nachfolgenden) Bauantrag das Einvernehmen (im Wesentlichen) verweigert hat. Dennoch handelt es sich – soweit bisher beurteilbar – um ein- und denselben Sachverhalt, den der Antragsteller unterschiedlich behandelt. Dies ergibt sich daraus, dass sich der streitgegenständliche Bauantrag wohl als bloßes Minus zum vorherigen Bauantrag darstellt, dem der Antragsteller das Einvernehmen wiederum erteilt hat. Gegenständlich war für diesen ersten Bauantrag ausweislich der elektronischen Akten anscheinend im Wesentlichen tatsächlich die weitergehende „Verlagerung“ des Bauvorhabens nach Süden (wohl um ca.3-4 m) im Vergleich zur hier streitgegenständlichen Planung. Im Hinblick darauf, dass damit alle für die Beurteilung nach § 31 Abs. 2 BauGB notwendigen Rechtsfragen mithin schon Gegenstand des vorherigen Verfahrens waren und diese Fragen allesamt intensiver aufgeworfen wurden als das hier streitgegenständliche Vorhaben („Minus“), ist von einem gleichen Sachverhalt auszugehen. Insofern zeigt der Antragsteller widersprüchliches Verhalten, da keine sachlichen Gründe erkennbar sind, warum er einem viel weitergehenden Eingriff in seine Planungshoheit zustimmte, dem weniger starken Eingriff das Einvernehmen verweigerte und durch diesen weniger starken Eingriff nunmehr sogar seine Planungshoheit gefährdet sieht.
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Soweit die Antragstellerseite zuletzt vortragen ließ, dass das zuvor erteilte Einvernehmen Produkt eines „Abwägungsvorgangs“ gewesen sei und wegen der „verminderten Verschattung“ der nördlichen Nachbarn erteilt worden sei, ist dem Gericht nicht klar, inwiefern dies die hier vorrangig streitgegenständliche Frage nach den tatbestandlichen Voraussetzungen für eine rechtmäßige Befreiung hätte beeinflussen können. Die von der Antragstellerseite befürchtete „Verschattung“ ist im wesentlichen Produkt der vom Antragsteller selbst gewählten Festsetzungen (z.B. Baugrenzen nach Norden) in seinem Bebauungsplan. Das streitgegenständliche Vorhaben löst nach Norden hin keine zusätzlichen Konflikte aus, welche nicht im Bebauungsplan selbst bereits angelegt (und mithin abgewogen worden) sind. Vielmehr hält sich das Vorhaben an alle Festsetzungen „nach Norden hin“ und bedarf insoweit keiner Befreiung. Dass der „Schutz“ der nördlichen Nachbarn des Baugebiets vor der durch den Antragsteller selbst in Kraft gesetzten Planung das Motiv für die Erteilung des Einvernehmens war, ist unstreitig. Eine sich ändernde Motivlage der Standortgemeinde verändert jedoch nicht die rechtlichen Voraussetzungen einer Befreiung. Gleichzeitig ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller bei seinem erstmalig erteilten Einvernehmen etwa einem Rechtsirrtum über die Voraussetzungen einer Befreiung unterlegen ist.
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2. Hilfsweise wären die Erfolgsaussichten im vorliegenden Fall nach Meinung der Kammer derzeit offen, jedoch geht die dann anzustellende Folgenabwägung zu Lasten der Antragstellerseite aus.
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2.1 Sollte anzunehmen sein, dass vorliegend keine unzulässige Rechtsausübung durch den Antragsteller vorliegt, so lassen sich die Erfolgsaussichten anhand der bisher vorgelegten Unterlagen nicht abschließend beurteilen. Trotz bereits erfolgter Nachfragen des Gerichts und Ergänzungen der Akten lassen sich aufgrund nur digital vorliegender Bebauungspläne einerseits und analog eingereichter Bauvorlagen andererseits teilweise wichtige Fragen nicht rechtssicher beantworten.
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Im Raum steht hier vor allem die Frage, ob durch die erteilten Befreiungen die Grundzüge der Planung berührt sind. Einerseits dürfte im Hinblick auf die Befreiung von der Lage der Erschließungsstraße im streitgegenständlichen Bescheid wohl prinzipiell von einem Grundzug der Planung auszugehen sein, da Straßenverkehrsflächen regelmäßig (und so wohl auch hier; vgl. Ziffer 6.1 der Begründung zum Bebauungsplan S. 14) vorrangig festgelegt werden und die weitere Planung hieran anschließt. Andererseits berührt nicht jede Befreiung automatisch die Grundzüge der Planung in einer eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ausschließenden Weise (BayVGH, B.v. 3.3.2021 – 15 B 20.2075 – juris Rn. 62). Insofern stellen sich wichtige Folgefragen, die aktuell nicht abschließend beantwortet werden können, sondern die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens notwendig machen. Ob ein Berühren in diesem Sinne vorliegt, dürfte sich unter anderem daran festmachen, wie weit in das Interessensgeflecht des Bebauungsplans eingegriffen wird (BayVGH a.a.O.). Auch wird zu fragen sein, inwieweit ein Eingriff in das „Plangefüge“ isoliert werden kann (BayVGH, U.v. 19.10.1998 – 15 B 97.337 – juris Rn. 27, B.v. 21.4.2009 – 9 B 06.1823 – juris Rn. 24). Diese Fragen lassen sich mit den gegenwärtigen Plänen und Unterlagen nicht eindeutig beantworten. Einerseits spricht für die Sicht des Antragsgegners, dass wohl selbst bei der Versetzung der Lage einer Erschließungsstraße noch von einer Vereinbarkeit mit den Grundzügen der Planung gesprochen werden kann, solange es sich noch nicht um die Verwirklichung eines „Aliuds“ handelt (vgl. vom Rechtsgedanken: BayVGH, U.v. 4.5.2017 – 6 B 17.141 – juris Rn. 20). Auch ist es eventuell denkbar, dass die „Verschiebung“ der Erschließungsstraße um 2 m sich tatsächlich als geringfügig und im Hinblick auf das Interessensgeflecht als noch eingrenzbar darstellt.
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Andererseits verweist die Antragstellerseite zu Recht auf eine Fülle von „Folgeregelungen“ die damit einhergehen und betroffen sein können (z.B. Pflanzgebote und Breite des Grünstreifens, die wohl zu den tragenden Erwägungen des Bebauungsplans gehörten, vgl. Ziffer 4.2 S. 6 und 10 der Begründung). So ist für das Gericht etwa die Auswirkung der Verschiebung der Erschließungsstraße auf das südlich gelegene Baufeld in den räumlichen Details aus keiner der vorliegenden Unterlagen rechtssicher ersichtlich, insbesondere nicht, inwiefern die Festsetzungen des Bebauungsplans dort (z.B. im Hinblick auf Pflanzgebote oder die Grünstreifen) noch umsetzbar sind oder quasi ebenfalls (mittelbar) außer Kraft gesetzt/“verschoben“ werden. Die bisher im hiesigen Verfahren verwendete textliche Beschreibung, dass die Erschließungsstraße etwa 2 m nach Süden verschoben werden soll, ermöglicht keine Zuordnung zu den zeichnerischen Festsetzungen des Bebauungsplans, der aktuell nur digital vorliegt. Das Dokument „Verschiebung der Erschließungsstraße“ etwa lässt keine genauen Rückschlüsse auf die übrigen Festsetzungen des Bebauungsplans (mit Ausnahme des Verlaufs der Erschließungsstraße) zu. Das zuletzt mit Schriftsatz der Beigeladenen vom 24. März 23 eingereichte Dokument „Lageplan“ wirft ebenfalls weiterhin noch Fragen auf. Hieraus sind ebenfalls nicht die Folgewirkungen auf dem südlichen Baufeld absehbar.
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All dies lässt eine weitere Sachverhaltsermittlung notwendig erscheinen, die dem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zugänglich ist. Ob darüber hinaus vorliegend die Baugenehmigung im Hinblick auf die Schwierigkeiten der genauen Ermittlung des Befreiungsumfangs inhaltlich bestimmt genug ist, müsste ebenfalls im Rahmen einer Hauptsache geklärt werden.
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Aufgrund der offenen Erfolgsaussichten im Übrigen wäre eine Interessensabwägung durchzuführen, die vorliegend jedoch zulasten des Antragstellers ausgeht.
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2.2 Bei der Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des auch hier einschlägigen Entfallens der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung (§ 212a BauGB) die Gewichtung der Interessen bereits zugunsten des Bauherrn verschoben worden ist (BayVGH, B.v. 26.7.2022 – 9 CS 22.1275 – juris Rn. 25). Im Übrigen ist abzuwägen inwiefern für den Kläger Unabänderliches bewirkt oder Schwerwiegendes abverlangt wird.
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Die Interessensabwägung fällt zu Lasten des Antragstellers aus, da dieser bereits durch das oben unter 1. gezeigte Verhalten deutlich zu erkennen geben hat, dass eine eventuell vorliegende Verletzung seiner Planungshoheit für ihn keine wirkliche Bedeutung hatte. Der Antragsteller hat vielmehr durch sein Einvernehmen zum vorherigen Bauantrag zu erkennen gegeben, dass auch die weitergehende Verlagerung der Erschließungsstraße mit ihrem Grünstreifen für ihn akzeptabel ist. Im Übrigen darf darauf verwiesen werden, dass sowohl die Begrünung als auch der prinzipielle Verlauf der Erschließungsstraße nicht in Gänze in Frage gestellt sind. Vielmehr soll die Erschließungsstraße offensichtlich „nur verlegt“ werden. Die Planungsziele als solche werden wohl nicht in Frage gestellt, sondern eher die räumliche Anordnung dieser. Eine gänzlich andere Erschließung oder gar irgendwelche zusätzlichen Erschließungskosten sind für den Antragsteller nicht zu befürchten.
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Aus diesen Gründen muss das Suspensivinteresse des Antragstellers hinter dem Vollzugsinteresse des Bauherrn zurückstehen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Da sich die Beigeladene durch Antragstellung einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es auch der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO, ihr einen Kostenerstattungsanspruch zuzusprechen.
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Die Entscheidung zum Streitwert fußt auf § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.5 und 9.10 des Streitwertkatalogs.