Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 28.04.2023 – 101 VA 162/22
Titel:

Akteneinsicht eines Genossenschaftsmitglieds in die Insolvenztabelle der Genossenschaft

Normenketten:
EGGVG § 23 Abs. 1 S. 1, § 25, § 26 Abs. 2 S. 2, § 29
ZPO § 299 Abs. 2
InsO § 1 Abs. 1, § 80 Abs. 1
Leitsätze:
Der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer eingetragenen Genossenschaft ist zur Einforderung rückständiger Pflichteinzahlungen der Mitglieder dann nicht befugt, wenn diese Beträge zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger nicht erforderlich sind und ihre Einziehung deshalb allein dem Innenausgleich unter den Genossenschaftsmitgliedern dienen kann. (Rn. 53 – 62)
1. Einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 23 Abs. 1 S. 1 EGGVG fehlt das Rechtsschutzinteresse, wenn die angefochtene Maßnahme bereits vor Eingang der Antragsschrift bei Gericht durch eine tatsächliche, als solche nicht wieder rückgängig zu machende Vollziehung der Anordnung ihre Erledigung gefunden hat. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein der Umstand, dass es sich bei der Antragstellerin um eine Rechtsanwältin handelt, steht im Falle einer unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrung der Annahme eines fehlenden Verschuldens für die Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht entgegen, wenn die Unrichtigkeit für die Rechtsanwältin nicht ohne nähere Rechtsprüfung erkennbar war (Anschluss BGH BeckRS 2020, 37294). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Umstand, dass der Dritte durch die begehrte Einsicht in die Insolvenzakten Informationen über geschützte personen- oder unternehmensbezogene Daten Verfahrensbeteiligter erlangen kann, steht der Bewilligung von Akteneinsicht nicht per se entgegen. (Rn. 73) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das nach § 299 Abs. 2 ZPO für die Akteneinsicht eines Dritten erforderliche rechtliche Interesse besteht, wenn der Gegenstand des Verfahrens, in dessen Akten Einsicht begehrt wird, für die rechtlichen Belange des Dritten von konkreter rechtlicher Bedeutung ist (Anschluss BGH BeckRS 2020, 32862). (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Akteneinsicht, Dritter, Genossenschaft, Genossenschaftsmitglied, Insolvenz, Insolvenztabelle, rechtliches Interesse, Ermessen, Verhältnismäßigkeit, Insolvenzverwalter, rückständige Pflichteinlage
Fundstellen:
ZInsO 2023, 1421
ZIP 2023, 1091
ZRI 2023, 559
LSK 2023, 8850
NZI 2023, 463
BeckRS 2023, 8850
NZG 2023, 1469

Tenor

I. Der Antragstellerin wird auf ihren Antrag vom 23. Januar 2023 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Stellung des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid des Amtsgerichts W. – Abteilung für Insolvenzsachen – vom 21. November 2022 (Az.: IN 5/20) gewährt.
II. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Dezember 2022 wird als unzulässig verworfen, soweit sich die Antragstellerin gegen die unter Ziffer 1 des vorgenannten Bescheids bewilligte eingeschränkte Akteneinsicht durch Übersendung des teilgeschwärzten Verwalterberichts vom 18. November 2022 wendet.
III. Im Übrigen wird der Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen.
IV. Der Geschäftswert des Verfahrens wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
V. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
1
Beim Amtsgericht W. wird aufgrund des Eigenantrags der X. eG (im Folgenden: Schuldnerin) vom 8. Januar 2020 ein Insolvenzverfahren über deren Vermögen geführt (Az.: IN 5/20). Mit Beschluss vom 1. April 2020 wurde die Antragstellerin zur Insolvenzverwalterin bestellt. Diese nimmt den weiteren Beteiligten, welcher der Schuldnerin als Genosse beigetreten war, in einem vor dem Landgericht Chemnitz geführten Rechtsstreit (Az.: 2 O 714/22) auf Zahlung der restlichen Einlage in Höhe von 15.417,20 € in Anspruch.
2
Mit Anwaltsschreiben vom 2. August 2022 beantragte der weitere Beteiligte beim Amtsgericht W. die Überlassung der Insolvenztabelle. Zur Begründung führte er unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 15. Dezember 2020 (Az.: II ZR 108/19) aus, es bestehe ein rechtliches Interesse an der Gewährung von Akteneinsicht, wenn eine Einlage nicht vollständig eingezahlt sei und der Insolvenzverwalter deren Einzahlung verlange. Die Einziehungsbefugnis des Insolvenzverwalters ende, wenn die vorhandene Masse ausreiche, um die echten Insolvenzgläubiger zu befriedigen. Nach seinen Informationen sei das in dem vorgenannten Insolvenzverfahren der Fall. In dem gegen ihn geführten Rechtsstreit vor dem Landgericht Chemnitz habe die Antragstellerin die Insolvenztabelle nicht vorgelegt, sondern sich darauf berufen, dass er (der weitere Beteiligte) hinsichtlich des fehlenden Kapitalbedarfs darlegungspflichtig sei. Zu seiner Rechtsverteidigung sei er dringend auf die Einsicht in die Insolvenztabelle angewiesen.
3
Die Antragstellerin widersprach der Gewährung der beantragten Akteneinsicht mit der Begründung, der weitere Beteiligte sei weder am Insolvenzverfahren beteiligt noch habe er ein rechtliches Interesse glaubhaft gemacht. Die von ihm zitierte Rechtsprechung sei zu dem nicht vergleichbaren Fall ergangen, dass der Insolvenzverwalter einer Kommanditgesellschaft gemäß § 171 Abs. 2 HGB Ansprüche von Gesellschaftsgläubigern gegen einen Kommanditisten geltend mache, dessen Einlage zurückbezahlt worden sei und daher nach § 172 Abs. 4 HGB gegenüber den Gläubigern als nicht geleistet gelte. Die Massegenerierungspflicht des Insolvenzverwalters gemäß §§ 80, 148 InsO dürfe nicht durch Auskunftsersuchen gefährdet werden. In dem vorliegenden Fall des Akteneinsichtsgesuchs eines Prozessgegners des Insolvenzverwalters in einem laufenden kontradiktorischen Massegenerierungsverfahren sei das erforderliche rechtliche Interesse restriktiv auszulegen, wobei das Geheimhaltungsinteresse des Insolvenzverwalters zu beachten sei. Die Antragstellerin führe derzeit bundesweit eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten gegen Mitglieder der Schuldnerin, von denen eine größere Zahl von dem Prozessbevollmächtigten des weiteren Beteiligten vertreten werde. Die Gewährung von Akteneinsicht sei deshalb geeignet, dem weiteren Beteiligten Hinweise auf das prozesstaktische Verhalten der Antragstellerin zu geben.
4
Mit Bescheid vom 21. November 2022, der Antragstellerin zugestellt am 22. November 2022, bewilligte das Amtsgericht W. dem weiteren Beteiligten unter stillschweigender Zurückweisung des weitergehenden Gesuchs Akteneinsicht in den „teilweise geschwärzten“ aktuellen Verwalterbericht und die ebenfalls „teilweise geschwärzte“ Tabellenstatistik.
5
Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, mangels Beteiligtenstellung im Insolvenzverfahren komme nur eine Akteneinsicht gemäß § 4 InsO i. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO in Betracht. Bei der Entscheidung über das Akteneinsichtsgesuch eines Dritten sei das Interesse der Verfahrensbeteiligten an der Geheimhaltung des Verfahrensstoffes mit dem gegenläufigen, gleichfalls geschützten Informationsinteresse des Dritten unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen. Um in dem gegen ihn geführten Rechtsstreit vor dem Landgericht Chemnitz darlegen zu können, ob das Vermögen der Schuldnerin ausreiche, um alle Gläubigerforderungen zu befriedigen, sei der weitere Beteiligte darauf angewiesen, Einsicht in die Insolvenztabelle zu nehmen, weil er auf anderem Weg keine Kenntnis über die angemeldeten Forderungen und das jeweilige Prüfungsergebnis erlangen könne. Daher sei ihm Einsicht in Teile des letzten Verwalterberichts sowie die – hinsichtlich der Gläubigerbezeichnungen geschwärzte – Tabellenstatistik zu gewähren. Dadurch werde das Geheimhaltungsinteresse der Gläubiger und der Insolvenzverwalterin gewahrt, eventuelle Ausforschungsmöglichkeiten würden vermieden.
6
Die in dem Bescheid vom 21. November enthaltene Rechtsbehelfsbelehrunglautet auszugsweise wie folgt:
„Gegen die Entscheidung kann binnen eines Monats Antrag auf gerichtliche Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit gestellt werden.
Der Antrag ist bei dem Amtsgericht W.
(…) oder bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht Zivilsenat 8. M1. einzulegen.
(…)
Der Antrag wird durch Einreichung einer Antragsschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt. Der Antrag kann zur Niederschrift eines anderen Amtsgerichts erklärt werden; die Antragsfrist ist jedoch nur gewahrt, wenn die Niederschrift rechtzeitig bei einem der Gerichte, bei denen der Antrag zu stellen ist, eingeht. Die Antragsschrift bzw. die Niederschrift der Geschäftsstelle ist von dem Antragsteller oder seinem Bevollmächtigen zu unterzeichnen.“
7
In Ausführung des Bescheids vom 21. November 2022 ordnete die Rechtspflegerin mit Verfügung vom selben Tag unter Ziffer 2 an, dem Prozessbevollmächtigten des weiteren Beteiligten eine Kopie des Verwalterberichts vom 18. November 2022 zu übermitteln, in der mit Ausnahme der Angabe „Kontostand Gesamt“, der Anzahl der Gläubiger und der Forderungshöhe alles zu schwärzen sei. Unter Ziffer 4 der Verfügung wurde angeordnet, nach Eingang einer aktuellen Tabellenstatistik eine Kopie anzufertigen, alle Gläubiger-Bezeichnungen zu schwärzen und die teilgeschwärzte Kopie sodann dem Prozessbevollmächtigten des weiteren Beteiligten zu übermitteln. Am 29. November 2022 unterrichtete die Rechtspflegerin die Antragstellerin telefonisch „über die erfolgte Akteneinsicht“ durch Überlassung einer teilgeschwärzten Kopie des Verwalterberichts vom 18. November 2022 an den Prozessbevollmächtigten des weiteren Beteiligten.
8
Mit Schriftsatz an das Amtsgericht W. vom 5. Dezember 2022, dort eingegangen am selben Tag, hat die Antragstellerin Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt mit dem Rechtsschutzziel, den Bescheid des Amtsgerichts – Insolvenzgerichts – W. vom 21. November 2022 (Az.: IN 5/20) aufzuheben und das Akteneinsichtsersuchen des Antragstellers (des weiteren Beteiligten) zurückzuweisen.
9
Sie führt im Wesentlichen aus, mit der Begründung des Insolvenzgerichts könne ein Akteneinsichtsrecht des weiteren Beteiligten nicht gerechtfertigt werden. Einem am Verfahren nicht beteiligten Dritten könne ohne Einwilligung der Beteiligten gemäß § 4 InsO, § 299 Abs. 2 ZPO nach pflichtgemäßem Ermessen Akteneinsicht gewährt werden, wenn ein rechtliches Interesse glaubhaft gemacht sei. Der weitere Beteiligte habe nicht nachvollziehbar dargelegt, weshalb er der Einsicht in die Insolvenzakten und die Insolvenztabelle bedürfe. Die Frage, ob das Vermögen der Schuldnerin ausreiche, um deren Gläubiger zu befriedigen, sei für die im Verfahren vor dem Landgericht Chemnitz zu klärenden Sach- und Rechtsfragen irrelevant. Der weitere Beteiligte stütze seine gegenteilige Ansicht auf eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die „zu Kommanditgesellschaften“ ergangen sei. Der Sachverhalt, welcher dem zitierten Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15. Dezember 2020 (Az.: II ZR 108/19) zugrunde gelegen habe, sei mit der vor dem Landgericht Chemnitz streitgegenständliche Frage, ob der weitere Beteiligte seine Einlageverpflichtung gegenüber der Schuldnerin erfüllt habe, nicht vergleichbar. Die ausstehende Einlage eines Genossenschaftsmitglieds sei nach der einhelligen Rechtsprechung der mit dieser Frage bislang befassten Oberlandesgerichte unabhängig davon zu bezahlen, ob sie zur Befriedigung von Insolvenzgläubigern benötigt werde oder nicht.
10
Am 22. Dezember 2022 hat das Amtsgericht W. die Akten an das Bayerische Oberste Landesgericht weitergeleitet, wo der Antrag der Antragstellerin auf gerichtliche Entscheidung am 28. Dezember 2022 eingegangen ist.
11
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Dezember 2022 als unzulässig zu verwerfen.
12
Der Antrag sei unzulässig, da die Antragsfrist nicht eingehalten sei. Gemäß § 26 Abs. 1 EGGVG könne der Antrag auf gerichtliche Entscheidung binnen eines Monats schriftlich bei dem nach § 25 EGGVG zuständigen Gericht eingelegt werden; zuständiges Gericht sei nach § 25 EGGVG in Verbindung mit Art. 12 Nr. 3 BayAGGVG das Bayerische Oberste Landesgericht. Bei diesem Gericht sei der Antrag erst nach Fristablauf eingegangen.
13
Die Antragstellerin beantragt mit Schriftsatz vom 23. Januar 2023,
eingegangen am selben Tag, ihr gegen die Versäumung der Einspruchsfrist (sic) betreffend den Bescheid des Amtsgerichts W. vom 21. November 2022 (Az.: IN 5/20), Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, und wiederholt zugleich ihren Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegenüber dem Bayerischen Obersten Landesgericht.
14
Zur Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags führt sie aus, die Fristversäumnis habe auf einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrungdes Amtsgerichts W. sowie auf dessen Versäumnis, den Antrag auf gerichtliche Entscheidung innerhalb des zu erwartenden Geschäftsgangs ordnungsgemäß und damit rechtzeitig an das zuständige Gericht weiterzuleiten, beruht.
15
Die ihr erteilte Rechtsbehelfsbelehrungsei unrichtig gewesen, weil danach der Antrag auf gerichtliche Entscheidung entgegen der gesetzlichen Regelung auch fristwahrend beim Amtsgericht W. habe gestellt werden können. Dadurch sei ein entsprechender Vertrauenstatbestand zu ihren Gunsten geschaffen worden. Die Antragstellerin versichert an Eides Statt, dass sie auf die Richtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrungvertraut und daher keinen Grund gesehen habe, die Rechtsmittelzuständigkeit nochmals selbständig zu prüfen. Da es üblich sei, einen Rechtsbehelf beim Ausgangsgericht einzulegen, um diesem die Möglichkeit zu eröffnen, eine Abhilfeentscheidung zu treffen, sei es ihr logisch und naheliegend erschienen, den Rechtsbehelf beim Amtsgericht einzulegen. Erst durch den ihr am 19. Januar 2023 übermittelten Schriftsatz des Antragsgegners vom 11. Januar 2023 habe sie erfahren, dass die Antragsfrist nach § 26 Abs. 1 EGGVG nicht gewahrt sei, weil ihr Antrag erst am 28. Dezember 2022 beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen sei.
16
Nach § 26 Abs. 2 Satz 2 EGGVG werde ein Fehlen des Verschuldens unter anderem dann vermutet, wenn in dem Bescheid eine Belehrung über die Zulässigkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung sowie über das Gericht, bei dem er zu stellen ist, unrichtig erteilt ist. Auch ein Rechtsanwalt dürfe grundsätzlich auf die Richtigkeit einer gerichtlich erteilten, inhaltlich fehlerhaften, aber nicht offensichtlich unrichtigen Rechtsbehelfsbelehrungvertrauen. Die Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrungsei nicht offenkundig; denn sie sei aus sich heraus verständlich und erinnere an die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf sowohl beim iudex a quo als auch beim iudex ad quem einzulegen.
17
Darüber hinaus sei die Kausalität des Fehlers entfallen, weil der Rechtsbehelf im Fall seiner Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang innerhalb der Monatsfrist beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen wäre. Ein Gericht, bei dem das Verfahren anhängig gewesen sei, sei grundsätzlich verpflichtet, ein fristgebundenes Rechtsmittel oder eine fristgebundene Rechtsmittelbegründung, die entgegen den einschlägigen Bestimmungen bei ihm eingereicht worden seien, im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Dies folge aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch des Rechtsuchenden auf ein faires Verfahren. Gehe der Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden könne, dürfe der Beteiligte darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig beim zuständigen Gericht eingehe. Geschehe dies nicht, wirke sich das Verschulden des Beteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig davon zu gewähren sei, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruht habe.
18
Im vorliegenden Fall habe zwischen dem Eingang des Rechtsbehelfs beim Amtsgericht W. am 5. Dezember 2022 und dem Ablauf der Einlegungsfrist am 22. Dezember 2022 eine Zeitspanne von mehr als zwei Wochen gelegen. Es liege nicht im Verantwortungsbereich der Antragstellerin, wenn das Amtsgericht den Antrag offenbar 17 Tage lang unbearbeitet gelassen habe.
19
Der Antragsgegner beantragt,
den Wiedereinsetzungsantrag der Antragstellerin vom 23. Januar 2023 als unbegründet abzulehnen.
20
Zur Begründung führt er aus, ein durch eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrungentstandener Vertrauenstatbestand könne entfallen, wenn die Unrichtigkeit der gerichtlichen Rechtsbehelfsbelehrungohne Weiteres, also ohne nähere Rechtsprüfung, erkennbar sei. Das sei hier der Fall. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen für einen Antrag nach § 23 EGGVG könnten, selbst wenn sie einem Rechtsanwalt nicht geläufig seien, durch einen Blick in die Regelung des § 26 EGGVG ohne nähere Rechtsprüfung klar entnommen werden. Dem Wortlaut der Vorschrift sei zu entnehmen, dass der schriftliche Antrag an das nach § 25 EGGVG zuständige Oberlandesgericht zu richten sei. Mündlich könne der Antrag zur Niederschrift nicht nur bei dem zuständigen Oberlandesgericht, sondern auch bei jedem Amtsgericht gestellt werden. Daraus ergebe sich eindeutig, dass ein schriftlicher Antrag jedenfalls nicht bei einem Amtsgericht gestellt werden könne.
II.
21
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist teilweise unzulässig und hat im Übrigen in der Sache keinen Erfolg.
22
1. Soweit sich die Antragstellerin gegen die unter Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids bewilligte Übersendung des teilgeschwärzten Verwalterberichts vom 18. November 2022 an den weiteren Beteiligten wendet, ist der Antrag unzulässig; denn diese Maßnahme war im Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollzogen.
23
a) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist allerdings statthaft (§ 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG). Bei dem angefochtenen Bescheid, durch den einem am Insolvenzverfahren nicht beteiligten Dritten gemäß § 4 InsO i. V. m. § 299 Abs. 2 ZPO (eingeschränkte) Akteneinsicht gewährt wird, handelt es sich um eine Maßnahme der Justizbehörde auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts im Sinn der genannten Vorschrift (vgl. BGH, Beschluss vom 29. April 2015, XII ZB 214/14, NJW 2015, 1827 Rn. 10; Lückemann in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 23 EGGVG Rn. 12 m. w. N.).
24
b) Die Antragstellerin ist auch antragsbefugt. Sie macht geltend, dass sie in ihrer Eigenschaft als Insolvenzverwalterin über das Vermögen der Schuldnerin durch den angefochtenen Bescheid in ihren Rechten verletzt werde (§ 24 Abs. 1 EGGVG), weil der Gewährung von Akteneinsicht an den weiteren Beteiligten ihr Geheimhaltungsinteresse entgegenstehe. Damit beruft sie sich auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG), das sie im Insolvenzverfahren als Partei kraft Amtes in eigener Verantwortung auch hinsichtlich des Interesses der Schuldnerin und der Insolvenzgläubiger an der Geheimhaltung des Verfahrensstoffs wahrnimmt (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 27. Oktober 1983, 1 ARZ 334/83, BGHZ 88, 331 [juris Rn. 9]; BayObLG, Beschluss vom 2. September 2021, 101 VA 100/21, ZIP 2022, 233 Rn. 24 ff. m. w. N.; Althammer in Zöller, ZPO, § 51 Rn. 7).
25
c) Soweit die angefochtene Maßnahme bereits vor Eingang der Antragsschrift bei Gericht durch eine tatsächliche, als solche nicht wieder rückgängig zu machende Vollziehung der Anordnung ihre Erledigung gefunden hat, fehlt der Antragstellerin aber das erforderliche Rechtsschutzinteresse (vgl. KG, Beschluss vom 8. Mai 1990, 1 VA 7/89, NJW-RR 1991, 1085 juris Rn. 5; Pabst in Münchner Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2022, § 28 EGGVG Rn. 9). Die unter Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids angeordnete Überlassung einer teilgeschwärzten Kopie des Verwalterberichts vom 18. November 2022 an den Prozessbevollmächtigten des weiteren Beteiligten wurde zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt vor dem 29. November 2022 vollzogen. Die dadurch bewirkte Kenntnis des weiteren Beteiligten vom Inhalt der ungeschwärzten Teile des Verwalterberichts kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.
26
Über den bereits erfolgten teilweisen Vollzug des Bescheids vom 21. November 2022 war die Antragstellerin am 29. November 2022 telefonisch unterrichtet worden. Dennoch hat sie mit ihrem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Dezember 2022 lediglich die Aufhebung der bereits durch Vollziehung erledigten Maßnahme, nicht aber gemäß § 28 Abs. 1 Satz 4 EGGVG die Feststellung, dass die Überlassung des teilgeschwärzten Verwalterberichts an den weiteren Beteiligten rechtswidrig gewesen war, beantragt.
27
2. Hinsichtlich der nach Aktenlage noch nicht vollzogenen Ziffer 2 des Bescheids – der Überlassung einer teilgeschwärzten Kopie der aktuellen Tabellenstatistik – ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach der gebotenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Antragsfrist zwar zulässig, aber unbegründet.
28
a) Der Antrag vom 5. Dezember 2022 ist zwar erst am 28. Dezember 2022 und somit verspätet bei dem in erster Instanz zuständigen Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen. Denn die einmonatige Frist zur Einlegung des Rechtsbehelfs (§ 26 Abs. 1 EGGVG) gegen den am 22. November 2022 zugestellten Bescheid war mit dem Ablauf des 22. Dezember 2022 verstrichen (§ 16 Abs. 2 FamFG, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB). Die Fehlerhaftigkeit der erteilten Rechtsbehelfsbelehrungwirkt sich auf Beginn und Ablauf der Frist nicht aus (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Oktober 2003, IX ZB 36/03, NJW-RR 2004, 408 [juris Rn. 7 ff.]).
29
b) Der Antragstellerin ist jedoch auf ihren Antrag vom 23. Januar 2023 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Die Versäumung der Frist hat ihre Ursache darin, dass die Rechtsbehelfsbelehrunginhaltlich unrichtig ist und zu Gunsten der Antragstellerin einen entsprechenden Vertrauenstatbestand geschaffen hat.
30
aa) Die dem Beschwerdebescheid beigegebene Rechtsbehelfsbelehrungist inhaltlich fehlerhaft, weil sie das Gericht, bei dem der Antrag auf gerichtliche Entscheidung anzubringen ist, unrichtig bezeichnet.
31
Die ausschließliche sachliche Gerichtszuständigkeit für Verfahren über die Anfechtung von Justizverwaltungsakten auf den in § 23 Abs. 1 EGGVG genannten Gebieten richtet sich nach § 25 EGGVG (vgl. Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, EGGVG § 25 Rn. 1). In Bezug auf die Justizverwaltungsbehörden des Freistaats Bayern ergibt sich aus der Bestimmung in Art. 12 Nr. 3 BayAGGVG, mit der von der Konzentrationsermächtigung des § 25 Abs. 2 EGGVG Gebrauch gemacht worden ist, die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts anstelle der Oberlandesgerichte Bamberg, München und Nürnberg.
32
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist innerhalb der Monatsfrist des § 26 Abs. 1 EGGVG beim zuständigen Gericht anzubringen. Dass diese Vorschrift für die Form der Einlegung zwei Möglichkeiten zur Verfügung stellt, nämlich „schriftlich“ oder „zur Niederschrift der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts oder eines Amtsgerichts“, ändert daran nichts. In beiden Fällen ist der Antrag an das zuständige Gericht, in Bayern mithin an das Bayerische Oberste Landesgericht, zu richten. Wird der Antrag schriftlich gestellt, so wird im Fall einer falschen Adressierung die einmonatige Antragsfrist des § 26 Abs. 1 EGGVG nur gewahrt, wenn der Schriftsatz noch innerhalb der Frist beim zuständigen Gericht eingeht (BayOblG, Beschluss vom 19. August 2021, 102 VA 56/21, NJW-RR 2021, 1431 Rn. 36; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, EGGVG § 26 Rn. 19 bis 21). Soweit Anträge gemäß § 14b FamFG als elektronisches Dokument einzureichen sind, gilt nichts anderes. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem das Dokument in der Form des § 14 Abs. 2 FamFG in Verbindung mit § 130a ZPO beim zuständigen Gericht eingegangen ist.
33
Nach der erteilten Rechtsbehelfsbelehrungist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung dagegen „bei dem Amtsgericht W. (…) oder bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht“ einzulegen. Der erläuternde Hinweis, dass die Antragsfrist nur gewahrt sei, wenn „die Niederschrift rechtzeitig bei einem der Gerichte, bei denen der Antrag zu stellen ist, eingeht“, suggeriert, dass zur Wahrung der Frist der Eingang beim Amtsgericht W. genügt. Dies ist jedoch falsch, weil der schriftlich bzw. in elektronischer Form gestellte Antrag – wie ausgeführt – innerhalb der Frist beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingehen muss.
34
bb) Der erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen Belehrungsmangel und Fristversäumung (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 4. September 2020, 1 BvR 2427/19, NJW 2021, 915 Rn. 31; BGH, Beschluss vom 21. Februar 2020, V ZR 17/19, NJW 2020, 1525 Rn. 10; Sternal in Sternal, FamFG, 23. Aufl. 2023, § 17 Rn. 47 f.) ist im Streitfall gegeben. Die Antragstellerin hat ihren Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 5. Dezember 2022 an das Amtsgericht W. adressiert und sich damit bei der Einlegung des Rechtsbehelfs vom fehlerhaften Inhalt der Belehrung leiten lassen. cc) An der Versäumung der Antragsfrist trifft die Antragstellerin kein Verschulden.
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(1) Nach § 26 Abs. 2 Satz 2 EGGVG wird ein Fehlen des Verschuldens vermutet, wenn die Fristversäumung ihren Grund darin hat, dass in dem Bescheid der Justizverwaltung eine Belehrung über die Zulässigkeit des Antrags auf gerichtliche Entscheidung sowie über das Gericht, bei dem er zu stellen ist, dessen Sitz und die einzuhaltende Form und Frist unterblieben oder unrichtig erteilt ist.
36
Durch die unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrungwurde ein Vertrauenstatbestand dahin geschaffen, dass der (schriftliche) Antrag fristwahrend beim Amtsgericht W. gestellt werden könne. Der Antragsgegner hat die zugunsten der Antragstellerin sprechende Vermutung fehlenden Verschuldens nicht widerlegt.
37
Der Umstand, dass es sich bei der Antragstellerin um eine Rechtsanwältin handelt, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Auch ein Rechtsanwalt darf grundsätzlich auf die Richtigkeit einer (gerichtlich) erteilten Rechtsbehelfsbelehrungvertrauen, ohne dass es darauf ankommt, ob die Belehrung gesetzlich vorgeschrieben ist oder nicht; denn durch eine Rechtsbehelfsbelehrung, deren Unrichtigkeit für einen Rechtsanwalt nicht ohne Weiteres, das heißt nicht ohne nähere Rechtsprüfung erkennbar ist, wird auch für ihn ein Vertrauenstatbestand geschaffen (vgl. BVerfG NJW 2021, 915 Rn. 36 f.; BGH, Beschluss vom 25. November 2020, XII ZB 256/20, NJW 2021, 784 Rn. 7). Der inhaltlich fehlerhaften, aber nicht offensichtlich unrichtigen Belehrung darf ein Rechtsanwalt vertrauen, so dass er sich mangels konkreter entgegenstehender Umstände nicht veranlasst sehen muss, sich mit der einschlägigen gesetzlichen Regelung und ihrer Interpretation durch Rechtsprechung und Literatur näher zu befassen (vgl. BVerfG NJW 2021, 915 Rn. 36; BGH NJW 2021, 784 Rn. 8).
38
Nach diesem auch im Streitfall anzulegenden Maßstab durfte die Antragstellerin auf den Inhalt der erteilten Rechtsbehelfsbelehrungvertrauen. Deren Unrichtigkeit ist nicht offenkundig, denn die Belehrung ist aus sich heraus verständlich und erinnert an die Möglichkeit, eine gerichtliche Überprüfung der Ausgangsentscheidung durch Einlegung des Rechtsbehelfs sowohl beim iudex a quo als auch beim iudex ad quem zu veranlassen (vgl. § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Im Hinblick darauf musste sich der Antragstellerin die Unrichtigkeit der Belehrung nicht aufdrängen, wenngleich die Ausgangsentscheidung nicht von einem Gericht, sondern von einer Justizverwaltungsbehörde erlassen worden ist (vgl. BayObLG NJW-RR 2021, 1431 Rn. 45). Im Streitfall war die erteilte Rechtsbehelfsbelehrunggeeignet, auch ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand den Anschein der Richtigkeit zu erwecken.
39
(2) Unabhängig davon hätte sich ein etwaiges Verschulden der Antragstellerin auf die Versäumung der Antragsfrist nicht mehr ausgewirkt, weil der Antrag vom 5. Dezember 2022 am selben Tag und damit so zeitig beim Amtsgericht W. als dem bislang mit der Sache befassten Gericht eingegangen war, dass die fristgerechte Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Bayerische Oberste Landesgericht im ordentlichen Geschäftsgang ohne Weiteres erwartet werden konnte. In einem solchen Fall darf der Rechtsuchende darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch fristgerecht beim zuständigen Gericht eingeht. Geschieht dies nicht, ist ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ohne dass es darauf ankommt, auf welchen Gründen die fehlerhafte Einreichung beruht (vgl. zum Fall einer Berufungseinlegung beim unzuständigen Gericht: BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 1995, 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 [juris Rn. 48]).
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dd) Auch die weiteren Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind gegeben.
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Gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 EGGVG ist der Antrag auf Wiedereinsetzung binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen (§ 26 Abs. 3 Satz 2 EGGVG).
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Die Antragstellerin hat durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht, dass sie erst durch die ihr am 19. Januar 2023 zugegangene Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München vom 11. Januar 2023 erfahren habe, dass sie die „Einspruchsfrist“ – gemeint ist die Antragsfrist nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EGGVG – versäumt haben solle. Der behauptete Zugangszeitpunkt wird zudem durch das Empfangsbekenntnis der Antragstellerin vom 19. Januar 2023 belegt.
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Die Wiedereinsetzungsfrist endete demnach mit Ablauf des 2. Februar 2023. Der Wiedereinsetzungsantrag der Antragstellerin ist am 23. Januar 2023 beim Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen.
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c) Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist jedoch, soweit er zulässig ist, unbegründet. Die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids bewilligte Überlassung einer teilgeschwärzten Kopie der aktuellen Tabellenstatistik an den weiteren Beteiligten verletzt die Antragstellerin nicht in ihrem
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Geheimhaltungsinteresse. Der weitere Beteiligte hat ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht glaubhaft gemacht. Die als Organ der Justizverwaltung tätig gewordene Rechtspflegerin hat mit der Bewilligung von Akteneinsicht in dem durch Ziffer 4 der Verfügung vom 21. November 2022 konkretisierten Umfang das ihr eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt.
46
aa) Wie das Amtsgericht zutreffend erkannt hat, kann dem weiteren Beteiligten Einsicht in die Akten des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin nur unter den Voraussetzungen § 299 Abs. 2 ZPO gewährt werden. Ein Akteneinsichtsrecht nach § 299 Abs. 1 ZPO steht ihm nicht zu, weil die Mitglieder einer Genossenschaft im Insolvenzverfahren über deren Vermögen nicht die Stellung eines Verfahrensbeteiligten haben.
47
bb) Das gemäß § 299 Abs. 2 ZPO erforderliche rechtliche Interesse an der begehrten Akteneinsicht hat die Rechtspflegerin zu Recht bejaht.
48
Ein rechtliches Interesse besteht, wenn der Gegenstand des Verfahrens, in dessen Akten Einsicht begehrt wird, für die rechtlichen Belange des außerhalb des Verfahrens stehenden Dritten von konkreter rechtlicher Bedeutung ist (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Oktober 2020, IX AR [VZ] 2/19, NJW-RR 2021, 48 Rn. 14; BayObLG ZIP 2022, 233 Rn. 20).
49
Der weitere Beteiligte macht geltend, dass er nur durch Einsichtnahme in die Tabelle in Erfahrung bringen könne, ob die vorhandene Masse der Schuldnerin zur Befriedigung der „echten Insolvenzgläubiger“ ausreiche. Diese Information benötige er zu seiner Verteidigung gegen die von der Antragstellerin gegen ihn vor dem Landgericht Chemnitz erhobene Klage. Wenn die vorhandenen Vermögenswerte der Schuldnerin zur Befriedigung von deren Gläubigern ausreichten, wovon er nach den ihm vorliegenden Informationen ausgehe, sei die Antragstellerin nicht befugt, ihn auf Leistung vermeintlich rückständiger „Mitgliedsbeiträge“ in Anspruch zu nehmen.
50
Mit diesen Ausführungen hat der weitere Beteiligte ein rechtliches Interesse an der begehrten Einsichtnahme in die Insolvenztabelle ausreichend dargelegt. Denn seine Rechtsansicht, dass die Antragstellerin zur Einziehung rückständiger Pflichteinzahlungen auf die von ihm übernommenen Geschäftsanteile dann nicht befugt sei, wenn die bereits vorhandene Insolvenzmasse zur Befriedigung sämtlicher Insolvenzgläubiger ausreiche, steht im Einklang mit der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Zweck des Insolvenzverfahrens.
51
(1) Die im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung über das Vermögen der Schuldnerin bereits fälligen, rückständigen Pflichteinzahlungen müssen noch geleistet werden. Die entsprechenden Forderungen der Genossenschaft gegen ihre Mitglieder fallen in die Insolvenzmasse und können gemäß § 80 Abs. 1 InsO vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden (allg. M., RG, Urt. v. 7. Mai 1910, I 232/09, RGZ 73, 410, 411; Urt. v. 15. Januar 1932, II 245/31, RGZ 135, 55, 60 f.; Urt. v. 23. Juni 1933, II 55/33, RGZ 141, 230, 232; BGH, Beschluss vom 16. März 2009, II ZR 138/08, NJW-RR 2009, 1262 Rn. 17; Beuthien in Beuthien, GenG, 16. Aufl. 2018, § 7 Rn. 10; Schöpflin, ebenda, § 101 Rn. 12; Fandrich in Pöhlmann/Fandrich/Bloehs, GenG, 4. Aufl. 2012, § 101 Rn. 2; Schaffland in Lang/Weidmüller, GenG, 34. Aufl. 2005, § 101 Rn. 8; Müller, GenG, 2. Aufl. 2000, § 101 Rn. 19; Gräser in Hettrich/Pöhlmann/Gräser/Röhrich, GenG, 2. Aufl. 2000, § 101 Rn. 9).
52
Umstritten ist jedoch, ob der Insolvenzverwalter zur Einforderung rückständiger Pflichteinzahlungen der Genossenschaftsmitglieder auch dann befugt ist, wenn diese Beträge zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger nicht erforderlich sind (dagegen: Müller, GenG, § 101 Rn. 19; Pöhlmann in Hettrich/Pöhlmann/Gräser/Röhrich, GenG, § 7 Rn. 13; LG Heidelberg, Urt. v. 2. Februar 2023, 7 S 1/22, juris Rn. 45 ff.; dafür: OLG Brandenburg, Beschluss vom 7. Dezember 2021, 4 U 61/22, juris Rn. 43 f.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. November 2022, 1 U 87/22; OLG Celle, Beschluss vom 6. Oktober 2022, 9 U 70/22; OLG Dresden, Beschluss vom 13. September 2022, 13 U 1140/22; die drei letztgenannten, unveröffentlichten Beschlüsse hat die Antragstellerin als Anlagen zu ihrem Schriftsatz vom 5. Dezember 2022 vorgelegt).
53
(2) Eine höchstrichterliche Entscheidung speziell hierzu ist – soweit ersichtlich – noch nicht ergangen. In seinem Urteil vom 15. Dezember 2020 (Az.: II ZR 108/19; BGHZ 228, 28) hat der Bundesgerichtshof allerdings die bis dahin umstrittene Frage, ob der Insolvenzverwalter einer Kommanditgesellschaft zur Einziehung von Forderungen gegen Kommanditisten zwecks Durchführung des Innenausgleichs unter den Gesellschaftern befugt ist, unter Verweis auf den Zweck des Insolvenzverfahrens verneint (BGH a. a. O. Rn. 63 ff.).
54
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 InsO dient das Insolvenzverfahren dazu, die Gläubiger des Schuldners gemeinschaftlich zu befriedigen, indem dessen Vermögen verwertet und der Erlös verteilt wird. Der Bundesgerichtshof verweist darauf, dass § 1 Abs. 2 Satz 3 des Regierungsentwurfs zur Insolvenzordnung (BT-Drucks. 12/2443, S. 10, 109), wonach bei juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit das Insolvenzverfahren an die Stelle der gesellschafts- oder organisationsrechtlichen Abwicklung treten sollte, im Gesetzgebungsverfahren gestrichen wurde, um die Vorschrift redaktionell zu straffen und dadurch auf ihre wesentlichen Elemente zurückzuführen. Der Begründung zu der unverändert Gesetz gewordenen Vorschrift des § 199 InsO (BT-Drucks. 12/2443, S. 187 zu § 227 RegE) entnimmt er zwar, dass mit der nach § 199 Satz 2 InsO vom Insolvenzverwalter vorzunehmenden Überschussverteilung eine gesellschaftsrechtliche Liquidation im Anschluss an das Insolvenzverfahren vermieden werden sollte. Gleichwohl leitet er aus der Hervorhebung der Gläubigerbefriedigung in § 1 InsO als „wesentliches Element“ des Insolvenzverfahrens ab, dass die Abwicklung der Gesellschaft jedenfalls dem gesetzlichen Hauptzweck des Insolvenzverfahrens untergeordnet ist und daher hinter der Gläubigerbefriedigung zurückzutreten hat, wenn sie diese verkürzen würde (vgl. BGHZ 228, 28 Rn. 71).
55
Aus dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners auf den Insolvenzverwalter gemäß § 80 Abs. 1 InsO ergibt sich nach Ansicht des Bundesgerichtshofs nicht, wie weit diese Befugnis nach Erfüllung des vorrangigen Zwecks der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung mit dem Abschluss der Schlussverteilung noch reicht (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 73). § 199 Satz 2 InsO lässt sich lediglich entnehmen, dass der Insolvenzverwalter nach der Schlussverteilung einen etwa verbleibenden Überschuss unter den Gesellschaftern zu verteilen hat, bevor das Insolvenzverfahren gemäß § 200 InsO aufgehoben wird. Die Vorschrift besagt aber nichts darüber, wie ein solcher Überschuss zustande kommt. Allein aus der Übertragung der Verteilung eines etwaigen Überschusses auf den Insolvenzverwalter lässt sich nicht schließen, dass diesem die gesamte Liquidation der Gesellschaft obliegen sollte. Auch der Gesetzesbegründung zu § 199 Satz 2 InsO (BT-Drucks. 12/2443, S. 187 zu § 22 RegE) ist hierfür kein Anhaltspunkt zu entnehmen. Gegen eine Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Durchführung der Gesamtliquidation spricht in systematischer Hinsicht die höchstrichterlich anerkannte Befugnis zur Freigabe von Massegegenständen (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 75 m. w. N.).
56
Die Durchsetzung von Ausgleichsansprüchen zum Zwecke des Innenausgleichs durch den Insolvenzverwalter würde zudem zu einer Schmälerung der Verteilungsmasse und damit zu einer Finanzierung des – im Gesellschafterinteresse erfolgenden – Innenausgleichs zu Lasten der Masse und damit der Gläubiger führen, was dem nach der gesetzlichen Zielsetzung vorrangigen Zweck der Gläubigerbefriedigung widerspräche (vgl. BGH, a. a. O., Rn. 76).
57
(3) Die Erwägungen, auf die der Bundesgerichtshof die fehlende Befugnis des Insolvenzverwalters zur Einforderung von Ansprüchen der Schuldnerin gegen ihre Gesellschafter zwecks Durchführung des Innenausgleichs gestützt hat, gelten auch für andere Personengesellschaften (vgl. zur Gesellschaft bürgerlichen Rechts: Sprau in Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 728 Rn. 2 unter Bezugnahme auf BT-Drucks. 12/2443, S. 140, und BGHZ 228, 28). Sie entsprechen im Übrigen dem bereits unter der Geltung der Konkursordnung anerkannten Grundsatz, dass der Insolvenzverwalter nicht mehr an rückständigen Einlagen einziehen darf, als zur Gläubigerbefriedigung erforderlich ist (vgl. RG, Urt. v. 23. April 1912, I 178/11, RGZ 79, 174, 175, zur Aktiengesellschaft; Hirte/Praß in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 35 Rn. 309, 380; Peters in Münchner Kommentar zur Insolvenzordnung, 4. Aufl. 2019, § 35 Rn. 211 zur offenen Handelsgesellschaft; Henckel in Jaeger, InsO, 2004, § 35 Rn. 150 ff.).
58
(4) Eine Übertragung dieser Erwägungen auf die Einforderung rückständiger Pflichteinzahlungen durch den Insolvenzverwalter einer eingetragenen Genossenschaft wird von einem Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung abgelehnt (OLG Brandenburg, Beschluss vom 7. Dezember 2021, 4 U 61/22, juris Rn. 43 f.; OLG Celle, Beschluss vom 6. Oktober 2022, 9 U 70/22; OLG Dresden, Beschluss vom 13. September 2022, 13 U 1140/22; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. November 2022, 1 U 87/22). Der entscheidende Unterschied wird darin gesehen, dass in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall der Insolvenzverwalter einer Publikums-Kommanditgesellschaft einen Kommanditisten aus der Außenhaftung gemäß § 171 Abs. 1, § 172 Abs. 4 HGB in Anspruch genommen habe. Dabei handele es sich um Ansprüche, für die der Kommanditist, der seine Einlage nicht vollständig erbracht habe oder an den die Einlage wieder zurückbezahlt worden sei, den Gläubigern gegenüber persönlich hafte und die der Insolvenzverwalter gemäß § 172 Abs. 2 HGB lediglich als Prozessstandschafter geltend mache. Für diese Ansprüche ergebe sich die Beschränkung der Einziehungsbefugnis des Insolvenzverwalters bereits daraus, dass die persönliche Haftung des Kommanditisten nicht weiter reiche, als dies zur Befriedigung der Gläubiger erforderlich sei. Die Ansprüche auf Zahlung rückständiger Pflichteinzahlungen stünden dagegen nicht den Gläubigern der insolventen Genossenschaft zu, sondern dieser selbst (vgl. OLG Brandenburg, a. a. O. Rn. 44).
59
Diese Argumentation beruht indes auf einem Missverständnis der zitierten höchstrichterlichen Entscheidung. In dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall hatte der Insolvenzverwalter den Beklagten sowohl aus der Außenhaftung nach §§ 171, 172 Abs. 4 HGB als auch – hilfsweise – zwecks Durchführung des Innenausgleichs unter den Gesellschaftern in Anspruch genommen (BGHZ 228, 28 Rn. 2, 24). Bei der Erörterung der Außenhaftung des Beklagten – die das Berufungsgericht mit einer nicht tragfähigen Begründung verneint hatte – hat der Bundesgerichtshof zunächst seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, dass der Insolvenzverwalter einen Kommanditisten nur insoweit aus §§ 171, 172 Abs. 4 HGB in Anspruch nehmen kann, als dies zur Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger, denen der Kommanditist haftet, erforderlich ist (vgl. BGH, a. a. O. Rn. 18 ff.). Im Rahmen der anschließenden Prüfung des Hilfsantrags hat der Bundesgerichtshof die fehlende Befugnis des Insolvenzverwalters zur Einziehung des geltend gemachten Betrags mit dem Ziel der Durchführung des Innenausgleichs unter den Gesellschaftern dagegen ausschließlich aus dem Hauptzweck des Insolvenzverfahrens (§ 101 Abs. 1 Satz 1 InsO) hergeleitet (Rn. 63 ff.). Seine diesbezüglichen Ausführungen wären überflüssig gewesen, wenn der Insolvenzverwalter den gegen den damaligen Beklagten geltend gemachten Betrag nicht hilfsweise auf einen eigenen Sozialanspruch der insolventen Kommanditgesellschaft gestützt hätte (vgl. BGH, a. a. O. Rn. 64, 73).
60
(5) Auch sonst sind keine Gründe ersichtlich, die einer Übertragung der vom Bundesgerichtshof herausgearbeiteten Grundsätze zur beschränkten Einziehungsbefugnis des Insolvenzverwalters auf eine Genossenschaft entgegenstünden.
61
Für das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer eingetragenen Genossenschaft gelten grundsätzlich die Vorschriften der Insolvenzordnung. Die §§ 98 ff. GenG enthalten verschiedene Sonderregelungen; insbesondere haben die Mitglieder, soweit dies nicht kraft Satzung ausgeschlossen ist (§ 6 Nr. 3 GenG), Nachschüsse zur Insolvenzmasse zu leisten (vgl. Schöpflin in Beuthien, Genossenschaftsgesetz, § 98 Rn. 2). Diesen Sonderregelungen lässt sich aber gerade nicht entnehmen, dass der Insolvenzverwalter – abweichend vom allgemeinen Insolvenzrecht – stets zu einer vollständigen Liquidation der durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelösten Genossenschaft (§ 101 GenG) verpflichtet wäre. Eine etwaige Nachschusspflicht der Mitglieder dient vielmehr gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 GenG lediglich dazu, die Ansprüche der Massegläubiger und die bei der Schlussverteilung nach § 196 InsO berücksichtigten Forderungen der Insolvenzgläubiger zu befriedigen, soweit das vorhandene Vermögen der Genossenschaft hierzu nicht ausreicht.
62
Nach § 22 Abs. 4 Satz 1 GenG darf die Genossenschaft ihren Mitgliedern eine geschuldete Einzahlung nicht erlassen. Hieraus folgt aber nicht, dass in der Insolvenz der Genossenschaft rückständige Einzahlungen vom Insolvenzverwalter ohne Rücksicht darauf einzufordern sind, ob diese Beträge zur Befriedigung der Gläubiger benötigt werden. Reicht das bereits vorhandene Vermögen der Genossenschaft hierfür aus, fehlt dem Insolvenzverwalter nach den vom Bundesgerichtshof herausgearbeiteten Grundsätzen die Einziehungsbefugnis, weil dann die Geltendmachung der Ansprüche gegen die Genossenschaftsmitglieder nur dem Innenausgleich dienen kann. Dessen Durchführung obliegt nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 200 Abs. 1 InsO) den gemäß § 83 GenG zu bestellenden Liquidatoren der Genossenschaft (§§ 88, 87 Abs. 1 GenG). Dass in einem solchen Fall im Anschluss an das Insolvenzverfahren noch ein Liquidationsverfahren durchgeführt werden muss, mag dem Grundsatz der Verfahrensökonomie widersprechen, ist aber letztlich die Konsequenz der im Gesetzgebungsverfahren erfolgten Streichung von § 1 Abs. 2 Satz 3 des Regierungsentwurfs zur Insolvenzordnung, wonach das Insolvenzverfahren an die Stelle der gesellschafts- oder organisationsrechtlichen Abwicklung treten sollte.
63
cc) Der weitere Beteiligte hat sein Interesse an der begehrten Einsichtnahme in die Insolvenztabelle auch hinreichend glaubhaft gemacht. Eine Glaubhaftmachung seiner Behauptung, dass das vorhandene Vermögen der Schuldnerin zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger ausreiche, ist im Streitfall bereits deshalb entbehrlich, weil die Antragstellerin insoweit einer ihr obliegenden sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen ist.
64
Dem im Wege der Außenhaftung nach §§ 171, 172 Abs. 4 HGB in Anspruch genommenen Kommanditisten steht gegenüber dem Insolvenzverwalter der Einwand zu, dass das von ihm Geforderte zur Tilgung der Gesellschaftsschulden, für die er haftet, nicht erforderlich ist (BGH, Urt. v. 21. Juli 2020, II ZR 175/19, ZIP 2020, 1869 Rn. 21 m. w. N.). Die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt der in Anspruch genommene Gesellschafter; jedoch hat der Insolvenzverwalter die für die Befriedigung der Gläubiger bedeutsamen Verhältnisse der Gesellschaft darzulegen, sofern nur er dazu imstande ist (BGH, a. a. O.). Entsprechendes muss gelten, wenn der Insolvenzverwalter einer eingetragenen Genossenschaft gegen eines ihrer Mitglieder einen Anspruch auf rückständige Pflichteinzahlungen geltend macht.
65
Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vorbringen des weiteren Beteiligten hat die Antragstellerin vor dem Landgericht Chemnitz zu den für die Gläubigerbefriedigung bedeutsamen Verhältnisse der Gesellschaft nicht vorgetragen. Sie ist insoweit ihrer sekundären Darlegungslast nicht nachgekommen (vgl. hierzu die als Anlage zum Akteneinsichtsgesuch vom 2. August 2022 vorgelegte Klageschrift der Antragstellerin vom 20. Mai 2022). Die Antragstellerin beruft sich lediglich auf den zugunsten des Insolvenzverwalters bestehenden Anscheinsbeweis dafür, dass in einem eröffneten Insolvenzverfahren die Masse nicht ausreicht, um alle Gläubigeransprüche zu befriedigen (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 6. Februar 2020, IX ZR 5/19, NZI 2020, 420 Rn. 4). Zutreffend führt sie in diesem Zusammenhang aus, dass dem weiteren Beteiligten der Nachweis obliegt, dass das Vermögen der Schuldnerin ausreicht, um alle zu berücksichtigenden Forderungen zu erfüllen – wobei im Übrigen auch die Forderungen einzubeziehen sind, denen der Insolvenzverwalter widersprochen hat (vgl. BGH, a. a. O.). Die Führung dieses Nachweises macht die Antragstellerin dem weiteren Beteiligten aber faktisch unmöglich, weil sie weder die Höhe der angemeldeten Forderungen noch den Wert der vorhandenen Insolvenzmasse offenlegt und der weitere Beteiligte sich diese Informationen auch nicht auf anderem Wege beschaffen kann.
66
c) Mit der Gewährung beschränkter Akteneinsicht hat die Rechtspflegerin das ihr von § 299 Abs. 2 ZPO eingeräumte Ermessen im Ergebnis fehlerfrei ausgeübt.
67
aa) Im Verfahren nach den §§ 23 ff. EGGVG prüft das Gericht auch, ob die im Ermessen der Justizbehörde stehende Maßnahme oder deren Ablehnung deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 28 Abs. 3 EGGVG).
68
Abzuwägen ist bei der Entscheidung nach § 4 InsO in Verbindung mit § 299 Abs. 2 ZPO das Interesse der Verfahrensbeteiligten an der Geheimhaltung des Verfahrensstoffs mit dem gegenläufigen, gleichfalls geschützten Informationsinteresse dessen, der ein rechtliches Interesse an der Akteneinsicht glaubhaft gemacht hat.
69
bb) Der angefochtene Bescheid und dessen Begründung genügen zwar für sich genommen diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang, weil daraus insbesondere nicht hervorgeht, welche Bestandteile der Schriftstücke, in die dem weiteren Beteiligten Einsicht gewährt wird, zu schwärzen sind. Mit der zugehörigen Ausführungsverfügung hat die Rechtspflegerin aber die vorzunehmenden Schwärzungen konkretisiert. In dem dadurch definierten Umfang lässt die Bewilligung beschränkter Akteneinsicht keinen Ermessensfehler erkennen.
70
(1) § 299 Abs. 2 ZPO statuiert weder einen allgemeinen Vorrang des Informationsinteresses des Einsicht Begehrenden, der ein rechtliches Interesse für sich in Anspruch nehmen kann, noch umgekehrt einen generellen Vorrang der Verfahrensbeteiligten an der Geheimhaltung ihrer in den Akten gespeicherten Daten und am Schutz ihrer übrigen Belange. Vielmehr bedarf es stets einer auf den Einzelfall bezogenen Abwägung der relevanten Gesichtspunkte.
71
Im Streitfall gehört dazu zunächst das Interesse des weiteren Beteiligten, sich durch Einsichtnahme in die Insolvenztabelle diejenigen Informationen zu verschaffen, die er zu seiner Verteidigung in dem seitens der Antragstellerin gegen ihn vor dem Landgericht Chemnitz geführten Rechtsstreit benötigt.
72
Dieses Interesse ist mit dem Interesse der Beteiligten des Insolvenzverfahrens an der Vertraulichkeit ihrer persönlichen Daten abzuwägen. Aufgrund des in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Persönlichkeitsrechts in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist der Einzelne befugt, grundsätzlich selbst darüber zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte preisgegeben und personenbezogene Daten verwendet werden (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2018, 2 BvR 1562/17, NJW 2018, 2395 Rn. 44; BGH, Urt. v. 5. November 2013, VI ZR 304/12 – Mascha S., NJW 2014, 768 Rn. 11; BayObLG, Beschluss vom 2. September 2021, 101 VA 100/21, NZI 2021, 1078 Rn. 27 m. w. N.). Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Verfahrensbeteiligten ist zu berücksichtigen, wenn Dritten Einsicht in die Verfahrensakten gewährt werden soll (BGH, Beschluss vom 10. April 2007, I ZB 15/06 [BPatG] – MOON, GRUR 2007, 628 Rn. 14). Dabei gehört zu den Besonderheiten eines Insolvenzverfahrens regelmäßig die Vielzahl an Beteiligten, deren Belange durch eine Einsichtnahme Dritter berührt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 25. März 2021, IX AR [VZ] 1/19, NZI 2021, 598 Rn. 22 ff.).
73
Der Umstand, dass der weitere Beteiligte durch die begehrte Einsicht in die Insolvenzakten Informationen über geschützte personen- oder unternehmensbezogene Daten Verfahrensbeteiligter erlangen kann, steht der Bewilligung von Akteneinsicht nicht per se entgegen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verleiht keine unbeschränkte Rechtsposition; vielmehr muss der Einzelne eine Beschränkung seines Rechts auf gesetzlicher Grundlage und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots hinnehmen (vgl. BVerfG, Urt. v. 19. September 2018, 2 BvF 1/15 – Zensus 2011, BVerfGE 150, 1 Rn. 220 m. w. N.). Deshalb kann er es zu dulden haben, wenn personen- oder unternehmensbezogene Daten durch eine Akteneinsicht Dritten zugänglich gemacht werden. Wollte man stets einen Vorrang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gegenüber dem Einsichtsinteresse Dritter annehmen, liefe deren rechtlich geschütztes Interesse an einer Akteneinsicht leer (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2006, IV AR [VZ] 1/06, NZI 2006, 472 Rn. 23).
74
Die gleichen Grundsätze gelten im Hinblick auf die Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 27. April 2021, 2 BvR 206/14, juris Rn. 36), nämlich den Schutz personenbezogener Daten gemäß Art. 8 GRCh, das durch Art. 7 GRCh geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens bzw. den Schutz der unternehmerischen Freiheit und des Eigentumsrechts gemäß Art. 16, 17 GRCh (vgl. zu den Einzelheiten BayObLG, NZI 2021, 1078 Rn. 30).
75
(2) Bei der Ausübung des Ermessens ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Erfordert es die Verfolgung des rechtlichen Interesses nicht, Einsicht in die gesamte Akte zu nehmen, so kommt die Gewährung von Einsicht in Aktenteile oder die Schwärzung sensibler Informationen in Betracht (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2007, X ZR 56/05 (BPatG) – Akteneinsicht XVIII, GRUR 2007, 815 Rn. 3; Bacher in BeckOK ZPO, 48. Ed. Stand: 1. März 2023, § 299 Rn. 33; Pape in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 4 Rn. 33). Nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sind umso höhere Anforderungen an das Gewicht des Einsichtsinteresses zu stellen, je größer das Schutzbedürfnis der Beteiligten ist; umgekehrt gilt das Entsprechende (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 16. Januar 2017, 4 A 1606/16, juris Rn. 71 ff.; Bacher in BeckOK ZPO, § 299 Rn. 32).
76
(3) Die Rechtspflegerin hat die Gewährung der beschränkten Akteneinsicht damit begründet, dass der weitere Beteiligte sich nur durch Einsichtnahme in die Insolvenztabelle die Kenntnis verschaffen könne, ob das (scil.: bereits vorhandene) Vermögen der Schuldnerin ausreiche, um alle Gläubigerforderungen befriedigen zu können; denn auf keinem anderen Weg könne er Kenntnis über die im Insolvenzverfahren angemeldeten Forderungen sowie das Prüfungsergebnis erlangen. Diese Informationen benötige er, um sich im Rechtsstreit vor dem Landgericht Chemnitz gegen die Klage der Antragstellerin verteidigen zu können.
77
Den Geheimhaltungsinteressen der Antragstellerin und der übrigen Beteiligten des Insolvenzverfahrens hat die Rechtspflegerin dadurch Rechnung getragen, dass in dem bereits in Kopie übermittelten Verwalterbericht vom 18. November 2022 lediglich der „Kontostand Gesamt“ (scil.: die aktuell vorhandene Masse), die Anzahl der Gläubiger und die Höhe der von diesen insgesamt angemeldeten Forderungen von der Schwärzung ausgenommen worden sind. In der noch zu übersendenden aktuellen Tabellenstatistik sollen sämtliche Gläubigerbezeichnungen geschwärzt werden.
78
Im Ergebnis zu Recht – ohne dies freilich in den Gründen des Bescheids im Einzelnen auszuführen – hat die Rechtspflegerin damit dem Informationsinteresse des weiteren Beteiligten ein größeres Gewicht beigemessen als dem Interesse der Antragstellerin an der Geheimhaltung der durch die bewilligte beschränkte Akteneinsicht offengelegten Informationen. Der Vorrang des Informationsinteresses des weiteren Beteiligten ergibt sich im Streitfall bereits daraus, dass die Antragstellerin – wie oben unter Buchstabe b cc dargelegt – nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Rechtsstreit mit dem weiteren Beteiligten vor dem Landgericht Chemnitz eine sekundäre Darlegungslast hinsichtlich der für die Befriedigung der Gläubiger bedeutsamen Verhältnisse der Schuldnerin trifft, soweit nur sie über die entsprechenden Informationen verfügt. Diese erstreckt sich auf ebenjene Informationen, die dem weiteren Beteiligten durch die ihm bewilligte beschränkte Akteneinsicht zugänglich gemacht werden, nämlich den Umfang der von der Antragstellerin verwalteten Masse („Kontostand Gesamt“), die Anzahl der Gläubiger und die Höhe der insgesamt zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderungen.
79
Die im Hinblick auf das Grundrecht der Verfahrensbeteiligten auf informationelle Selbstbestimmung besonders sensiblen Angaben zur Identität der Insolvenzgläubiger und die Höhe der von ihnen jeweils zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderungen werden dagegen aufgrund der angeordneten Schwärzungen nicht offengelegt.
III.
80
1. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil die Antragstellerin die gerichtlichen Kosten des Verfahrens bereits nach den gesetzlichen Bestimmungen zu tragen hat (§ 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 19 GNotKG i. V. m. § 22 Abs. 1 GNotKG).
81
2. Die nach § 3 Abs. 2 GNotKG in Verbindung mit Nr. 15301 KV GNotKG erforderliche Geschäftswertfestsetzung beruht auf § 36 Abs. 3 GNotKG.
82
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen, weil der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zukommt noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 29 Abs. 1 Satz 1 EGGVG).
83
a) Grundsätzliche Bedeutung (§ 29 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EGGVG, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2010, 1 BvR 381/10, NJW 2011, 1276 [juris Rn. 12]; BGH, Beschluss vom 4. Juli 2002, V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [juris Rn. 4] unter Verweis auf BT-Drucks. 14/4722, S. 67, 104 m. w. N.; Heßler in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 543 Rn. 11). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann, wenn zu ihr unterschiedliche Auffassungen vertreten werden und die Frage höchstrichterlich noch nicht geklärt ist (BVerfG, a. a. O.).
84
An der letztgenannten Voraussetzung fehlt es im Streitfall. In seinem Urteil vom 15. Dezember 2020 (Az.: II ZR 108/19; BGHZ 228, 28) hat der Bundesgerichtshof die bis dahin streitige Rechtsfrage, ob der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer Personengesellschaft zur Geltendmachung von Sozialansprüchen gegen deren Mitglieder auch dann befugt ist, wenn die eingeforderten Beträge nicht zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger benötigt werden, verneint und damit höchstrichterlich geklärt.
85
b) Aus denselben Gründen ist eine Entscheidung auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Rechtsfortbildung (§ 29 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 EGGVG, § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1, § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 ZPO) geboten.
86
c) Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist schließlich nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 29 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 EGGVG) erforderlich. Dieser Zulassungsgrund erfasst vor allem die Fälle der Divergenz (BGHZ 151, 221 [juris Rn. 8] m. w. N. unter Verweis auf BT-Drucks. 14/4722, S. 67, 104).
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Im Streitfall kann dahinstehen, ob die Oberlandesgerichte Brandenburg, Celle, Dresden und Karlsruhe, welche eine Übertragung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur fehlenden Einziehungsbefugnis des Insolvenzverwalters zwecks Durchführung des Innenausgleichs auf die Einforderung rückständiger Pflichteinzahlungen von Genossenschaftsmitgliedern ablehnen, damit einen tragenden Rechtssatz aufgestellt haben, von dem das Bayerische Oberste Landesgericht mit seiner gegenteiligen Rechtsansicht abweichen würde. Denn deren oben unter Ziffer II 2 Buchst. c bb Nr. (1) genannte Entscheidungen weichen ihrerseits von einem Rechtssatz ab, den der Bundesgerichtshof im Urteil vom 15. Dezember 2020 (BGHZ 228, 28) aufgestellt hat (a. a. O. Rn. 66, 70), weil sie – wie dargelegt – verkannt haben, dass diese höchstrichterliche Entscheidung keineswegs nur die Außenhaftung des Kommanditisten nach § 171 Abs. 1 und 2, § 172 Abs. 4 HGB betrifft, sondern vor allem die Voraussetzungen geklärt hat, unter denen der Insolvenzverwalter über das Vermögen einer Personengesellschaft zur Geltendmachung von Sozialansprüchen der insolventen Gesellschaft gegen ihre Mitglieder befugt ist.