Titel:
rechtmäßige Ausweisung eines "faktischen Inländers"
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1
Daueraufenthalts-RL Art. 12
Leitsätze:
1. Das Schutzgut der körperlichen Integrität nimmt in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und löst staatliche Schutzpflichten aus. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es besteht kein generelles Ausweisungsverbot für „faktische Inländer“. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Türkischer Staatsangehöriger, Jugendstrafe, Unerlässlichkeit, türkischer Staatsangehöriger, faktischer Inländer, Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG, Assoziationsabkommen EWG/Türkei, Straffälligkeit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 22.12.2022 – RN 9 S 22.2565
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8758
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. In Abänderung der Nr. III des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 22. Dezember 2022 wird der Streitwert für beide Rechtszüge auf je 2.500,- EUR festgesetzt.
Gründe
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
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Der am .... 1999 im Bundesgebiet geborene, ab dem 6. September 1999 eine befristete Aufenthaltserlaubnis und ab dem 28. Juli 2015 eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG besitzende, im Jahr 2015 mit dem qualifizierenden Mittelschulabschluss von der Schule abgegangene, nach Ausbildung zum Verkäufer (Ausbildungszeit September 2015 bis Juli 2017) das ursprünglich beabsichtigte weitere Ausbildungsjahr zur Erzielung des Abschlusses als Einzelhandelskaufmann nach Abschluss eines Aufhebungsvertrags mit dem Ausbildungsbetrieb nicht mehr absolvierende, seit dem 13. April 2019 inhaftierte (zunächst Untersuchungs-, dann Strafhaft) Antragsteller, türkischer Staatsangehöriger, verfolgt mit der Beschwerde seinen Antrag auf Wiederherstellung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 25. Oktober 2022 weiter. Mit diesem Bescheid wies der Antragsgegner den Antragsteller aus dem Bundesgebiet aus (Nr. 1 des Bescheids), ordnete den Sofortvollzug der Maßnahme unter Nr. 1 des Bescheids ausnahmsweise an (Nr. 2 des Bescheids), erließ gegen den Antragsteller ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von 6 Jahren ab nachgewiesener Ausreise bzw. vollzogener Abschiebung (Nr. 3 des Bescheids), ordnete die (frühestens eine Woche nach Zustellung der Verfügung erfolgende) Abschiebung des Antragstellers unmittelbar aus der Haft heraus, gegebenenfalls im Rahmen eines Verfahrens gemäß § 456a StPO, insbesondere in die Türkei an (Nr. 4 des Bescheids), drohte – für den Fall der Haftentlassung – die Abschiebung unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise insbesondere in die Türkei an (Nr. 5 des Bescheids) und wies den Antragsteller auf die gesetzliche Pflicht für ihn als ausreisepflichtigen Ausländer hin, die Absicht, seine Wohnung zu wechseln oder den Bezirk der Ausländerbehörde für mehr als drei Tage zu verlassen, vorher der Ausländerbehörde anzuzeigen (Nr. 6 des Bescheids).
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Das Verwaltungsgericht führt zur Begründung der Antragsablehnung insbesondere aus, dass das Gericht den Antrag angesichts der vorgetragenen anwaltlichen Begründung sowie der Antragstellung gemäß § 88 VwGO dahingehend auslege, dass dieser ausschließlich gegen die in Nr. 1 des angegriffenen Bescheids verfügte Ausweisung gerichtet sei. Der Bescheid genüge den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Die Ausweisung des Antragstellers erweise sich nach der gebotenen summarischen Prüfung voraussichtlich als rechtmäßig und verletze den Antragsteller bereits aus diesem Grund nicht in seinen Rechten. Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderlichen Abwägung überwiege daher das Vollzugsinteresse des Antragsgegners das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Das persönliche Verhalten des Antragstellers stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Insbesondere sei unter Berücksichtigung der hohen Rückfallgefahr des Antragstellers und der u.a. vom Amtsgericht R. in seinem Urteil vom 10. September 2019 gesehenen schädlichen Neigungen, seiner Tathandlungen u.a. gegen die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum Dritter sowie des Umstands, dass sich der Antragsteller auch bisherige, teils empfindliche Ahndungen, laufende Verfahren oder laufende Bewährung nicht als Warnung habe dienen lassen, von seinem bisherigen Verhalten Abstand zu nehmen, von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Gegen diese Wiederholungsgefahr spreche auch nicht der Umstand, dass der Antragsteller sich nach den Feststellungen der Justizvollzugsanstalt im Führungsbericht vom 11. August 2022 insgesamt sehr positiv führe und auch therapeutische Maßnahmen ergriffen habe und zum Teil noch immer durchführe. Trotz der als positiv zu wertenden Entwicklung sei gleichwohl zu sehen, dass der Antragsteller nach über drei Jahren beanstandungsfreien Aufenthalts in der Justizvollzugsanstalt disziplinarisch belangt habe werden müssen. Weiterhin sei nicht zu übersehen, dass er sich mit der Justizvollzugsanstalt und den dortigen Angeboten in einer geschützten Umgebung befinde, die den regulären Alltag, auf den er nach einer Entlassung treffen werde, nicht wiederspiegeln könne. Die außerhalb des Strafvollzugs erforderliche Bewährung stehe naturgemäß noch aus. Auch sei nicht außer Acht zu lassen, dass der Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt vom 18. Januar 2021 sich noch deutlich zurückhaltender geäußert habe. Darin sei ausgeführt worden, dass der Antragsteller insgesamt vordergründig zwar einen motivierten und gewillten Eindruck hinterlasse, er aber nach hiesiger Einschätzung auch Anhaltspunkte dafür hinterlasse, – vermutlich maßgeblich durch seinen Rechtsanwalt – darüber informiert worden zu sein, was hiesigerseits von ihm erwartet werde. Dagegen erscheine der Anteil seiner tatsächlichen Eigenmotivation eher gering. Ob das aktuelle Verhalten des Antragstellers daher einem wirklichen Gesinnungswandel und einer Unrechtseinsicht einhergehend mit dem Willen zur dauerhaften Veränderung geschuldet sei, werde sich mithin erst bei entsprechenden Lockerungen zeigen (können). Die Abwägung der Interessen an der Ausreise des Antragstellers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergebe, dass das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiege und die Ausweisung für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich sei. Der Antragsteller sei durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts R vom 10. September 2019 (unter Einbeziehung der Urteile des Amtsgerichts K. vom 12.10.2017 und vom 7.12.2018) zu einer Jugendstrafe von 4 Jahren 6 Monaten verurteilt worden. Damit erfülle er ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG; die Bildung einer Einheitsjugendstrafe oder nachträglichen Jugendstrafenbildung sei dabei unschädlich. Auch sei ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AufenthG gegeben. Ob zudem ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b) und d) AufenthG vorliege könne vorliegend dahinstehen. Weiterhin erfülle der Antragsteller durch seine aufgelisteten Verfehlungen insgesamt ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Dem stehe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse des Antragstellers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da er im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei, im Bundesgebiet geboren worden sei und seit über fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet lebe. Zudem sei er als „faktischer Inländer“ also als ein Ausländer, der seine wesentliche Prägung im Bundesgebiet erfahren habe einzustufen, weshalb weiterhin von einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse analog § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG auszugehen sei. Die unter Einstellung sämtlicher berührter Belange vorzunehmende Abwägung ergebe, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Antragstellers überwiege. Dabei seien die von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange auf Achtung des Privat- und Familienlebens entsprechend ihrem Gewicht und unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Ihnen müsse ein erhebliches Gewicht beigemessen werden. Der Antragsteller sei im Bundesgebiet geboren und halte sich seitdem ununterbrochen hier auf, was als intensive Bindung erheblich ins Gewicht falle. Auch habe er seine wesentlichen persönlichen Bindungen im Bundesgebiet. So lebten sein Vater und seine drei Schwestern sowie zwei weitere Geschwister hier. Da diese jedoch nicht auf einen Beistand des Antragstellers angewiesen seien, könne dies nicht als vertyptes Bleibeinteresse im Sinne des § 55 Abs. 1 oder 2 AufenthG eingestuft werden. Wenngleich zu sehen sei, dass der Antragsteller im Bundesgebiet seinen Schulabschluss erworben, erfolgreich eine Ausbildung zum Verkäufer absolviert habe und in der Folge auch beruflich tätig geworden sei, seien diese Umstände mangels nachhaltiger Integration in den deutschen Arbeitsmarkt eher von geringem Gewicht. Denn während er die weitere Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann einvernehmlich nicht fortgesetzt habe, habe er eine weitere Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker abgebrochen und er eine Tätigkeit bei einer Zeitarbeitsfirma wegen eines Wechsels des Beschäftigungsbetriebes nicht fortgeführt. Zuletzt sei er arbeitslos gewesen, jedoch nicht arbeitssuchend. Seine derzeitige Ausbildung in der Justizvollzugsanstalt solle nach Aktenlage erst im Laufe des Jahres 2023 abgeschlossen werden (Lehrzeitende laut Justizvollzugsanstalt am 15.4.2023). Soweit im amtsgerichtlichen Urteil vom 10. September 2019 auf eine feste Freundin des Antragstellers verwiesen werde, sei hierzu weder antragstellerseits etwas vorgetragen noch lasse sich der Aktenlage hierzu etwas entnehmen. Was die Türkei als Heimatland des Antragstellers betreffe, gehe auch der Antragsgegner davon aus, dass dort keine (wesentlichen) verwandtschaftlichen Beziehungen existierten. Gleichwohl komme es hierauf nicht an, da der Antragsteller angesichts seines Aufwachsens in einer türkischen Familie türkisch nicht nur verstehen, sondern wohl auch zu einem gewissen Teil zu sprechen vermöge. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wäre dem Antragsteller jedenfalls zuzumuten, seine türkischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Da er – wie bereits ausgeführt – in einer türkischen Familie sozialisiert worden sei, sei davon auszugehen, dass ihm die türkischen Lebensverhältnisse nicht fremd seien und ihm eine entsprechende Integration möglich und zumutbar sei. Ungeachtet der Frage, ob sich noch Verwandte in der Türkei befänden, sei es dem Antragsteller aufgrund seines Alters und seiner im Bundesgebiet erlangten Qualifikation möglich, eine Anstellung in der Türkei zu finden und sich dort eine Lebensgrundlage zu schaffen. Die Folgen der Ausweisung des Antragstellers seien für dessen Familienangehörige angesichts der – unstreitig – vorhandenen guten und engen Bindungen durchaus als wesentlich einzustufen. Gleichwohl seien diese – wie bereits ausgeführt – nicht auf einen Beistand des Antragstellers angewiesen und könne der Antragsteller darauf verwiesen werden, den ohnehin bereits seit längerer Zeit vollzugsgeprägten Kontakt zur Familie beispielsweise per Fernkommunikationsmittel sowie durch gelegentliche Besuche im gemeinsamen Heimatland aufrechtzuerhalten. Dies sei zwischen Eltern bzw. Geschwistern und einem erwachsenen Abkömmling durchaus nicht unüblich. Es sei nicht unverhältnismäßig, wenn Eltern und volljährige Kinder bzw. Geschwister getrennt voneinander in verschiedenen Ländern lebten. Die vom Antragsteller begangenen Delikte seien besonders schwerwiegende Straftaten und dürften daher in die Abwägung mit dem entsprechenden Gewicht eingestellt werden. Unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK erweise sich die Ausweisung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ebenfalls als verhältnismäßig. Die dargelegten Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertigten die Aufenthaltsbeendigung auch vor dem Hintergrund von Artikel 2 Buchst. b), Art. 9 Abs. 1 Buchst. b) und Art. 12 RL 2003/109/EG (RL 2003/109/EG des Rates vom 25.11.2003, ABl. Nr. L 132/1 vom 19.5.2011 – Daueraufenthaltsrichtlinie). Ebenso widerspreche die Ausweisung nicht Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 1955 (ENA), da die dort genannten Voraussetzungen vorliegend erfüllt seien. Ebenso wenig stehe der Ausweisung des Antragstellers Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 entgegen. Nach alledem sei die Ausweisung des Antragstellers zur Bekämpfung der von ihm ausgehenden hohen Gefahr der Begehung weiterer schwerer Straftaten nicht nur geeignet und erforderlich, sondern auch im engeren Sinne verhältnismäßig und damit unerlässlich.
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Zur Begründung der Beschwerde lässt der Antragsteller vortragen, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts könne nicht von einer signifikant erhöhten Gefahr für die Begehung zukünftiger Straftaten auf Seiten des Antragstellers ausgegangen werden. Im Rahmen der Prüfung einer etwaigen Wiederholungsgefahr sei die Frage der Unerlässlichkeit der Ausweisung zu berücksichtigen. Allein aus den Verurteilungen lasse sich aber keine ausreichende Sicherheit in Bezug auf eine künftige Wiederholungsgefahr ableiten. Die pessimistische Sichtweise des Verwaltungsgerichts sei nicht gerechtfertigt. Hierzu sei mitzuteilen, dass „das Verwaltungsgericht die im Rahmen des strafgerichtlichen Urteils zutreffenden Strafzumessungsaspekte“ zugunsten des Antragstellers nicht im Rahmen der zu treffenden Entscheidung über eine etwaige Wiederholungsgefahr in angemessener Weise gewichtet habe. Der Antragsteller habe sich vor dem Strafgericht geständig und schuldeinsichtig gezeigt. In der Justizvollzugsanstalt verhalte sich der Antragsteller positiv und nahezu beanstandungsfrei. Er sei an einem Täter-Opfer-Ausgleich interessiert gewesen, welchem die Geschädigte auch zugestimmt habe. Auch nehme er die psychologischen Hilfen in der Justizvollzugsanstalt wahr und habe ein Anti-Aggressions-Training absolviert. Den Logistikkurs (D.) sowie den Computerkurs (D.) habe er ebenfalls abgeschlossen. Daraus ergebe sich, dass der Antragsteller bereit sei, seine Taten zu reflektieren. Die Schuldeinsicht spreche für die Persönlichkeit und den Charakter des Antragstellers. Auf Seiten des jungen Antragstellers müsse von einer charakterlichen Reifung auch schon im Rahmen des Strafvollzugs ausgegangen werden. Auch das Gericht führe in seinen Urteilsgründen auf, dass vom Antragsteller nach längerer Gesamterziehung Legalverhalten gelernt werden könne. Hinzu komme, dass der Antragsteller erstmalig eine derart lange Freiheitsstrafe angetreten habe. Es müsse davon ausgegangen werden, dass die Hafterfahrung Wirkung zeige. Die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, könne seine Reife fördern und die Gefahr eines neuen Straffälligwerdens mindern. Gegenteilige Anhaltspunkte lägen nicht vor. Aufgrund dessen könne nicht von einer fortbestehenden erhöhten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Es werde darauf hingewiesen, dass die Ausweisung unerlässlich sein müsste, jedoch eine signifikant erhöhte Wiederholungsgefahr auf Seiten des Antragstellers nicht vorliege. Aus diesem Grund könne auch eine Unerlässlichkeit der Ausweisung nicht vorliegen. Der Antragsteller wolle nach der Haftentlassung einen Neuanfang machen. Er werde sein früheres soziales Umfeld aufgeben und beabsichtige, nach K. zu seiner Schwester zu ziehen. Durch das Zurücklassen seiner damaligen Lebensumstände werde deutlich, dass der Antragsteller in alte Muster gerade nicht mehr zurückfallen wolle. Selbst wenn man von einer Wiederholungsgefahr ausgehe, wäre die Ausweisung nicht unerlässlich. Der Antragsteller sei faktischer Inländer. Er sei in Deutschland geboren worden, habe über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügt und sei in Deutschland verwurzelt. Seine gesamte türkischstämmige Familie lebe in Deutschland. Zu diesen pflege er engen Kontakt. Auch für die Familie des Antragstellers wäre eine Ausweisung ein äußerst schwerer Eingriff, da die persönliche Bindung zum Antragsteller sehr eng sei. Dies gelte vor allem nach dem Tod der Mutter des Antragstellers, der die Familie schwer getroffen habe. Es liege hier eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor. Der Antragsteller sei aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden und ihm sei wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug habe, nicht zuzumuten. Er sei in Deutschland zur Schule gegangen, habe einen Schulabschluss erworben und eine Ausbildung absolviert. Nach seiner Haftentlassung sei ihm bereits ein Arbeitsplatzangebot unterbreitet worden, welches er nach der Entlassung annehmen wolle. Sowohl seine berufliche als auch seine private Zukunft sehe der Antragsteller in Deutschland. Er sei in einer festen Beziehung mit seiner Freundin, die ebenfalls gerade eine Ausbildung absolviere. Deutschland sei seine Heimat. Er verfüge in der Türkei weder über familiäre Bindungen, auf welche er zurückgreifen könne, noch über ein soziales Netz. Die türkische Sprache beherrsche er kaum. Sein Bleibeinteresse als faktischer Inländer wiege deshalb in der Gesamtabwägung besonders schwer und überwiege im Ergebnis das Ausweisungsinteresse. Der Schutz des Art. 8 EMRK verbiete die Abschiebung des Antragstellers.
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Die in der Beschwerdebegründung angeführten Gründe, auf deren Prüfung sich das Beschwerdegericht grundsätzlich zu beschränken hat (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen keine Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
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Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann. Die im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird wohl nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Antrags auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Kann – wegen der besonderen Dringlichkeit oder der Komplexität der Rechtsfragen – keine Abschätzung über die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache im Sinne einer Evidenzkontrolle getroffen werden, sind allein die einander gegenüberstehenden Interessen zu gewichten (BVerwG, B.v. 22.3.2010 – 7 VR 1/10, 7 VR 1/10 (7 C 21/09) – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 12.7.2010 – 14 CS 10.327 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 22.02.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 18; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8 m.w.N.).
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Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Nach Abs. 2 sind bei dieser Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.
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Da der Antragsteller (zwischen den Beteiligten unstreitig) als insoweit privilegierter Ausländer gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG anzusehen ist, darf er nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine gegenwärtig schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Die Neufassung von § 53 Abs. 3 AufenthG gibt damit den aus Art. 12 der Daueraufenthaltsrichtlinie 2003/109/EG abgeleiteten Maßstab wieder, den der EuGH auch auf Ausländer erstreckt hat, denen nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht (EuGH, B.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/80 – juris Rn. 80, BayVGH, U.v. 5.3.2013 – 10 B 12.2219 – juris Rn. 32). Die einem türkischen Staatsangehörigen unmittelbar aus dem Beschluss Nr. 1/80 zustehenden Rechte können ihm nur dann im Wege einer Ausweisung abgesprochen werden, wenn diese dadurch gerechtfertigt ist, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet (EuGH, U.v. 4.10.2007 – Polat, C-349/06 – juris Rn. 35). Eine „gegenwärtige Gefahr“ im Sinne des deutschen Polizeirechts, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und fast mit Gewissheit zu erwarten ist (BVerwG, U.v. 26.2.1974 – I C 31.72 – juris Rn. 32), muss insoweit nicht vorliegen (BVerwG, U.v. 27.10.1978 – I C 91.76 – juris Rn. 13 zur Ausweisung von Angehörigen der EG-Staaten). Es ist aber eine nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beurteilende und deswegen nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzierende, hinreichende Wahrscheinlichkeit zu verlangen, dass der Ausländer künftig die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stören wird (BVerwG, U.v. 27.10.1978 – I C 91.76 – juris Rn. 13 zur Ausweisung von Angehörigen der EG-Staaten)
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1. Die verwaltungsgerichtliche Auffassung, das persönliche Verhalten des Antragstellers stelle gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, ist auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen nicht zu beanstanden.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Da jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß zugrunde liegt, sind – entgegen der Auffassung des Antragstellers – an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10/12 – juris Rn. 16; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris Rn. 16; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; U.v. 6.9.1974 – 1 C 17.73 – juris Rn. 23; U.v. 17.3.1981 – 1 C 74.76 – juris Rn. 29; U.v. 3.7.2002 – 6 CN 8.01 – juris Rn. 41).
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Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ist nach dem persönlichen Verhalten des Antragstellers weiter von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
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Der Antragsteller ist im Bundesgebiet wiederholt und mit einer beachtlichen Rückfallgeschwindigkeit strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zwar wurde von der strafrechtlichen Verfolgung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (begangen im Alter von 15 Jahren) am 30. März 2016 noch nach § 45 Abs. 2 JGG abgesehen. Bereits mit amtsgerichtlichen Urteil vom 30. Januar 2017 wurde der Antragsteller aber wegen einer am 5. September 2016 begangener vorsätzlicher Körperverletzung zu 2 Freizeiten Jugendarrest verurteilt.
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Mit weiterem amtsgerichtlichen Urteil vom 20. September 2017 wurde der Antragsteller wegen einer am 9. Februar 2016 begangenen gefährlichen Körperverletzung zu einer Woche Jugendarrest verurteilt und ihm die Ableistung von 80 Stunden gemeinnütziger Arbeit auferlegt. Der Antragsteller war in einer sehr großen Gruppe und mit großer Brutalität gegen eine einzelne Person vorgegangen (eine vorgehende Provokation der Gruppe durch den Geschädigten konnte nicht ausgeschlossen werden). Es wurden Körperverletzungshandlungen mittels Faustschlag ins Gesicht und auch Fußtritten, als der Geschädigte bereits am Boden lag, ausgeführt, die sich alle Täter jedenfalls zurechnen lassen mussten. Zu Lasten des Antragstellers wurde berücksichtigt, dass er dem Opfer selbst mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat.
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Schon am 12. Oktober 2017 folgte eine Verurteilung des Antragstellers zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten auf Bewährung wegen eines am 4. Mai 2017 begangenen Diebstahls (Bewährungszeit bis 19.10.2020; einbezogen wurde eine nicht zentralregisterpflichtige Entscheidung). Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der Antragsteller zusammen mit einem Mittäter zu einem nicht genauer bekannten Zeitpunkt am 4. Mai 2017 zwischen 2:00 Uhr und 3:00 Uhr mit Hilfe eines mitgebrachten Winkelschleifers das Metallgestell eines Zigarettenautomaten abflexte, den Zigarettenautomaten abtransportierte, ihn gegen 17:00 Uhr desselben Tages aufbrach und das in dem Automaten befindliche Bargeld in Höhe von ca. 990 Euro und 106 Zigarettenschachteln in einem Gesamtwert von 1.687,50 Euro an sich nahm (Fremdsachschaden an Zigarettenautomaten und Gestell in Höhe von 3.500,00 Euro).
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Am 7. Dezember 2018 schloss sich die amtsgerichtliche Verurteilung wegen Sachbeschädigung in 4 Fällen (begangen am 8. und 9.6.2017) jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz einer Schusswaffe in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Besitz von sieben verbotenen Waffen in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubten Besitz von Munition zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren auf Bewährung an (unter Einbeziehung der Vorverurteilung vom 12.10.2017; Bewährungszeit 3 Jahre; einbezogen wurde eine nicht zentralregisterpflichtige Entscheidung). Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der Antragsteller mit einer Soft-Air-Waffe auf das Fenster und die Schiebtüre eines Geschäfts, auf die Glasscheibe eines Bushäuschens, auf die Fensterscheibe einer Tankstelle und die Eingangstüre einer Apotheke schoss sowie dass er zuhause ein Springmesser mit einer seitlich austretenden Klinge mit einer Klingenlänge von 8,7 cm und sechs Butterflymesser sowie sieben Stück Kartuschenmunition des Kaliber 12/70 Knall aufbewahrte.
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Am 10. September 2019 erfolgte die den Anlass für die Ausweisung bildende amtsgerichtliche Verurteilung wegen räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchtem Diebstahl zu einer Einheitsjugendstrafe von 4 Jahren 6 Monaten (unter Einbeziehung der Entscheidungen vom 12.10.2017 und 7.12.2018; einbezogen wurde eine nicht zentralregisterpflichtige Entscheidung). Dieser Verurteilung liegt zugrunde, dass der Antragsteller zusammen mit einem Mittäter beabsichtigte, der stellvertretenden Filialleiterin des E.-Marktes, in dem der Antragsteller bis 2017 eine Ausbildung absolviert hatte und daher wusste, wann und wo die Geschädigte nach der Arbeit abgepasst werden konnte, den Schlüsselbund des Supermarktes mit Generalschlüssel und zwei Tresorschlüsseln gewaltsam abzunehmen, um sich hinterher Zutritt zum Markt verschaffen und dort Wertgegenstände entwenden zu können. Hinsichtlich der Wegnahme des Schlüsselbundes kamen die Täter überein, dass der Antragsteller die Geschädigte im Bereich der Tiefgarage ihres Wohnanwesens überfallen und ihr unter Einsatz körperlicher Gewalt den Schlüsselbund abnehmen sollte, während dem Mittäter des Antragstellers die Aufgabe des Fahrers zukam. In Ausführung des gemeinsamen Tatentschlusses fuhr der Mittäter den Antragsteller am 13. April 2019 um kurz vor 20:45 Uhr zum Wohnanwesen der Geschädigten. Dort verbarg sich der Antragsteller im Bereich der Einfahrt zur Tiefgarage, während der Mittäter etwa drei Häuser weiter parkte, um den Antragsteller nach der Wegnahme des Schlüsselbundes wieder aufnehmen zu können. Gegen 20:42 Uhr passte der Antragsteller aufgrund des gemeinsamen Tatplanes die Geschädigte im Eingangsbereich der Tiefgarage ab, als diese gerade in die Tiefgarage einfahren wollte. Hierzu öffnete die Geschädigte das Fenster der Fahrerseite ihres Autos, um ihren Schlüssel in das dortige Schloss einzustecken und so das Garagentor zu öffnen. Nun trat der Antragsteller an die Fahrertür der Geschädigten und sprühte dieser, nicht ausschließbar ohne Wissen und Einverständnis des Mittäters, unvermittelt mindestens zweimal mit einem Pfefferspray, das in seiner konkreten Verwendung im Einzelfall geeignet war, nicht nur unerhebliche Verletzungen hervorzurufen, ins Gesicht. Außerdem versetzte er der Geschädigten einen kräftigen Faustschlag ins Gesicht. Im Anschluss daran öffnete er die Fahrertür und versuchte, an die auf dem Beifahrersitz liegende Handtasche der Geschädigten zu gelangen, wobei er der Geschädigten noch zwei weitere Male ins Gesicht schlug. Die Geschädigte rutschte dabei auf den Beifahrersitz und trat dem Antragsteller mehrmals zur Abwehr mit dem Fuß gegen dessen Oberkörper. Dem Antragsteller kam es hierbei – nicht ausschließbar ohne Wissen und Einverständnis des Mittäters – darauf an, dass die Geschädigte aufgrund der beengten Situation im Pkw und der engen Einfahrt der Tiefgarage in ihrer Abwehr- und Verteidigungsmöglichkeit eingeschränkt werde. Da die Geschädigte aufgrund der Angriffe des Antragstellers den Fuß von der Bremse nehmen musste, rollte ihr Pkw die Garagenabfahrt hinunter und prallte gegen das halb geöffnete Garagentor, wodurch sowohl das Fahrzeug als auch das Tor erheblich beschädigt wurden. Dem Antragsteller gelang es – nun wieder entsprechend dem gemeinsamen Tatplan – die Handtasche der Geschädigten zu fassen und unberechtigt an sich zu nehmen. In der Handtasche befanden sich die Geldbörse der Geschädigten mit 70 EUR Bargeld sowie zwei Tresorschlüssel und der Generalschlüssel für alle Zugangstüren zum E.-Markt. Anschließend flüchtete der Antragsteller mit der Handtasche. Letztendlich wurde er im Rahmen einer Sofortfahndung von einer eingesetzten Streifenbesatzung gegen 21:00 Uhr aufgegriffen und festgenommen. Zeitgleich hatte sich der Mittäter von seinem Parkplatz entfernt, da sich mehrere Personen der Tiefgarageneinfahrt näherten und dieser davon ausging, dass etwas schiefgelaufen sei. Im weiteren Verlauf fuhr der Mittäter mit einem Zeugen, den er zuvor verständigt, nicht jedoch über die Tat informiert hatte, mit dem Pkw des Zeugen zum Festnahmeort des Antragstellers. Dort konnte der Antragsteller durch eine von den Polizeibeamten unbemerkte Kopfbewegung den Mittäter, der langsam vorbeifuhr, darauf aufmerksam machen, wo er die Handtasche mit dem darin befindlichen Tresor- und Generalschlüssel für den E.-Markt hatte fallen lassen. Der Mittäter verließ zunächst den Festnahmeort, kehrte jedoch ca. 5 Minuten später wieder zurück und nahm die erbeutete Handtasche an sich. In weiterer Ausführung des gemeinsamen Tatentschlusses begab sich der Mittäter am gleichen Tag gegen 21:17 Uhr zum E.-Markt und betrat den Markt unter Verwendung des Schlüssels der Geschädigten über den Lieferanteneingang, um im Markt nach stehlenswerten Gegenständen zu suchen. Entgegen der Vorstellung der beiden Täter löste jedoch ein lauter Alarm aus, so dass der Mittäter die weitere Ausführung der Tat aus Angst vor Entdeckung abbrach und flüchtete. Durch die Attacke des Antragstellers erlitt die Geschädigte, wie von beiden Tätern vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, ein blaues Auge, eine Nasenprellung, blaue Flecken am Rücken und an den Beinen sowie einen Schock und musste ins Krankenhaus verbracht werden. Zudem erlitt die Geschädigte, wie vom Antragsteller zumindest vorhergesehen und billigend in Kauf genommen, durch den Einsatz des Pfeffersprays eine schmerzhafte Augenreizung. Die Geschädigte musste vier Wochen lang krankgeschrieben werden und konnte danach zwei Monate lang nur in der Mittelschicht arbeiten, da sie infolge des Überfalls große Angst vor der Dunkelheit entwickelt hatte. Nach wie vor hat die Geschädigte Angst davor, nachts alleine nach draußen zu gehen. Zudem war die Geschädigte aufgrund des Überfalls über einen längeren Zeitraum psychisch nicht in der Lage, Auto zu fahren. Noch immer ist es ihr aus psychischen Gründen nicht möglich, mit offenem Fenster zu fahren. Nach dem Überfall hatte die Geschädigte längere Zeit Probleme mit den Augen, ihre Sehstörungen hielten etwa 4-5 Wochen an. Am Pkw der Geschädigten entstand durch den Überfall ein Sachschaden in Höhe von 4.500 EUR, der von ihrer Versicherung nicht erstattet wurde. Am Tor zur Tiefgarage war ein Schaden von ca. 6.500 EUR zu beklagen. Durch den notwendigen Austausch der Schließanlage und des Tresorschlosses des E.-Marktes sowie die Inanspruchnahme eines Sicherheitsdienstes bis zum Einbau der neuen Schließanlage entstand ein Gesamtschaden in Höhe von ca. 9.000 EUR. Für den Verdienstausfall der längere Zeit krankgeschriebenen Geschädigten entstanden Aufwendungen in Höhe von 3.355 EUR zuzüglich Lohnnebenkosten.
18
Im Rahmen der Strafzumessung führt das Amtsgericht insbesondere aus, zum Zeitpunkt der Tat sei der Antragsteller 19 Jahre alt gewesen und damit Heranwachsender i.S.d. § 1 Abs. 2 JGG. Wegen nicht ausschließbarer Reifeverzögerungen sei dennoch das Jugendstrafrecht anwendbar gewesen. Aufgrund des schwerwiegenden Tatvorwurfs – sowohl der räuberische Angriff auf Kraftfahrer als auch der besonders schwere Raub seien nach den Regeln des StGB mit Freiheitsstrafen von 5 bis 15 Jahren bedroht – sowie der brutalen Tatausführung sei beim Antragsteller von einer Schwere der Schuld auszugehen gewesen, die die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 17 Abs. 2 JGG unerlässlich gemacht habe. Darüber hinaus sei aufgrund der großen Anzahl an Straftaten, die der Antragsteller seit 2016 begangen habe und die von stetig ansteigender, zuletzt sehr hoher krimineller Energie geprägt gewesen seien, davon auszugehen, dass bei ihm auch schädliche Neigungen gegeben seien. Bei der Bemessung der Jugendstrafe sei zu Gunsten des Antragstellers zu werten, dass er geständig gewesen sei, obwohl ihm dies nicht leicht gefallen sei, und hierdurch der Geschädigten eine Aussage über den Tathergang erspart habe. Zudem habe sich der Antragsteller im Rahmen der Hauptverhandlung persönlich bei der Geschädigten entschuldigt. In erheblichem Maße strafmildernd sei auch zu berücksichtigen gewesen, dass der Antragsteller wegen der Tat 5 Monate in Untersuchungshaft habe verbringen müssen. Gegen den Antragsteller habe die brutale Vorgehensweise bei der Wegnahme der Handtasche gesprochen, die von erheblicher, völlig unnötiger Gewalt gegen die Geschädigte gekennzeichnet gewesen sei und der Geschädigten wegen des Überraschungsmoments, der räumlichen Enge, der körperlichen Überlegenheit des Antragstellers und der Sichtbehinderung durch den Einsatz des Pfeffersprays keine Chance auf effektive Gegenwehr gelassen habe. Die nicht unerheblichen Verletzungen der Geschädigten hätten sich ebenso strafschärfend ausgewirkt wie die massiven psychischen Beeinträchtigungen, die teils bis heute fortwirkten. Zu Lasten des Antragstellers seien auch die hohen Sachschäden zu werten, die am Auto der Geschädigten und am Tiefgaragentor entstanden seien, sowie die umfangreichen Aufwendungen, die zur Sicherung des E.-Marktes und wegen des mehrwöchigen Ausfalls der Geschädigten hätten gemacht werden müssen. Darüber hinaus habe sich für den Antragsteller negativ ausgewirkt, dass er bereits mehrfach, vor allem wegen Gewalt- und Vermögensdelikten vorgeahndet und nur 4 Monate nach der Verurteilung zu einer 2-jährigen Bewährungsstrafe erneut straffällig geworden sei.
19
Die Entwicklung des seit dem 13. April 2019 (dem Tattag) inhaftierten Antragstellers in der Zeit nach der amtsgerichtlichen Verurteilung vom 10. September 2019 lässt nicht darauf schließen, dass die durch diese Delinquenz indizierte Gefährlichkeit des Antragstellers abgenommen hat oder gar beseitigt ist.
20
Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, unter Berücksichtigung der hohen Rückfallgefahr des Antragstellers und der u.a. im amtsgerichtlichen Urteil vom 10. September 2019 gesehenen schädlichen Neigungen, seiner Tathandlungen u.a. gegen die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum Dritter sowie des Umstands, dass sich der Antragsteller auch bisherige, teils empfindliche Ahndungen, laufende Verfahren oder laufende Bewährung nicht als Warnung hat dienen lassen, von seinem bisherigen Verhalten Abstand zu nehmen, sei von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen, ist nicht zu beanstanden.
21
Der Senat teilt die verwaltungsgerichtliche Auffassung auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklungen.
22
Das Verhalten des Antragstellers in der Haft, das zwar prognostisch heranzuziehen, aber für die Frage eines späteren straffreien Lebens in Freiheit nur bedingt aussagekräftig ist, da es im geschützten und kontrollierten Rahmen des Strafvollzugs, der die Möglichkeiten zur Begehung von Straftaten wesentlich verringert, und unter dem Druck der gegenständlichen Ausweisung stattfindet, war zwar weitestgehend, aber keinesfalls in Gänze tadellos. Zwar nahm der Antragsteller während seines Haftaufenthaltes vom 27. Mai 2019 bis 12. Juli 2019 am D.-Lehrgang „Computerpass“, vom 19. August 2019 bis 27. September 2019 am Lehrgang „Logistikfachkraft“, vom 4. November 2020 bis 26. April 2021 an einem Anti-Aggressions-Training, vom 13. Januar 2022 bis 27. Februar 2022 am Sozialen Kompetenztraining, im März/April 2022 am ReStart-Projekt und regelmäßig an Freizeitgruppen des Fachdienstes teil. Außerdem lässt er sich seit dem 16. Oktober 2019 zum Kfz-Mechatroniker ausbilden (Lehrzeitende vermutlich 15.4.2023) und absolviert seit 30. April 2021 wöchentlich tataufarbeitende Einzelgespräche bei einer externen Psychologin. Es wurde aber am 7. Dezember 2020 ein Pflichtverstoß wegen Verschlafens des Ausrückens ausgesprochen. Außerdem wurde er am 5. Mai 2022 wegen Störung des geordneten Zusammenlebens und der unerlaubten Annahme von Gegenständen (unerlaubte Annahme bzw. Weitergabe von Gegenständen von mehr als 5 Euro) disziplinarisch belangt.
23
Die Auffassung des Senats, auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ist nach dem persönlichen Verhalten des Antragstellers weiter von einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wird durch das nach der erstinstanzlichen Entscheidung auf Ersuchen der Justizvollzugsanstalt erstellten und im hiesigen Verfahren vorgelegten Therapieevaluations-/Prognosegutachten der Diplom-Psychologin Dr. rer. nat. W.R. vom 24. Januar 2023 bestätigt (nachfolgend: Gutachten). Darin wird zwar ausgeführt, dass hinsichtlich Art, Häufigkeit und Schweregrad der zu erwartenden Straftaten in Bezug auf die Delikte Fahren ohne Fahrerlaubnis, Diebstahl, Sachbeschädigung und Waffenbesitz mit einem regressiven Verlauf gerechnet werde (es handle sich hier um jugendtypische Delinquenz, die der Antragsteller durch die erfolgte Nachreifung überwunden haben müsste), dass aber die Wahrscheinlichkeit der Begehung gravierender Gewaltstraftaten „im allenfalls mittleren Bereich (Langzeitprognose)“ liege.
24
Aus dem Gutachten werden insoweit aber hinreichende Anhaltspunkte offenbar, die den Senat weiterhin von einer erheblichen Wiederholungsgefahr beim Antragsteller im Rahmen des Ausweisungsverfahrens ausgehen lassen.
25
Im Gutachten wird zwar ausgeführt, dass durch die Nachreifung des Antragstellers zwischenzeitlich auch von einer Zunahme der Reflexionsfähigkeit auszugehen sei (Gutachten, S. 48). Außerdem sei in Bezug auf den angemessenen Umgang mit Frustration und Konfliktsituationen deutlich geworden, dass der Antragsteller viel dazugelernt habe und nun über ein breiteres Spektrum von Verhaltensoptionen verfüge, wenn er in Bedrängnis gerate. Auch vom mangelhaften Umgang mit finanziellen Ressourcen distanziere sich der Antragsteller glaubwürdig, die Überzeugung, bei Fehlverhalten nicht bestraft zu werden, scheine überwunden und auch das Sammeln von Messern erscheine dem nachgereiften Antragsteller aus der Distanz als überholt und habe seinen Reiz verloren (Gutachten, S. 49 f.).
26
Die Gutachterin weist aber insoweit ausdrücklich darauf hin, dass die Prognose schwierig sei, da eine Auseinandersetzung mit der eigenen Dissozialität beim Antragsteller (zum Zeitpunkt der Begutachtung und nunmehr auch zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung) noch nicht im erforderlichen Ausmaß stattgefunden habe und in der verbleibenden Haftzeit dringend nachgeholt werden müsse (Gutachten, S. 58). Der Antragsteller übernehme zwar in Bezug auf die Straftaten voll die Verantwortung und distanziere sich von seinem, mittlerweile als Fehleinschätzung erkannten Tatmotiv, der finanziellen „Notlage“. Er sehe auch die weiteren Bedingungen seiner Delinquenz in seiner Person begründet (kein Bewusstsein für Konsequenzen gehabt; Schwierigkeiten, jemandem seine Probleme mitzuteilen; angestauter Ärger) und externalisiere somit nicht seine Schuld. Er sei jedoch (noch) nicht in der Lage, seine eigene Dissozialität als hauptsächlich verursachendes Element zu erkennen (Gutachten, S. 37). Den meisten Straftaten des Antragstellers seien eben keine Kränkungen, Beleidigungen, Provokationen vorausgegangen, sondern dissoziale Motive hätten eine Rolle gespielt: Die Suche nach einem „Kick“ (Diebstahl Zigarettenautomat), Spaß an der Zerstörung (Sachbeschädigungen), der Wunsch, ohne Aufwand an viel Geld zu gelangen (räuberischer Angriff), nicht nur um Schulden zu tilgen, sondern auch weiterhin über den eigenen Verhältnissen leben zu können (Gutachten, S: 45). Zwar seien laut den Ausführungen im Gutachten bei der Schilderung der verfahrensgegenständlichen Straftat während der Untersuchung Scham und Reue spürbar gewesen. Die Motivlage sei bei der Tatbegehung selbst aber sehr dissozial eingefärbt gewesen: Mit wenig Aufwand an viel Geld herankommen wollen, die Situation des Opfers habe keine Rolle gespielt, die Sorge vor der eigenen Entdeckung sehr wohl. Hier habe der Antragsteller durchaus die potentiellen Konsequenzen seines Tuns vorweggenommen, und die vorherige Planung und das Stillschweigen während der Tatausführung, um nicht erkannt zu werden, sprächen für eine hohe kriminelle Energie und Selbstkontrolle. Die Folgeschäden des Opfers seien zwar überwiegend benannt worden („Ich habe es im Urteil nachgelesen“), eine innere Betroffenheit sei jedoch nicht spürbar gewesen (Gutachten, S. 37). Somit sei eine von Emotionalität getragene Perspektivenübernahme nicht beobachtbar gewesen. Die Introspektionsfähigkeit des Antragstellers sei eingeschränkt. Dies sei auch an den Einlassungen des Antragstellers zu seinen individuellen Risikosituationen erkennbar. Die genannten Risikosituationen fokussierten sich auf erfahrene Kränkungen, Provokationen, Beleidigungen. Diese Auslöser seien im Falle des Antragstellers aber lediglich untergeordnete Risikosituationen. So zeige auch sein Vollzugsverhalten, dass er sich beanstandungsfrei und kontrolliert verhalten könne. Die dissozial getriggerten Auslöser, wie ein hohes Sensation Seeking Motiv, der Wunsch, schnell und ohne viel Aufwand an Geld zu gelangen, statt es sich zu erarbeiten, die frühere Gedankenlosigkeit bzgl. möglicher Konsequenzen, und das Leben über den eigenen Verhältnissen dürften sehr viel handlungsweisender für den Antragsteller gewesen sein. Entsprechend zielten auch die Einlassungen zum Umgang mit Risikosituationen am Wesentlichen vorbei: nämlich der Auseinandersetzung mit der vorliegenden dissozialen Verhaltensbereitschaft (Gutachten, S. 37 f.).
27
Der Antragsteller nimmt zwar während seines Haftaufenthalts das für ihn zusammengestellte Therapieprogramm vollumfänglich wahr (Gutachten, S. 57). Insoweit bestätigt ihm die Gutachterin einen therapeutischen Fortschritt, verneint aber einen nennenswerten therapeutischen Erfolg (Gutachten, S. 57). Positiv sei zwar, dass der Antragsteller einige Therapieinhalte erstaunlich präzise wiedergeben könne (Gutachten, S. 39, 50). Bisweilen sei aber der Eindruck entstanden, dass der Antragsteller Inhalte aus der Einzeltherapie wie „auswendig gelernt“ wiedergegeben habe, ohne Internalisierungscharakter. Immer wieder habe der Antragsteller versucht, sich an seinem mitgebrachten Therapieordner „festzuhalten“. Er habe Schwierigkeiten gehabt, sich frei zu den Therapieinhalten zu äußern (Gutachten S. 36 f., 50). Zu konstatieren sei nach Auffassung der Gutachterin zudem ein Mangel an Einsicht in das Problemverhalten. Damit sei gemeint, dass die eigene Dissozialität als Auslöser für die Delinquenz bis jetzt nicht erkannt worden sei (Gutachten, S. 57). Bei Fragen zu den eigenen Risikofaktoren oder rückfallpräventiver Art sei der Antragsteller deutlich überfordert. Untergeordnete Risikofaktoren würden benannt (überwiegend Kränkungen), die wesentlichen Risikofaktoren, ausgehend von dissozialen Verhaltens- und Denkmustern, fänden jedoch keine Erwähnung. Hohe Antwortlatenzen und der Wunsch des Antragstellers, ständig den mitgebrachten Therapieordner aufzuschlagen, hätten diesen Eindruck untermauert (Gutachten, S. 48) Somit sei auch nur von einem begrenzten Behandlungserfolg auszugehen, welcher sich vor allem in Defiziten hinsichtlich des Erkennens und des Umgangs mit Risikosituationen niederschlage (Gutachten, S. 57).
28
Daher sieht die Gutachterin einen weiteren Behandlungsbedarf beim Antragsteller („es [gibt] therapeutisch noch viel zu tun“, vgl. Gutachten, S. 55). Als Behandlungsschwerpunkte nennt die Gutachterin: Erkennen von/Umgang mit Risikosituationen, Auseinandersetzung mit der eigenen Dissozialität, aber auch den (leicht ausgeprägten) abhängigen Persönlichkeitszügen, Auseinandersetzung mit dem Thema „Gefühle“ und Fokussierung auf die eigenen Vorteile in Hinblick auf die angestrebte Straffreiheit nach Haftentlassung. In Bezug auf das Thema „Opferempathie“ sollte man die Erwartungen im realistischen Rahmen belassen (Gutachten, S. 51). Neben den genannten Defiziten sei bei der weiteren Behandlung des Antragstellers noch sein ausgesprochen stark ausgeprägtes kriminelles Potential zu berücksichtigen, welches sich vor allem in der letzten Straftat zeige (Gutachten, S. 50). Die Tathandlungen sprächen für ein kalkuliertes kriminelles Verhalten mit hoher Selbstkontrolle. Auch ein Empathiedefizit sei erkennbar geworden, als der Antragsteller die Folgeschäden des Opfers ohne eine spürbare innere Betroffenheit wiedergeben habe (Gutachten, S. 51).
29
Insgesamt habe die Gutachterin Zweifel an der Authentizität des Antragstellers. Diese würden letztlich auch über die psychologischen Testergebnisse bestätigt (Gutachten, S. 50). Während der Begutachtung habe sich der Antragsteller zwar auskunftsbereit gezeigt. Es seien aber Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit nicht nur beobachtbar, sondern auch testpsychologisch objektivierbar gewesen (Zusammenfassung des Gutachtens). Er habe versucht, einen guten Eindruck zu hinterlassen, was erfahrungsgemäß hohe Antwortlatenzen, zögerliche und einsilbige Einlassungen mit sich bringe (Gutachten, S. 49). Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit seien bereits bei der vorherigen Begutachtung offensichtlich geworden (Gutachten, S. 36). Die besonders auffällige, hohe Antwortlatenz habe der Antragsteller selbst nicht nachvollziehbar erläutern können. Insgesamt habe der Antragsteller einen sehr ruhigen, nachdenklichen, aber nicht immer authentischen Eindruck hinterlassen (Gutachten, S. 36). Die ausgeprägte Antwortlatenz, die hohe Introversion, und der Versuch, in der Exploration ein gutes Bild abzugeben, ließen den Gesprächsverlauf zeitweise sehr zäh werden. So ergaben sich auch einige Widersprüche bzw. Unklarheiten im Vergleich zur Aktenlage, z. B. die Familie betreffend (Gutachten S. 36 f.).
30
Auch sei nach Auffassung der Gutachterin eine authentische Therapiemotivation beim Antragsteller nicht erkennbar, da der Antragsteller eine Einzelpsychotherapie nach Haftentlassung für sich nicht als notwendig ansehe. Im Verhalten des Antragstellers werde vielmehr eine sehr gute Anpassungsleistung sichtbar: gutes und verträgliches Vollzugsverhalten, Wahl zum Wohngruppensprecher, Teilnahme an sämtlichen Gruppenangeboten und der Einzelpsychotherapie (Gutachten, S. 38). Der Antragsteller zeige insgesamt gesehen ein sehr angepasstes Vollzugsverhalten (Gutachten, S. 53). Auch wenn die Gutachterin dieses Verhalten als grundsätzlich positiv bewertet, da der Antragsteller damit unter Beweis stelle, sich unter den engen Bedingungen des Strafvollzugs beanstandungsfrei verhalten zu können (Gutachten, S. 53), ist damit doch ein – insbesondere aufgrund der nicht erkennbaren authentischen Therapiemotivation – enormes Gefährdungspotential verbunden, zumal die zuständige Anstaltspsychologin gegenüber der Gutachterin in einem Gespräch am 21. Dezember 2022 erklärte, der Antragsteller habe große Sorgen, abgeschoben zu werden, und ihn beschäftige das sehr. In diesem Zusammenhang muss auch die Feststellung der Gutachterin im Rahmen ihrer Ausführungen zum Risiko eines Lockerungsmissbrauchs berücksichtigt werden, wonach sie dem Antragsteller zutraue, dass er sich wegen seines ausgeprägten Anpassungsverhaltens und der Tatsache, dass es sich um begrenzte Zeiträume handle, zu kontrollieren wisse, wenn er unter unmittelbarer Aufsicht Dritter (Begleitausgänge mit Bediensteten oder Angehörigen) stehe. Gleiches gilt für die Ausführungen zu Ausgängen ohne Begleitung sowie die Gewährung von Urlaub. Danach gehe der Antragsteller planvoll vor und verfüge über eine gute Selbstkontrolle. Er wisse genau, dass ein einwandfreies Verhalten während der vollzugsöffnenden Maßnahmen von ihm erwartet werde, und mögliches Fehlverhalten ihn vollzugsplanerisch stark zurückwerfen würde (Gutachten, S. 54 f.).
31
Nach Auffassung der Gutachterin habe der Antragsteller zwar während des Strafvollzugs alles getan bzw. habe alle Angebote – abgesehen von einer Sozialtherapie – angenommen, um den Forderungen nach therapeutischer Behandlung gerecht zu werden (Verlegung in die Wohngruppe Haus 1 am 17.12.2019 nach am 12.12.2019 erfolgter Bewerbung für die Aufnahme in die Sozialtherapeutische Abteilung; Teilnahme am Anti Aggressions-Training; ab 30.4.2021 wöchentliche Gespräche mit externer Psychologin). Er habe aber versucht, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Unabhängig davon, ob eine sozialtherapeutische Behandlung beim Antragsteller zu einem besseren Therapieerfolg geführt hätte als die „zusammengestellte“ Behandlung (weil das Alternativprogramm sehr umfangreich sei und sich beim Antragsteller abzeichne, dass aufgrund seiner Persönlichkeit nicht alle Therapieziele – unabhängig vom Behandlungssetting – erreicht werden könnten, vgl. Gutachten, S. 51), habe der Antragsteller eine Sozialtherapie jedoch am 23. Januar 2020 (weil er sich aufgrund der geringen Fluktuation in der Wohngruppe sehr wohl gefühlt habe und außerdem nicht auf die zur Verfügung stehenden Küchen in der Wohngruppe habe verzichten wollen) und im Juni 2020 (nach Durchführung eines Motivationsgesprächs) abgelehnt (er selbst meint, eine Sozialtherapie nur einmal abgelehnt zu haben, vgl. Gutachten, S. 18), woraus insgesamt betrachtet eine länger anhaltende Verweigerungshaltung gegenüber einer sozialtherapeutischen Behandlung auszumachen sei. Aufgrund kurzfristig angenehmer Konsequenzen (Verbleib im gewohnten Umfeld, Küchennutzung) sei eine sinnvolle Langzeitperspektive nicht wahrgenommen worden (Verlegung Sozialtherapie). Erst als sich dieser Weg als nicht erfolgversprechend erwiesen habe, habe er sich erneut um Aufnahme in der Sozialtherapie beworben, wobei seine Therapiemotivation als nicht ausreichend angesehen worden sei (Gutachten, S. 54). Dieses Verhalten des Antragstellers, der innerhalb seiner Familie nur unzureichend gelernt habe, dass Fehlverhalten negative Konsequenzen nach sich ziehe, denen man nicht ausweichen könne, ähnle sehr den Beschreibungen seines früheren Verhaltens aus dem strafgerichtlichen Urteil vom 10. September 2019 (Gutachten, S. 38).
32
In der Exploration sei nach Auffassung der Gutachterin zudem unklar geblieben, inwiefern noch ein erhöhtes Sensation Seeking Motiv bestehe. Der Antragsteller habe dies verneint; es sei aber gut möglich, dass er dieses Verhalten im Sinne der sozialen Erwünschtheit gezeigt habe (Gutachten, S. 49 f.).
33
Letztlich sei – so die Gutachterin – die (nicht keine bzw. nicht nur eine geringe Wiederholungsgefahr annehmende) Prognose hinsichtlich der Körperverletzungs- und Raubdelikte abhängig davon, wie gut es dem Antragsteller gelingen werde, sich mit seiner dissozialen Verhaltensbereitschaft auseinanderzusetzen. Gelinge es dem Antragsteller nicht, sich von diesem Lebensstil abzuwenden und effektiv auf seine vorhandenen Ressourcen zurückgreifen, wären die bisherigen Delikte lediglich der Auftakt zu einer kriminellen Karriere mit entsprechend hohem kriminellen Potential. Dann wäre mit einer Progredienz in der delinquenten Entwicklung zu rechnen (Gutachten, S. 58).
34
Ausgehend von den Ausführungen der (in vielerlei Hinsicht selbst zweifelnden) Gutachterin kann der Senat aufgrund der gegebenen Umstände vorliegend zum jetzigen Zeitpunkt nicht davon ausgehen, dass beim Antragsteller künftig ein straffreies Verhalten zu erwarten ist, zumal die Gutachterin auch bekräftigt, das dissoziale Verhalten des Antragstellers stehe im Kontrast zu seinem angepassten und kontrollierten Vollzugsverhalten, so dass es leicht passieren könne, dass man den Antragsteller hinsichtlich seines kriminellen Potentials unterschätze (Gutachten, S. 45). Das strafrechtlich geahndete persönliche Verhalten des Antragstellers begründet eine – über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung hinausgehende – tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft. Das Schutzgut der körperlichen Integrität nimmt in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und löst staatliche Schutzpflichten aus (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19/11 – juris Rn. 15).
35
Daran ändert auch sein im Rahmen der Strafzumessung im amtsgerichtlichen Urteil vom 10. September 2019 berücksichtigtes Geständnis nichts. In bislang allen strafgerichtlichen Verfahren hat der Antragsteller die Taten eingeräumt und ist doch in der Folge wieder strafrechtlich erheblich in Erscheinung getreten. Eine Schuldeinsicht des Antragstellers hat das Amtsgericht in dem genannten Urteil im Rahmen der Strafzumessung ebenso wenig strafmildernd berücksichtigt wie einen Täter-Opfer-Ausgleich (da es zu diesem wohl erst nach dem Urteil kam). Dass in Bezug auf das Schmerzensgeld und die Schadensersatzforderung der Geschädigten nach Angaben des Antragstellers (nunmehr) eine Einigung erzielt worden ist (vgl. Gutachten, S. 15) lässt eine Wiederholungsgefahr aufgrund der obigen Ausführungen und der bestehenden Defizite beim Antragsteller nicht entfallen. Auch eine Schuldeinsicht des Antragstellers führt vorliegend nicht zum Entfallen der Wiederholungsgefahr, weil er weiterhin nicht in der Lage ist, seine eigene Dissozialität als hauptsächlich verursachendes Element zu erkennen (vgl. Gutachten, S. 37).
36
Auch die bereits erfolgte und zugesagte Unterstützung der in K. lebenden Schwestern (wo er nach Haftentlassung auch selbst wohnen wolle) vermag an der Annahme einer Wiederholungsgefahr nichts zu ändern. Grundsätzlich ist die Unterstützung des Antragstellers positiv zu werten. Allerdings hat den Antragsteller seine im Bundesgebiet lebende Familie (Vater; vier Schwestern; seine Freundin habe im September 2020 per Brief mit ihm Schluss gemacht, Gutachten, S. 16, 22) in der Vergangenheit nicht davon abhalten können, erheblich strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Insoweit führt auch die Gutachterin aus, dass die Unterstützung der Schwestern – obwohl insgesamt positiv – gleichzeitig kritisch zu sehen sei, da die Geschwister ihm offenbar Vieles abnähmen, was es dem Antragsteller wiederum einfach mache (Gutachten S. 38, 67). Gleiches gilt auch für den Umstand, dass der Antragsteller für die Zeit nach der Haftentlassung bereits Arbeitsplatzangebote (eines davon von seiner Schwester) vorweisen kann. Zwar geht die Gutachterin davon aus, dass die berufliche Kontinuität vor der Inhaftierung für den Antragsteller stabilisierend gewesen sei. Trotzdem ist insoweit zu konstatieren, dass der Antragsteller auch während der Zeit früherer Erwerbstätigkeit bzw. in seiner Ausbildungszeit Straftaten begangen, die sogar zur Beendigung der Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann geführt haben.
37
Zudem kann auch nicht mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller mit seinem früheren Umfeld gebrochen hätte. Insoweit hält es die Gutachterin für fraglich, ob die Verbindungen zu früheren polizeibekannten Peers tatsächlich vollständig gekappt seien. Der Antragsteller habe diesbezüglich z. B. die mögliche Straffälligkeit seines besten Freundes O. K., angedeutet, ohne jedoch konkret zu werden (Gutachten, S. 38, 48).
38
Auch der Umstand, dass nunmehr eine Jugendstrafe gegenüber dem Antragsteller zum ersten Mal vollzogen wird, spricht nicht gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Zwar gehen die Straf- und Verwaltungsgerichte davon aus, dass die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen, unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr eines neuen Straffälligwerdens mindern kann (BayVGH, B.v. 24.2.2016 – 10 ZB 15.2080 – juris Rn. 12). Insoweit ist bereits fraglich, ob die erstmalige Verbüßung einer Jugendstrafe mit der erstmaligen Verbüßung einer Haftstrafe vergleichbar ist, weil im Jugendstrafvollzug der Erziehungsauftrag an vorderer Stelle steht (vgl. Art. 121 BayStVollzG). Dies kann letztlich aber dahinstehen, da das Gutachten vom 24. Januar 2023 nicht von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr beim Antragsteller, der schon zweimal einer Freiheitsentziehung (Jugendarrest) unterworfen war und somit schon zumindest einen eingeschränkten Eindruck von freiheitsentziehenden Maßnahmen gewonnen hat, ausgeht. Der Umstand der erstmaligen Inhaftierung wird im Zusammenhang mit einer vorzeitigen Haftentlassung (bei weiterhin gutem Vollzugsverlauf im geschlossenen Bereich, einer erfolgreichen therapeutischen Auseinandersetzung mit dem Delikt und einer weitgehend komplikationsfrei überstandenen Lockerungsphase) lediglich genannt (Gutachten, S. 59, 69).
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2. Die verwaltungsgerichtliche Auffassung, die Ausweisung sei für die Wahrung des berührten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich (§ 53 Abs. 3 AufenthG), begegnet ebenfalls keinen Bedenken.
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Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG durchzuführen.
41
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49); durch diese Begriffe wird die Abwägung strukturiert.
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Die in § 54 AufenthG fixierten Tatbestände erfüllen zwei Funktionen: Sie sind gesetzliche Umschreibungen spezieller öffentlicher Interessen an einer Ausweisung im Sinne von § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG und weisen diesen Ausweisungsinteressen zugleich ein besonderes Gewicht für die durch § 53 Abs. 1 Halbs. 2 und Abs. 3 AufenthG geforderte Abwägung zu. Ein Rückgriff auf die allgemeine Formulierung eines öffentlichen Ausweisungsinteresses in § 53 Abs. 1 Halbs. 1 AufenthG ist deshalb entbehrlich, wenn der Tatbestand eines besonderen Ausweisungsinteresses nach § 54 AufenthG verwirklicht ist. Allerdings bedarf es auch bei Verwirklichung eines Tatbestandes nach § 54 AufenthG stets der Feststellung, dass die von dem Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 26)
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Das Verwaltungsgericht hat sowohl die Umstände ermittelt und in die Abwägung eingestellt, die zugunsten des Antragstellers sprechen und zu einem Bleibeinteresse führen, als auch solche, die ein Ausweisungsinteresse begründen.
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Das Beschwerdevorbringen greift die diesbezügliche verwaltungsgerichtliche Auffassung, die besonders schwerwiegenden Interessen gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG stünden sich grundsätzlich gleichrangig gegenüber, bereits nicht an.
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Welches Interesse überwiegt, ist immer im Rahmen einer Interessenabwägung zu klären, schon allein deshalb, weil nach der Vorstellung des Gesetzgebers neben den explizit in den §§ 54, 55 AufenthG aufgeführten Interessen auch noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar sind (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 49). Selbst das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses, bei dessen Vorliegen ein besonderes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besteht und häufig von einem Übergewicht des öffentlichen Interesses an der Ausweisung auszugehen sein wird, entbindet nicht von der Notwendigkeit der in § 53 Abs. 1 AufenthG vorgeschriebenen umfassenden Interessenabwägung mit eventuellen Bleibeinteressen des Betroffenen (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28/16 – juris Rn. 39). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28/16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkreten Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Bei Vorliegen besonderer Umstände können die Ausweisungsinteressen auch weniger schwer zu gewichten sein (vgl. BT-Drs. 18/4097 S. 50). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28/16 – juris Rn. 39). Gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse kann daher das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedürfen, als dies für die Erfüllung des gesetzlich vertypten Ausweisungsinteresses erforderlich ist (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28/16 – juris Rn. 39). Es verbietet sich zudem aber auch eine „mathematische“ Abwägung im Sinne eines bloßen Abzählens von Umständen, die das Ausweisungsinteresse einerseits und das Bleibeinteresse andererseits begründen (BayVGH, U.v. 21.11.2017 – 10 B 17.818 – juris Rn. 41; VGH BW, U.v. 13.01.2016 – 11 S 889/15 – juris Rn. 142).
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Auch wenn vorliegend die gesetzlichen Typisierungen einen Gleichrang von Ausweisungsinteresse und Bleibeinteresse ergeben, überwiegt bei der gebotenen Einbeziehung der Umstände des Einzelfalls das Ausweisungsinteresse deutlich, selbst wenn der Antragsteller – was das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat – als faktischer Inländer anzusehen wäre (vgl. zur Bedeutung der Integrationsleistungen bei der Frage des faktischen Inländers BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8.96; U.v.. 30.3.2010 – 1 C 8/09 – jeweils juris).
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Entgegen der Auffassung des Antragstellers besteht ein generelles Ausweisungsverbot für „faktische Inländer“ nicht (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; EGMR, U.v. 18. 10. 2006 – Üner, 46410/99 – juris Rn. 57). Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener Ausländer ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (BVerfG, B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24).
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Vorliegend ist die Ausweisung des Antragstellers auch unter Berücksichtigung der Familienverhältnisse des Antragstellers weder ein Verstoß gegen Art. 6 GG/Art. 8 EMRK noch unverhältnismäßig.
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Ein Leben im Einklang mit der Rechtsordnung ist dem Antragsteller trotz seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht gelungen. Der Antragsteller ist im Bundesgebiet wiederholt (erstmals bereits mit 15 Jahren), in sich steigernder Weise und mit einer beachtlichen Rückfallgeschwindigkeit strafrechtlich in Erscheinung (vgl. bereits die Ausführungen zu Nr. 1). Selbst unter Bewährung stehend hat er sich nicht rechtstreu verhalten, sondern ist vielmehr durch brutale Tathandlungen erneut aufgefallen.
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Zudem ist eine nachhaltige Integration des im Bundesgebiet geborenen Antragstellers in den Arbeitsmarkt vor seiner Inhaftierung nicht zu verzeichnen. Er hat im Bundesgebiet einen Schulabschluss erworben und eine Ausbildung zum Verkäufer absolviert. Um den Abschluss des Einzelhandelskaufmanns zu erreichen, wollte der Antragsteller ursprünglich ein weiteres Lehrjahr anhängen. Im gegenseitigen Einvernehmen wurde jedoch ein Aufhebungsvertrag geschlossen, weil das häufige Auftreten der Polizeibeamten im Rahmen von Ermittlungen wegen damals vom Antragsteller begangener Straftaten für den Arbeitgeber nicht mehr tragbar war. In dem gelernten Beruf des Verkäufers hat der Antragsteller somit nicht gearbeitet. Die im November 2017 begonnene Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker brach er im Juni 2018, nachdem es Probleme in der Berufsschule gegeben hatte, ab. Im Anschluss arbeitete der Antragsteller über eine Zeitarbeitsfirma als Produktionshelfer bzw. Fahrzeugaufbereiter in der Firma B.. Anfang 2019 entschied er sich, nachdem er bei der Firma B. aus betrieblichen Gründen seinen Arbeitsplatz räumen musste und ein Wechsel in eine andere Firma für ihn nicht lukrativ erschien, den Vertrag mit der Zeitarbeitsfirma aufzulösen. Ab Februar 2019 war der Antragsteller, der nach eigenen Angaben noch ca. 8.000 EUR Schulden habe (die Schuldenregulierung sei angelaufen, vgl. Gutachten, S. 15, 39), arbeitslos, bekam aber von der Zeitarbeitsfirma noch bis April 2019 Lohnzahlungen. Ob eine wirtschaftliche Integration nach Haftentlassung gelingen wird, ist fraglich. Zwar ist davon auszugehen, dass der Antragsteller seine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker während des Jugendstrafvollzugs mittlerweile abgeschlossen hat (Lehrzeitende war laut Justizvollzugsanstalt am 15.4.2023). Auch ist zu berücksichtigen, dass er (jeweils im Raum K.) von der M. Autoglasservice eine verbindliche Einstellungszusage (vermutlich als Kfz-Mechatroniker), eine Einstellungszusage als Kaufmann im Einzelhandel im Kiosk seiner Schwester und eine Einstellungsbestätigung der M.F. GmbH erhalten hat (der Antragsteller ziehe die Tätigkeit im Kiosk seiner Schwester weniger in Betracht, wolle z B. lieber im Verkauf arbeiten und könne sich vorstellen, sich zum Automobilkaufmann umschulen zu lassen, vgl. Gutachten, S. 21). Inwiefern sich diese (durchaus positiv für den Antragsteller zu wertenden) Perspektiven realisieren lassen, ist derzeit offen.
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Auch seine im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen (Vater; seine vier Schwestern, wovon eine seit einem Unfall schwerbehindert ist; seine Mutter ist zwischenzeitlich verstorben) konnten den ledigen und kinderlosen Antragsteller von der Begehung von Straftaten in der Vergangenheit nicht abhalten. Der Antragsteller will zwar nunmehr seinen Wohnsitz nicht mehr beim in Bayern lebenden Vater (dieser wolle nicht umziehen, er habe sein Netzwerk hier in Bayern aufgebaut, vgl. Gutachten, S. 23), sondern bei einer seiner in K. lebenden Schwestern nehmen (wo genau ist aber noch nicht abschließend geklärt; im Rahmen eines betreuten Wohnens würde der Antragsteller nur ungern leben, vgl. Gutachten S. 22). Die Unterstützung seiner Schwestern ist zwar grundsätzlich als positiv zu bewerten. Allerdings sind auch in einem neuen Wohnumfeld für den Antragsteller Probleme nicht ausgeschlossen. Zudem bewertet die Gutachterin die Unterstützung der Schwestern gleichzeitig als kritisch, da die Geschwister dem Antragsteller offenbar Vieles abnähmen, was es dem Antragsteller wiederum einfach mache (Gutachten S. 38, 67). Soweit in der Beschwerdebegründung vom 25. Januar 2023 ausgeführt wird, der Antragsteller sei in einer festen Beziehung mit seiner Freundin, die ebenfalls gerade eine Ausbildung absolviere, vermag diese Beziehung (soweit sie denn besteht) jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt keinen stabilisierenden Faktor darzustellen. Denn in der Untersuchung der Gutachterin am 21. Dezember 2022 erklärte der Antragsteller, er sei seit dem 5. Januar 2019 mit seiner letzten Freundin zusammen gewesen, die jedoch im September 2020 per Brief Schluss gemacht habe. Sollte es sich tatsächlich um eine neue Freundin handeln (was dem Beschwerdevorbringen so jedoch nicht entnommen werden kann), kann die Beziehung also nur zwischen dem 21. Dezember 2022 und dem 25. Januar 2023 während der Haft des Antragstellers begonnen worden sein.
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Auch unter Berücksichtigung der (vermutlich eher) positiven Entwicklungen im beruflichen und familiären Bereich, überwiegt das Ausweisungsinteresse im Hinblick auf die vom Antragsteller verübten massiven Straftaten und die daraus resultierenden schwerwiegenden Gefahren weiterhin erheblich. Es wird insoweit nicht verkannt, dass sich die streitgegenständliche Ausweisung in Anbetracht des ausschließlichen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet und seiner hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen als gravierender Grundrechtseingriff darstellt (wobei infolge des Jugendstrafvollzugs intensive Bindungen über den familiären Bereich nicht ersichtlich sind).
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Dem Antragsteller ist es zumutbar, im Land seiner Staatsangehörigkeit Fuß zu fassen und die familiären Kontakte von dort aus aufrecht zu erhalten. Aufgrund seines Aufwachsens in einer türkischen Familie erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass er mit der türkischen Sprache und Kultur hinreichend vertraut ist. Davon ist schon deshalb auszugehen, weil er mittlerweile in Haft regelmäßig jeden Freitag an einer türkischen Gruppe teilnimmt, die von einem Imam angeleitet wird (Gutachten, S. 14). Selbst wenn er – wie er vortragen lässt, wofür angesichts der obigen Ausführungen jedoch nichts spricht – die türkische Sprache „kaum“ beherrscht, wäre ihm angesichts der von ihm ausgehenden Gefahren für die körperliche Unversehrtheit Dritter und seines Alters von erst 23 Jahren zumutbar, seine Sprachkenntnisse zu verbessern.
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Für den Fall, dass keine Verwandten des Antragstellers mehr in der Türkei leben, besteht die zumutbare Möglichkeit, dass ihn seine Familie aus der Bundesrepublik oder vor Ort während der Eingewöhnungsphase unterstützt. Jedenfalls ist selbst das Fehlen verwandtschaftlicher Beziehungen im Herkunftsstaat bei – wie hier – Volljährigen kein Umstand, aus dem sich die Unzumutbarkeit der Rückkehr ableiten lässt (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 27.2.2018 – OVG 3 B 11.16 – juris Rn. 46).
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Soweit der Antragsteller im Schriftsatz vom 2. März 2023 vortragen lässt, seine Ausweisung sei auch wegen der Folgen der zwei schweren Erdbeben in der Südosttürkei vom 6. Februar 2023 unverhältnismäßig, weil sich das Land in einem Ausnahmezustand befinde (tausende Tote und Verletzte; viele Gebäude seien zerstört oder schwer beschädigt worden; Millionen Betroffene hätten infolge der Erschütterungen ihr Zuhause verloren) und jederzeit die Gefahr für weitere Nachbeben bestehe, trifft dies nicht zu. Der Antragsteller ist insoweit nicht festgelegt, sich in der betroffenen Erdbebenregion niederzulassen.
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Das geltend gemachte Maß der Verwurzelung im Bundesgebiet steht daher vorliegend einer Ausweisung nicht entgegen.
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3. Die Anordnung des Sofortvollzugs ist als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren schon vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens erforderlich. Diese Erforderlichkeit ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn – wie hier – die Ausweisung von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Bereich der Spezialprävention getragen wird, die nicht nur langfristig, sondern auch schon während des Klageverfahrens Geltung beanspruchen (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 14.5.2021 – 19 CS 21.828 – juris Rn. 19; B.v.2.8.2016 – 19 CS 16.878; NdsOVG, B.v. 16.12.2011 – 8 ME 76/11 – juris Rn. 40; VGH BW, B.v. 25.6.1998 – 11 S 682/98 – juris Rn. 4 f.; OVG NW, B.v. 24.2.1998 – 18 B 1466/96 – juris Rn. 30 f.).
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4. Schließlich überwiegen die bei einem Aufschub des Vollzugs entstehenden konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter die den Antragsteller betreffenden Folgen der sofortigen Vollziehung. Der Senat verkennt nicht, dass die sofortige Vollziehung der Ausweisung durch die Aufenthaltsbeendigung eine schwerwiegende Maßnahme darstellt, die erheblich in das Leben des Antragstellers eingreift. Er wird – jedenfalls bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens – gezwungen sein, das Bundesgebiet zu verlassen, hier etwaige bestehende Bindungen zu unterbrechen und sein Leben im Heimatland zu bestreiten. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der ledige und kinderlose Antragsteller besondere schutzwürdige Bindungen an das Bundesgebiet nicht vorgetragen hat (vgl. insoweit die obigen Ausführungen). Ebenso wenig besteht ein unbefristetes Arbeitsverhältnis, das er im Falle der Aufenthaltsbeendigung nicht weiterführen könnte. Der Antragsteller befindet sich derzeit im Jugendstrafvollzug. Der Sofortvollzug ist also nicht mit dem Verlust seiner wirtschaftlichen Existenz verbunden. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Wirkungen des Sofortvollzugs im Falle eines Obsiegens im Hauptsacheverfahren für den Antragsteller weitgehend reparabel erscheinen. Dies gilt für die von einem weiteren Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet wie dargelegt gefährdeten höchsten Rechtsgüter nicht. Realisiert sich die beschriebene konkrete Gefahr, dass der Antragsteller im Bundesgebiet erneut erhebliche Straftaten begeht, insbesondere Delikte gegen Leib, Leben und Gesundheit Dritter sind die dann eingetretenen Schädigungen regelmäßig nicht wieder gut zu machen. Angesichts des hohen Rangs der Schutzgüter und der in Anbetracht zu ziehenden Irreparabilität ihrer Beeinträchtigung überwiegen diese im vorliegenden Einzelfall die dem Antragsteller treffenden Folgen der sofortigen Vollziehung.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 3 Satz 1, § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung der Nrn. 1.5 und 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).