Titel:
Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts bei elektronischem Versand eines Rechtsbehelfs
Normenketten:
VwGO § 55a Abs. 5 S. 2, § 56 Abs. 1 S. 2, § 57, § 60 Abs. 2, § 124a Abs. 4 S. 1, § 173 Abs. 3
ZPO § 85 Abs. 2, § 130a Abs. 5 S. 2, § 222 Abs. 1, Abs. 2
BGB § 188 Abs. 2
Leitsätze:
1. Die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA einschließlich der ordnungsgemäßen Übermittlung entsprechen jenen bei Übersendung per Telefax. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Rechtsanwalt hat das zuständige Personal seiner Kanzlei dahingehend anzuweisen, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung eines elektronisch übermittelten Schriftsatzes zu kontrollieren ist und muss dies zumindest stichprobenweise überprüfen. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Wird in einem Wiedereinsetzungsantrag lediglich vorgetragen, der Rechtsanwalt habe sein Personal angewiesen, den Erhalt der elektronischen Eingangsbestätigung zu überprüfen, fehlt aber ein Vorbringen dazu, wie das organisatorisch umgesetzt und abgesichert worden ist, ist von einer verschuldeten Fristversäumung auszugehen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bleibt eine regelmäßig binnen weniger Tage versandte gerichtliche Eingangsmitteilung aus, ist für den Beginn der Wiedereinsetzungsfrist maßgebend, ab welchem Zeitpunkt einem Anwalt nach der vermeintlichen Absendung des Schriftstücks Zweifel an dessen rechtzeitigem Eingang bei Gericht gekommen sein müssen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Zulassung der Berufung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, fehlende Eingangsmitteilung, anwaltliches Verschulden, Zulassung der Berufung, Fristversäumung, besonderes elektronisches Anwaltspostfach, Ausgangskontrolle, Eingangsmitteilung, Nachfrage, Wiedereinsetzung, Wiedereinsetzungsfrist, Kontrollpflichten
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 17.01.2022 – W 8 K 21.1139
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8747
Tenor
I. Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Fristen zur Einlegung und Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 20. April 2022 (W 8 K 21.1139) wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt der Kläger.
IV. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 3.609,37 EUR festgesetzt.
Gründe
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1. Der mit Schriftsatz vom 15. März 2023 gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 20. April 2022 (W 8 K 21.1139) ist als unzulässig abzulehnen, weil er nicht innerhalb der Monatsfrist aus § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO beim Verwaltungsgericht eingegangen ist. Das angegriffene Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses am 21. April 2022 an sein besonderes elektronisches Anwaltspostfach (beA) zugestellt (§ 56 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 173 Abs. 3 ZPO). Die Frist nach § 124a Abs. 4 Satz 1 VwGO lief demnach – der 21. Mai 2022 fiel auf einen Samstag – am 23. Mai 2022 ab (§ 57 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO i.V.m. § 188 Abs. 2 BGB), ohne dass bis dahin ein Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung beim Verwaltungsgericht eingegangen wäre.
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2. Der Antrag des Klägers vom 15. März 2023 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Fristen nach § 124a Abs. 4 Satz 1 und Satz 4 VwGO zur Einlegung und Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg, weil die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nach § 60 VwGO nicht erfüllt sind.
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a) Der Kläger hat die gesetzlichen Fristen nach § 124a Abs. 4 Satz 1 und Satz 4 VwGO versäumt (s.o. 1.). Seinen Wiedereinsetzungsantrag vom 15. März 2023 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers damit begründet, dass er den Antrag auf Zulassung der Berufung bereits am 17. Mai 2022 und damit fristgerecht fertiggestellt und der für den Versand per beA zuständigen Kanzleimitarbeiterin übergeben habe. Diese – mit dem elektronischen Versand von Schriftsätzen vertraute, seit vielen Jahrzehnten in der Kanzlei angestellte und stets zuverlässige – Angestellte habe den Versand des Schriftsatzes per beA am 17. Mai 2022 im Kostenblatt der Handakte eingetragen und die Eintragung der Frist zudem im Fristenkalender unter dem 20. Mai 2022 gestrichen. Tatsächlich sei der Schriftsatz jedoch nicht versandt worden. Der Prozessbevollmächtigte trägt weiter vor, seine Angestellte sei damit beauftragt, den tatsächlichen Auslauf von Schriftstücken zu kontrollieren, bevor sie die vorgenannten Einträge vornehme. Ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 15. März 2023 zufolge kann sich die Mitarbeiterin den Fehler „nicht erklären“. Aufgefallen sei der unterbliebene Auslauf des Schriftsatzes vom 17. Mai 2022 erst aufgrund einer am 14. März 2023 nachmittags zugegangenen Sachstandsanfrage der Rechtsschutzversicherung des Klägers.
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b) Mit diesem Vortrag sind die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung nicht glaubhaft gemacht worden. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung des Zulassungsantrags nicht auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten beruht, das dem Kläger nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist.
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In der Rechtsprechung der Ober- und Bundesgerichte ist mittlerweile geklärt, dass die anwaltlichen Sorgfaltspflichten im Zusammenhang mit der Übermittlung von fristgebundenen Schriftsätzen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs über das beA denen bei Übersendung von Schriftsätzen per Telefax entsprechen; dies umfasst insbesondere eine Überprüfung der ordnungsgemäßen Übermittlung (vgl. nur BayVGH, B.v. 31.3.2022 – 11 ZB 22.39 – juris Rn. 4; OVG RP, B.v. 14.10.2021 – 8 B 11187/21 – juris Rn. 11; OVG Bln-Bbg., B.v. 11.11.2020 – 6 S 49/20 – juris Rn. 8; OVG SH, B.v. 4.8.2020 – 5 MB 20/20 – juris Rn. 5; BGH, B.v. 11.5.2021 – VIII ZB 9/20 – juris Rn. 21; BAG, B.v. 7.8.2019 – juris Rn. 20). Daher bedarf es insbesondere einer Kontrolle, ob die Bestätigung des Eingangs des elektronischen Dokuments bei Gericht nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO erteilt wurde (vgl. BGH, B.v. 11.5.2021 – VIII ZB 9/20 – juris Rn. 22 zum wortgleichen § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO). Sobald eine Nachricht über das beA im elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) eingeht, wird an den Absender eine automatisierte Eingangsbestätigung übermittelt, die ihm unmittelbar und ohne weiteres Eingreifen eines Justizbediensteten Gewissheit darüber verschafft, ob die Übermittlung an das Gericht erfolgreich war oder ob weitere Bemühungen zur erfolgreichen Übermittlung des elektronischen Dokuments erforderlich sind (vgl. BT-Drs. 17/12634, S. 26 zu § 130a Abs. 5 Satz 2 ZPO). Werden fristwahrende Schriftsätze über das beA versandt, hat ein Rechtsanwalt das zuständige Personal in seiner Kanzlei dahingehend anzuweisen, dass stets der Erhalt der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO zu kontrollieren ist, und dies zumindest stichprobenweise zu überprüfen (vgl. BGH, B.v. 11.5.2021 – VIII ZB 9/20 – juris Rn. 24).
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Dass in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten des Klägers eine diesen Maßgaben genügende Ausgangskontrolle eingerichtet ist, ist schon nicht substantiiert dargelegt worden. Weder dem Antragsschriftsatz vom 15. März 2023 noch den beigefügten eidesstattlichen Versicherungen und Auszügen aus der Handakte und dem Fristenkalender ist zu entnehmen, ob und in welcher Form eine hinreichende Kontrolle des Eingangs der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten etabliert ist. Soweit zumindest behauptet wird, der Kanzleiangestellten sei ein Auftrag zur Kontrolle des tatsächlichen Auslaufs von Schriftstücken erteilt worden, fehlt jeglicher Vortrag zu dessen organisatorischer Umsetzung und Absicherung. Das Fehlen entsprechenden Vortrags erlaubt den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (vgl. BGH, B.v. 26.11.2013 – II ZB 13/12 – juris Rn. 12 m.w.N.). Zudem haben weder der Prozessbevollmächtigte des Klägers noch dessen Mitarbeiterin – etwa durch eine entsprechende Angabe im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung – glaubhaft gemacht, dass im konkreten, hier zu beurteilenden Fall am 17. Mai 2022 eine solche Kontrolle des Eingangs der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO stattgefunden hat. Die Erklärung der Kanzleimitarbeiterin, sie könne sich den Fehler „nicht erklären“, genügt insofern nicht.
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c) Zudem wahrt der Wiedereinsetzungsantrag auch nicht die zweiwöchige Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO.
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Die Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO beginnt entweder mit dem tatsächlichen Wegfall des Hindernisses oder in dem Zeitpunkt, in dem die Ursache der Verhinderung oder ihr Fortbestand nicht mehr unverschuldet ist. Letzteres ist der Fall, sobald der Beteiligte oder sein Prozessbevollmächtigter Kenntnis von der Fristversäumung erhalten hat oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte haben können (vgl. nur Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 39 m.w.N.). Liegen Umstände vor, die ihn zweifeln lassen, ob die einzuhaltende Frist gewahrt worden ist, oder hätten ihm aufgrund solcher Umstände Zweifel kommen müssen, beginnt die Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO in dem Zeitpunkt, in dem er durch Nachfrage bei Gericht Gewissheit über die Rechtzeitigkeit des Rechtsbehelfs hätte erlangen können (vgl. BVerfG, B.v. 11.1.1991 – 1 BvR 1435/89 – juris Rn. 16; BFH, B.v. 22.7.1997 – III R 9/97 – juris Rn. 7 m.w.N.). Dieser Zeitpunkt liegt hier jedenfalls mehr als zwei Wochen vor der Antragstellung am 15. März 2023.
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Insbesondere bei verfahrens- oder rechtsmittelbegründenden Schriftsätzen gehört eine Prüfung nicht nur der automatisierten Eingangsbestätigung nach § 55a Abs. 5 Satz 2 VwGO, sondern auch der Eingangs- und Aktenzeichenmitteilung des jeweiligen Gerichts zu den Sorgfaltspflichten jedenfalls eines Rechtsanwalts – nicht nur im Hinblick auf das damit mitgeteilte Eingangsdatum, sondern zunächst schon im Hinblick darauf, ob ein Schriftstück überhaupt bei Gericht eingegangen und verfahrensmäßig erfasst worden ist. Geht innerhalb des üblichen Zeitrahmens keine solche Eingangsmitteilung ein, müssen einem sorgfältig arbeitenden Rechtsanwalt Z. kommen, ob ein ordnungsgemäßer Eingang seines Rechtsbehelfs bei Gericht erfolgt ist. Das grundsätzlich gerechtfertigte Vertrauen darauf, dass ein Rechtsbehelf nach seiner Versendung den Empfänger auch erreicht hat, besteht in einer solchen Situation nicht mehr fort, so dass eine Nachfrage beim jeweiligen Gericht geboten ist (vgl. OVG NW, B.v. 6.4.2022 – 13 A 1753/21.A – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 15.11.2019 – 19 ZB 19.730 – juris Rn. 13; OVG Hbg., B.v. 20.8.2018 – 4 Bf 59/16.Z – juris Rn. 17; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 60 Rn. 39). Bei Ausbleiben der regelmäßig binnen weniger Tage versandten Eingangsmitteilung ist für den Fristbeginn des § 60 Abs. 2 Satz 1 VwGO maßgebend, ab welchem Zeitpunkt einem Anwalt nach der vermeintlichen Absendung des Schriftstücks Zweifel an dessen rechtzeitigem Eingang bei Gericht gekommen sein müssen (vgl. OVG NW, B.v. 6.4.2022 – 13 A 1753/21.A – juris Rn. 29).
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Dabei kann hier letztlich offen bleiben, nach welcher genauen Zeitspanne sich Zweifel am ordnungsgemäßen Zugang des Antrags auf Zulassung der Berufung aufdrängen mussten. Der bis zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrags am 15. März 2023 verstrichene Zeitraum von fast zehn Monaten ohne jegliche Eingangsbestätigung oder sonstige Verfügung des Verwaltungsgerichts bzw. des Verwaltungsgerichtshofs ist jedenfalls deutlich zu lang, als dass ein sorgfältig arbeitender Anwalt die Sache auf sich hätte beruhen lassen können (ebenso für einen Zeitraum von neun Monaten: BayVGH, B.v. 15.11.2019 – 19 ZB 19.730 – juris Rn. 14; für einen Zeitraum von vier Monaten: VGH BW, B.v. 30.12.1994 – 1 S 3532/94 – juris Rn. 4). Bereits die am 21. Juni 2022 abgelaufene Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) – dem letztmöglichen Zeitpunkt für den Vortrag weiterer Zulassungsgründe – hätte Anlass geben müssen, sich beim Verwaltungsgericht nach dem Eingang der Antragsschrift zu erkundigen. Jedenfalls aber belegt die Erklärung des Prozessbevollmächtigten des Klägers, erst durch eine Sachstandsanfrage der Rechtsschutzversicherung vom 14. März 2023 auf den fehlenden Eingang beim Gericht aufmerksam geworden zu sein, dass eine anwaltliche Überwachung des Verfahrensfortgangs seit dem 17. Mai 2022 nicht stattgefunden haben kann.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 52 Abs. 3 Satz 1GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).