Inhalt

VGH München, Beschluss v. 17.04.2023 – 10 CE 23.486
Titel:

kein Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung

Normenkette:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, § 104c
Leitsatz:
Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn eine Abschiebung aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, nicht bzw. nur mit unverhältnismäßigen Aufwand durchgesetzt werden kann; sie ist allerdings nicht schon bei jeder geringen zeitlichen Verzögerung infolge der notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen anzunehmen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verfahrensduldung, sog. Chancen-Aufenthaltsrecht, geduldeter Ausländer, Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung, tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung, Wegfall des Abschiebungshindernisses, (erhebliche) zeitliche Verzögerung der Abschiebung (hier: verneint), Unmöglichkeit der Abschiebung, Heimreiseschein, Sammelabschiebung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 16.02.2023 – Au 1 E 23.209
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8718

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein pakistanischer Staatsangehöriger, im Wesentlichen seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag weiter, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm bis zur rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen und von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.
2
Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung nach § 146 Abs. 4 Satz 6 auch VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen nicht die Abänderung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts.
3
Unabhängig davon, ob das Verwaltungsgericht, wie der Antragsteller rügt, die Anforderungen an die Glaubhaftmachung (s. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) des Anordnungsgrunds, d. h. Dringlichkeit bzw. Eilbedürftigkeit der Sache, überspannt hat, indem es diesbezüglich auf einen noch nicht feststehenden konkreten Termin für die Abschiebung abgestellt hat (vgl. dazu BVerfG, B.v. 8.11.2017 – 2 BvR 809/17 – juris Rn. 15 sowie BVerwG, B.v. 8.6.2022 – 1 C 24.21 – juris Rn. 21, wonach die Eilbedürftigkeit nach Ablauf der Ausreisefrist regelmäßig gegeben ist), hat es jedenfalls zu Recht festgestellt, dass es voraussichtlich am Anordnungsanspruch des Antragstellers fehle. Denn einen durch die im einstweiligen Rechtsschutzverfahren begehrte Verfahrensduldung (zu den Voraussetzungen einer – lediglich ausnahmsweise möglichen – Verfahrensduldung vgl. z.B. BayVGH, B.v. 14.2.2023 – 10 CE 23.301 – juris Rn. 3 m.w.N.) zu sichernden materiellen Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG hat der Antragsteller auch mit seinem Beschwerdevorbringen nicht in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht.
4
Das Verwaltungsgericht hat dazu festgestellt, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG voraussetze, dass der Antragsteller im Besitz einer Duldung sei („einem geduldeten Ausländer“), die Duldung des Antragstellers jedoch seit dem 29. November 2022 erloschen und der Antragsteller demgemäß auch nicht mehr im Besitz einer Duldung sei.
5
Demgegenüber wendet der Antragsteller ein, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass er einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung gehabt habe und auch aktuell noch besitze. Gehe man wie das Verwaltungsgericht davon aus, dass nach der erfolgten Stornierung der für den 15. Februar 2023 vorgesehenen Abschiebung noch kein neuer Termin gebucht sei und demgemäß kein konkreter Termin für die Abschiebung des Antragstellers feststehe, ergebe sich daraus ein Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Duldung. Denn nach ständiger Rechtsprechung sei eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG auch dann zu erteilen, wenn die Abschiebung zwar grundsätzlich möglich sei, aber nicht ohne (größere) Verzögerung durchgesetzt werden könne, insbesondere der Abschiebetermin noch nicht feststehe. Das Verwaltungsgericht habe dabei auch übersehen, dass das Landesamt für Asyl und Rückführungen (LfAR) dem Antragsgegner am 19. Oktober 2022 mitgeteilt habe, dass der Antragsteller durch die pakistanischen Behörden identifiziert und seit dem 14. Oktober 2022 eine Zusage für seine Rücknahme und die Ausstellung eines Heimreisescheins erteilt worden sei. Am 3. November 2022 habe der Antragsgegner beim LfAR einen Antrag auf Durchführung der Luftabschiebung gestellt, am 11. Januar 2023 habe das LfAR mitgeteilt, dass der Antragsteller für die Sammelabschiebungsmaßnahme nach Pakistan Mitte Februar 2023 eingeplant sei. Jedenfalls seit dem 18. Januar 2023 habe dem Antragsgegner der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG vorgelegen. Die Genehmigung der Luftabschiebung (am 15.2.2023) sei jedoch erst mit Schreiben des LfAR vom 24. Januar 2023 erfolgt. Daher sei der Antragsgegner verpflichtet gewesen, dem Antragsteller angesichts eines noch nicht feststehenden Abschiebungstermins eine gegebenenfalls mit kurzer Befristung oder einer auflösenden Bedingung zu versehene Duldung zu erteilen; nicht entscheidend sei, dass der Antragsgegner die Ausstellung der Duldungsbescheinigung rechtswidrig verweigert habe. Aufgrund dieses Duldungsanspruchs sei der Antragsteller als „geduldeter Ausländer“ anzusehen und es lägen auch alle übrigen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG vor.
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Damit hat der Antragsteller aber einen Rechtsanspruch auf Duldung aufgrund des Vorliegens materieller Duldungsgründe im Sinne von § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2022 – 1 B 35.22 – juris Rn. 8 m.w.N.; Röder in BeckOK Migrationsund Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, Stand 15.1.2023, AufenthG § 104c Rn. 24) weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Diese Voraussetzungen liegen entgegen der Beschwerdebegründung beim Antragsteller nicht vor. Gründe für eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung i.S.v. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG werden von Antragstellerseite auch im Beschwerdeverfahren nicht geltend gemacht. Die Unmöglichkeit der Abschiebung ergibt sich vorliegend auch nicht aus tatsächlichen Gründen. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn eine Abschiebung aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, nicht bzw. nur mit unverhältnismäßigen Aufwand durchgesetzt werden kann. Die Unmöglichkeit der Abschiebung ist allerdings nicht schon bei jeder geringen zeitlichen Verzögerung infolge der notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen anzunehmen; der für die Durchführung der Abschiebung notwendige Zeitraum macht diese nicht zeitweise unmöglich. Letzteres gilt allerdings nur für den üblicherweise für eine zügige Durchführung der Abschiebung erforderlichen Zeitraum (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.1997 – 1 C 3.97 – juris Rn. 22 f.; BayVGH, B.v. 2.8.2021 – 10 CE 21.1427 – juris Rn. 17 f.; B.v. 28.11.2022 – 10 CE 22.2250, 10 C 22.2252 – juris Rn. 6; B.v. 9.3.2023 – 19 CE 23.183 – juris Rn. 14; Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand März 2021, § 60a Rn 311 jew. m.w.N.).
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Der Grund für die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung und laufende Duldung des seit Dezember 2020 vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellers – fehlende Heimreisepapiere (vgl. Bescheid der Regierung von Schwaben zuletzt vom 26.8.2022 über die Erteilung einer [weiteren] auf die Dauer von drei Monaten befristeten Duldung, Bl. 547 ff. der Behördenakte) – ist, wie der Antragsteller selbst vorträgt, mit seiner Identifizierung und der damit verbundenen Zusage für seine Rücknahme sowie die Ausstellung eines Heimreisescheins durch die pakistanischen Behörden (vgl. Mitteilung des LfAR vom 19.10.2022, Bl. 655 f. der Behördenakte), weggefallen. Dass die durch den Antragsgegner bereits am 3. November 2022 beim LfAR beantragte (Bl. 671 ff. der Behördenakte) und ausweislich der Mitteilung des LfAR vom 11. Januar 2023 (Bl. 718 f. der Behördenakte) für den 15. Februar 2023 (im Rahmen einer Sammelabschiebungsmaßnahme) geplante sowie mit Schreiben des LfAR vom 24. Januar 2023 genehmigte (Bl. 727 ff. der Behördenakte) Durchführung einer Luftabschiebung des Antragstellers nach Pakistan aufgrund unbekannten Aufenthalts des Antragstellers für diesen wieder storniert worden ist, führt ebenso wenig zur tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung wie der Umstand, dass laut telefonischer Auskunft des Antragsgegners gegenüber dem Verwaltungsgericht vom 14. Februar 2023 noch kein neuer Flug gebucht worden sei und daher ein konkreter Abschiebetermin „derzeit“ nicht feststehe. Denn zum einen trägt der Antragsteller zur Begründung der Dringlichkeit seines Rechtsschutzbegehrens selbst eine bereits für den 19. April 2023 vorgesehene weitere Sammelabschiebung nach Pakistan vor, zum anderen wird durch den Antragsgegner in der Beschwerdeerwiderung bestätigt, dass die Abschiebung des Antragstellers weiterhin aktiv betrieben werde und nichts dafür ersichtlich sei, dass es insoweit zu (erheblichen) Verzögerungen kommen werde, die die Abschiebung auf nicht absehbare Zeit unmöglich machen würden. Dass der konkrete Termin der Abschiebung dem Antragsteller nicht angekündigt worden ist bzw. wird, entspricht im Übrigen der gesetzlichen Regelung des § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG.
8
Damit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass eine Abschiebung des Antragstellers zeitnah erfolgen kann und der zeitliche Rahmen, in dem diese Abschiebung stattfinden kann bzw. soll, nicht ungewiss und folglich eine Abschiebung auch nicht tatsächlich unmöglich ist.
9
Ist der Antragsteller entgegen dem Beschwerdevorbringen aber aufgrund fehlenden Rechtsanspruchs auf Erteilung einer Duldung nicht „geduldeter Ausländer“ im Sinne von § 104c AufenthG, kommt es auf die weiteren besonderen Erteilungsvoraussetzungen dieser Regelung nicht entscheidungserheblich an.
10
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
11
Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).