Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.04.2023 – 12 C 23.563
Titel:

Prozesskostenhilfe bei nachträglicher Geltendmachung von Unterkunftsgebühren oder -kosten gegenüber einem Flüchtling

Normenketten:
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
DVAsyl § 22, § 23
SGB II § 34
SGB XII § 103
SGB I § 53 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 166
ZPO § 114
Leitsätze:
1. Werden anerkannten mittellosen Flüchtlingen (nachträglich) Unterkunftsgebühren oder -kosten auferlegt, so muss im Lichte des Sozialstaatsgebots und der verfassungsrechtlichen Garantie der Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) gewährleistet sein, dass sie als zum Bezug von Leistungen nach dem SGB-II Berechtigte Befreiung über das Sozialleistungssystem erhalten (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 18). (Rn. 5)
2. Das deutsche Sozialleistungsrecht sieht eine (Rück-)Erstattung rechtmäßig gewährter Hilfen nur in Fällen „sozialwidrigen Verhaltens“ – §§ 34 Abs. 1 SGB II, § 103 Abs. 1 SGB XII – vor. Ein solches liegt in den Fällen der Inanspruchnahme einer das Existenzminimum sichernden Unterbringung durch anerkannte mittellose Flüchtlinge von vornherein fern (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 20). (Rn. 7)
3. Anerkannte mittellose Flüchtlinge im SGB-II Bezug können daher durch eine (nach¬trägliche) Festsetzung von Unterbringungsgebühren oder –kosten nicht in einer Art fortwährenden (persönlichen) „Nachhaftung“ für rechtmäßig in Anspruch genommene existenzsichernde Fürsorgeleistungen gehalten werden (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 22). (Rn. 9)
4. Anerkannte mittellose Flüchtlinge im SGB-II Bezug können sich deshalb gegenüber einer Gebühren- oder Kostenfestsetzung des Kostengläubigers auf die bereits von Amts wegen zu berücksichtigende rechtsvernichtende Einwendung der Existenzgefährdung berufen, indem sie ihre Forderung auf Übernahme der Kosten der Unterkunft gegen den zuständigen Sozialträger an Erfüllungs statt an den Kostengläubiger abtreten, wodurch die Gebühren- bzw. Kostenschuld erlischt (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 28). (Rn. 15)
5. Die (gegebenenfalls auch gerichtliche) Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem jeweiligen Sozialleistungsträger ist sodann alleinige Angelegenheit des Kostengläubigers (Bestätigung von BayVGH, B.v. 02.12.2020 – 12 C 20.32011 – juris, Rn. 33). (Rn. 23)
6. Scheitert – aus welchen Gründen auch immer – die Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem Sozialleistungsträger, so lebt das Schuldverhältnis des ursprünglichen Kostenschuldners mit dem Kostengläubiger – dem Freistaat Bayern – nicht von selbst wieder auf; die Abtretung ist „an Erfüllungs statt“ und nicht lediglich „erfüllungshalber“ erfolgt. Das Ausfallrisiko trägt allein der Kostengläubiger. (Rn. 23)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Unterbringung anerkannter mittelloser Flüchtlinge in (staatlichen) Unterkünften, Kostenfeststellung, Sozialstaatsprinzip und Gewährleistung des Existenzminimums, Ausschluss der Rückforderung rechtmäßig gewährter Sozialleistungen, Abtretung von Ansprüchen auf Erstattung von Kosten der Unterkunft an, Erfüllungs statt, Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1 GG), Unterkunftskosten, nachträgliche Geltendmachung, Flüchtling, mittellos, staatliche Unterkunft, Existenzminimum, Abtretung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Beschluss vom 09.03.2023 – W 7 K 22.14
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8713

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 9. März 2023 – W 7 K 22.14 – wird aufgehoben.
II. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz bewilligt und ein Rechtsanwalt seiner Wahl beigeordnet.

Gründe

1
Die zulässige Beschwerde, mit der der Kläger sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für seine gegen den Kostenfeststellungsbescheid des Beklagten vom 22. Dezember 2021 gerichtete Klage, betreffend (u.a.) den hier streitgegenständlichen Monat Dezember 2017, wendet, hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung mit Beschluss vom 9. März 2023 zu Unrecht versagt.
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1. Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe genügt bereits eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgs (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Mit Blick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten dürfen die Anforderungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten nicht überspannt werden, vor allem ist es unzulässig, schwierige Rechtsfragen, die in einer vertretbaren Weise auch anders beantwortet werden können, bereits in Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens abschließend im Prozesskostenhilfeverfahren zu erörtern und damit den Zugang zu den Gerichten zu versagen (vgl. BVerfG, B.v. 5.2.2003 – 1 BvR 1526/02 –, NJW 2003, 1857). Gleiches gilt, wenn der vom Kläger eingenommene Standpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung offensteht (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26). Ungeachtet dessen entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, Prozesskostenhilfe grundsätzlich dann zu bewilligen, wenn im jeweiligen Verfahren eine weitere Sachaufklärung oder gar eine Beweiserhebung in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 15 m.w.N.).
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2. a) Gemessen an diesem Maßstab kann der Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 9. März 2023 keinen Bestand haben. Dem Klagebegehren kann eine hinreichende Aussicht auf Erfolg nicht abgesprochen werden (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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Die Fürsorge für Hilfsbedürftige gehört zu den selbstverständlichen Verpflichtungen des Sozialstaats (vgl. BVerfGE 5, 85 [198]; 35, 202 [236]; 40, 121 [133]; 43, 13 [19]; 45, 376 [387]; 100, 271 [284]). Dem korrespondiert, abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG, das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 113, 88 [108 f.]; 125, 175 [222]; 132, 134 [159] Rn. 62; 152, 68 Rn. 118). Fehlen einem Menschen – wie hier dem Kläger – die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel, weil er sie weder aus eigener Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für dieses menschenwürdige Dasein zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 40, 121 [133 f.]; 125, 175 [222]; 152, 68 Rn. 120).
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Dazu gehörte vorliegend auch, dass der mittellose Kläger nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mit dem Ziel der Vermeidung von Obdachlosigkeit weiterhin kostenfrei in der dezentralen Unterkunft KVB-Weilheim verbleiben durfte. Der Beklagte ist insoweit zum Zwecke der Abwendung von Obdachlosigkeit mit einer Fürsorgeleistung in Vorlage getreten. Werden anerkannten mittellosen Flüchtlingen – wie hier – gleichwohl (nachträglich) Unterkunftsgebühren oder -kosten auferlegt, so muss im Lichte des Sozialstaatsgebots und der Garantie der Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) gewährleistet sein, dass sie als zum Bezug von Leistungen nach dem SGB-II Berechtigte Befreiung über das Sozialleistungssystem erhalten (vgl. bereits BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 17 f.).
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Der Senat hat in diesem Kontext bereits wiederholt entschieden, dass der Beklagte diesem Gesichtspunkt nicht allein dadurch Rechnung tragen kann, dass er für die Betroffenen im Wege der Geschäftsführung ohne Auftrag Anträge auf Kostenübernahme bei den Jobcentern (§§ 6d, 44b SGB II) stellt mit dem Ziel, dass „seine“ Unterkunftsgebühren als Kosten der Unterkunft (KdU) im Rahmen des SGB-II Bezuges (§ 22 SGB II) von dort getragen werden (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris, Rn. 104). Auch Stundung und zeitweilige Niederschlagung der Gebühren- oder Kostenforderungen erweisen sich nicht als taugliche Instrumente einer Verwirklichung der Anforderungen des Sozialstaatsgebots, denn beide lassen das Fortbestehen des Anspruchs unberührt (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris, Rn. 105; B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 19).
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Die mittellosen Betroffenen befänden sich dadurch weiterhin in einer fortwährenden „Schuldknechtschaft“ des Staates (vgl. hierzu bereits BayVGH, B.v. 16.5.2018 – 12 N 18.9 – juris, Rn. 105), obwohl das deutsche Sozialleistungsrecht eine (Rück-) Erstattung rechtmäßig gewährter Hilfen nur in Fällen „sozialwidrigen Verhaltens“ – §§ 34 Abs. 1 SGB II, § 103 Abs. 1 SGB XII – vorsieht. Ein solches indes liegt in den Fällen der Inanspruchnahme einer das Existenzminimum sichernden Unterbringung durch anerkannte mittellose Flüchtlinge von vornherein fern. Die Annahme eines aus der Sicht der Solidargemeinschaft zu missbilligenden Verhaltens (vgl. hierzu näher Klerks, in: Berlit/Conradis/Pattar, Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl. 2019, Kapitel 41, Rn. 3 ff.; Silbermann, in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl. 2017, § 34 Rn. 27; Bieback, in: Grube/Warendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 103 Rn. 9) würde jeder Grundlage entbehren (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 20).
8
Umso weniger kann es im Lichte des Sozialstaatsgebots und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) in Betracht kommen, anerkannte mittellose Flüchtlinge – noch dazu nachträglich – mit einer Gebühren- oder Kostenforderung für eine existenzsichernde Leistung zu überziehen, ohne dass zugleich sichergestellt wäre, dass die festgesetzten Gebühren bzw. Kosten auch tatsächlich (und nicht nur lediglich theoretisch) vom zuständigen Sozialleistungsträger übernommen werden (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 21). Der betroffene Personenkreis anerkannter mittelloser Flüchtlinge darf aufgrund der von Bund und Ländern gewählten Konstruktion der Finanzierung der Kosten der Unterbringung über staatliche (oder kommunale) Gebühren- bzw. Kostenfestsetzungen einerseits und eine nachfolgende Übernahme der Kosten durch die Sozialleistungsträger andererseits nicht schlechter stehen, als er stünde, wenn er die Unterkunft unmittelbar vom Beklagten im Rahmen eines privatrechtlichen Rechtsverhältnisses angemietet und vom zuständigen Sozialleistungsträger Übernahme dieser existenzsichernden Kosten durch unmittelbare Auszahlung des Mietzinses an den Beklagten (vgl. § 22 Abs. 7 Satz 1 SGB II) begehrt hätte (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 21).
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In diesem Fall wäre mangels Sozialwidrigkeit der zu Recht in Anspruch genommenen Leistungen eine Rückforderung nach §§ 34 SGB II, 103 SGB XII auch im Falle späterer Überwindung der Bedürftigkeit ausgeschlossen (vgl. statt aller Bieback, in: Grube/ Warendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 103 Rn. 9); ebenso wenig kann sie in dem von Bund und Ländern stattdessen gewählten Modell der Gebühren- bzw. Kostenerhebung mit nachfolgender Übernahme durch die jeweiligen Sozialleistungsträger in Betracht kommen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 22). Andernfalls würden beide Sachverhalte und Personengruppen ohne sachlich-rechtfertigenden Grund unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ungleich behandelt. Anerkannte mittellose leistungsunfähige Flüchtlinge im SGB-II Bezug können daher durch eine (nachträgliche) Festsetzung von Unterbringungsgebühren oder -kosten nicht in einer Art fortwährenden (persönlichen) „Nachhaftung“ für rechtmäßig in Anspruch genommene existenzsichernde Fürsorgeleistungen gehalten werden (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 22).
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Eine Verteilung der Kosten auf längere Zeiträume kommt nicht in Betracht. Gebührennachforderungen sind im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in dem Monat, in dem sie (nachträglich) konkret fällig gestellt werden als Bedarf zu berücksichtigen und anzuerkennen, soweit der Gebührentatbestand durch die frühere Nutzung der Unterkunft entstanden ist und der leistungsberechtigte Schuldner – wie regelmäßig – den davon abweichenden Zeitpunkt der Fälligkeit der Gebührenforderung nicht beeinflussen konnte (vgl. BSG, Urt. v. 19.05.2021 – B 14 AS 19/20 R – juris, Rn. 21 ff. u. Rn. 29 a.E.).
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Der seitens der Betroffenen regelmäßig zu Recht erhobene Einwand der Existenzgefährdung ist daher bereits als (potentiell) rechtsvernichtende Einwendung von Amts wegen im Rahmen der Kostenfestsetzung und -fälligstellung zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 23). Auch das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration hat insoweit bereits mit Schreiben vom 21. November 2017 (S. 2) an die betroffenen Gebührenschuldner wegweisend folgendes ausgeführt:
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„Eine finanzielle Überforderung der Gebührenschuldner, vor allem durch die sukzessive erfolgende Gebührenerhebung für vergangene Zeiträume (und damit hoher Gebührenschulden), ist unbedingt zu vermeiden.“
13
Dieses Schreiben vom 21. November 2017 ist als Anlage 2 Bestandteil des Rundschreibens des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration vom 23. November 2017 – I3/6074.04-1/391 – betreffend den Vollzug des SGB II – Bedarfe für Unterkunft und Heizung – Allgemeine Anspruchsvoraussetzungen, Leistungsbedingungen und Verfahrensfragen. Bei diesem Rundschreiben und dem ihm als Anlage 2 beigefügten Schreiben vom 21. November 2017 handelt es sich um Verwaltungsvorschriften, die als Ausdruck einer antizipierten Verwaltungspraxis über Art. 3 GG mittelbare rechtliche Außenwirkung entfalten (vgl. BVerwGE 104, 203 [223]; 118, 379 [383]; siehe auch Sachs, in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rn. 105 ff.). Beim Schreiben vom 21. November 2017 (Anlage 2) kommt aufgrund der ausdrücklichen Adressierung an die Gebührenschuldner zusätzlich der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes zum Tragen (vgl. BVerwGE 104, 203 [223]; 148, 48 [74] Rn. 55). Dem betroffenen Personenkreis ist im Wege der „Selbstbindung der Verwaltung“ ausdrücklich zugesichert worden, dass eine finanzielle Überforderung – insbesondere für vergangene Zeiträume – „unbedingt vermieden“ wird. An dieser Zusicherung muss sich der Beklagte festhalten lassen. Dass der behördenintern zuständige Fachbereich „Integration“ aufgrund einer späteren Änderung der Geschäftsverteilung der Bayerischen Staatsregierung nicht mehr im Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Soziales, sondern im Bayerischen Staatsministerium des Innern ressortiert, ist insoweit ohne Bedeutung. Die eingetretene Bindungswirkung und das in Anspruch genommene Vertrauen bleiben von internen Zuständigkeitswechseln unberührt (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 26).
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Ungeachtet dessen sind aufgrund des Sozialstaatsgebots und der verfassungsrechtlichen Garantie der Sicherung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) auch sachlich-rechtfertigende Gründe, die das inzwischen zuständige Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration in willkürfreier Weise berechtigen könnten (vgl. hierzu BVerwGE 104, 203 [223]), von der im Schreiben vom 21. November 2017 kundgetanen Verwaltungspraxis abzuweichen, nicht ersichtlich (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 27).
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Der Kläger kann sich daher auf die mit der Beschwerde erneut erhobene rechtsvernichtende Einwendung der Existenzgefährdung berufen. Der Beklagte hat diese aufgrund der im Schreiben vom 21. November 2017 eingegangenen Selbstbindung bereits von Amts wegen im Rahmen der Kostenfestsetzung und -fälligstellung zu berücksichtigen, indem er dem Kostenschuldner durch ein dem Festsetzungsbescheid beigefügtes Schreiben die ausdrückliche Befugnis einräumt, anstelle der geschuldeten Leistung – der Gebühren- bzw. Kostenforderung – eine andere Leistung – die Abtretung seiner Ansprüche gegenüber dem Sozialleistungsträger auf Übernahme der Kosten der Unterkunft – an Erfüllungs statt (vgl. zur Ersetzungsbefugnis und zur Leistung an Erfüllungs statt allgemein Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 262 Rn. 6 f. u. § 364 Rn. 1) zu erbringen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 28).
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Das Schuldverhältnis zwischen dem Kläger als Schuldner der Kostenforderung und dem Beklagten als Gläubiger der Unterkunftskosten erlischt dadurch bereits unmittelbar mit der Abtretung an Erfüllungs statt (vgl. Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 364 Rn. 1; Buck-Heeb, in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 364 Rn. 5), nachdem zuvor der Rechtsboden für das Entstehen der Forderung gegenüber dem Sozialleistungsträger durch entsprechende Antragstellung bestellt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 29). Dadurch wird dem Petitum des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration im Schreiben vom 21. November 2017 sowie der dadurch begründeten Selbstbindung unmittelbar Rechnung getragen und zugleich sichergestellt, dass der anerkannte mittellose Flüchtling im SGB-II Bezug nicht unter Verletzung des Sozialstaatsprinzips und des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) nachträglich mit Kosten belastet wird (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 29).
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Die Erfüllungswirkung der Abtretung an Erfüllungs statt ist als rechtsvernichtende Einwendung (vgl. hierzu allgemein Seiler, in: Thomas/Putzo, ZPO, 41. Aufl. 2020, Vorb. 253 Rn. 43) anlässlich der Geltendmachung der Kostenfestsetzung zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 29). Der Beklagte machte sich eines widerrechtlichen Verhaltens schuldig, wenn er dem anerkannten mittellosen Flüchtling im SGB-II Bezug nicht die Möglichkeit eröffnete, die aus der nachträglichen Kostenfestsetzung resultierende Forderung durch Abtretung der ihm gegen den Sozialleistungsträger zustehenden Ansprüche auf Übernahme der Kosten der Unterkunft zu befriedigen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 29). Für während der Unterbringung infolge Erwerbstätigkeit bereits teilweise leistungsfähige anerkannte Flüchtlinge gilt dies im Umfang der insoweit weiterhin fortbestehenden Leistungsunfähigkeit entsprechend (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 29).
18
Eine solche Abtretung von Sozialansprüchen ist gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 1 SGB I ausdrücklich zulässig. Nach dieser Vorschrift können Ansprüche auf Geldleistungen (Kosten der Unterkunft gegenüber dem Sozialleistungsträger) zur Erfüllung von Ansprüchen auf Erstattung von Aufwendungen (Kostenforderung des Beklagten für die bereits erfolgte Unterbringung) übertragen werden, sofern diese – wie hier – im Vorgriff auf fällig gewordene Sozialleistungen zu einer angemessenen Lebensführung (Vermeidung von Obdachlosigkeit) gewährt wurden (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 30). Das Ausfallrisiko geht damit entsprechend den Vorgaben des Sozialstaatsprinzips und der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) unmittelbar mit der Abtretung auf den Beklagten über (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 30), so wie es den Intentionen des Schreibens des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 23. November 2017 entspricht: „Eine finanzielle Überforderung der Gebührenschuldner, vor allem durch die sukzessive erfolgende Gebührenerhebung für vergangene Zeiträume (und damit hoher Gebührenschulden), ist unbedingt zu vermeiden.“ Auch § 23 Abs. 2 DVAsyl sieht inzwischen ausdrücklich vor, dass Gebühren und Auslagen (Kosten) nicht erhoben werden, soweit deren Erhebung – wie im vorliegenden Fall – unbillig wäre (vgl. im Übrigen auch bereits BayVGH, B.v. 2.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 32).
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Durch die Abtretung des Anspruchs der mittellosen Flüchtlinge gegenüber dem Sozialträger erhält der Beklagte, namentlich die Regierung von Unterfranken – Zentrale Gebührenabrechnungsstelle Bayern – in 9... M2., Gelegenheit, die Kostenforderung unmittelbar beim zuständigen Sozialleistungsträger geltend zu machen und sich gegebenenfalls mit diesem über die Angemessenheit der Forderung (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 1, 2. Hs. SGB II) aus abgetretenem Recht gerichtlich auseinanderzusetzen (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 33).
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Unter Zugrundelegung des Sozialstaatsprinzips, der verfassungsrechtlichen Garantie des Existenzminimums und der Handlungsanweisung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration vom 21. November 2017 – „eine finanzielle Überforderung der Gebührenschuldner, vor allem durch die sukzessive erfolgende Gebührenerhebung für vergangene Zeiträume (und damit hoher Gebührenschulden) ist unbedingt zu vermeiden“ – ist bei mittellosen anerkannten Flüchtlingen eine Befreiung von den festgesetzten Kosten Zug um Zug gegen die Abtretung der Forderung auf Übernahme der Kosten für die Unterkunft gegenüber dem zuständigen Sozialleistungsträger an Erfüllungs statt regelmäßig zwingend geboten (vgl. auch bereits BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 34).
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b) Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 23. Dezember 2022 (vgl. Bl. 321 d. Behördenakte) die Abtretung sämtlicher Ansprüche an Erfüllung statt erklärt hat, ist für eine weitere Rechtsverfolgung seitens des Beklagten auf der Grundlage der gegen den Kläger erlassenen Bescheide keinerlei Raum mehr. Das Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger als Schuldner der Kostenforderung und dem Beklagten als Gläubiger der Unterkunftskosten erlischt bereits unmittelbar mit der Abtretung an Erfüllung statt (vgl. Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 364 Rn. 1; Buck-Heeb, in: Erman, BGB, 16. Aufl.2020, § 364 Rn. 5), nachdem zuvor der Rechtsboden für das Entstehen der Forderung gegenüber dem Sozialleistungsträger durch entsprechende Antragstellung bestellt wurde (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 29).
22
Da der Beklagte jedoch gleichwohl – widerrechtlich – an seiner Forderung gegenüber dem Kläger festhält und sich deren Existenz trotz Erlöschen des Schuldverhältnisses auch weiterhin berühmt (vgl. Klageerwiderung vom 20.02.2023, Bl. 31 ff. d. VG-Akte), ist dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung (§ 121 Abs. 2 ZPO) zu bewilligen. Er kann die Kosten der Prozessführung als Empfänger von SGB-II Leistungen nicht aufbringen. Auf seinen, im Wege der Klageänderung als sachdienlich anzusehenden Antrag hin, wird das Verwaltungsgericht feststellen, dass das Schuldverhältnis durch Abtretung an Erfüllung statt erloschen ist, sofern der Beklagte nicht unverzüglich einen (deklaratorischen) Forderungsverzicht (§ 397 BGB) erklärt und einer für diesen Fall zu erwartenden verfahrensbeendenden Erklärung des Klägers vorab zustimmt.
23
Die weitere (gegebenenfalls auch gerichtliche) Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem jeweiligen Sozialleistungsträger ist alleinige Angelegenheit des Kostengläubigers – des Freistaats Bayern (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 33). Ein etwaiges Scheitern der Durchsetzung der abgetretenen Ansprüche gegenüber dem Sozialleistungsträger führt entgegen der Annahme des Beklagten nicht dazu, dass der Anspruch gegen den Kläger von selbst wiederaufleben würde (vgl. Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 365 Rn. 2; Fetzer, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2012, § 365 Rn. 3). Mit der Abtretung etwaiger Ansprüche gegen den Sozialleistungsträger ist das Schuldverhältnis endgültig erloschen; ein automatisches Wiederaufleben im Falle fehlender Durchsetzbarkeit kommt nicht in Betracht. Die Abtretung ist „an Erfüllung statt“ und nicht lediglich „erfüllungshalber“ erfolgt (vgl. zu dieser Unterscheidung Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 364 Rn. 5 u. 7; siehe auch Kern, in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2022, Das Erlöschen der Schuldverhältnisse, J 31 ff.). Das Ausfallrisiko seiner Forderungen trägt allein der Freistaat Bayern (vgl. BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 30). Der Schuldner haftet bei einer Leistung an Erfüllungs statt nicht für die Bonität der abgetretenen Forderung (vgl. Fetzer, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2012, § 365 Rn. 3 a.E.).
24
Die vom Beklagten auf der Grundlage der Entscheidung des Senats vom 2. November 2020 – 12 C 20.23011 – vorgegebene Formulierung in der Abtretungserklärung vom 23. Dezember 2022 (Bl. 321 der Behördenakte)
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„Die Abtretung erfolgt an Erfüllungs statt, sodass die Erstattungs-/Gebührenforderung des Freistaats Bayern in der abgetretenen Höhe erlischt.“
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ist eindeutig. Der gleichwohl angefügte Zusatz
27
„Dies setzt allerdings voraus, dass gegenüber dem zuständigen Jobcenter/Sozialamt ein entsprechender Anspruch besteht und die Abtretung gemäß § 53 Abs. 2 Nr. 1 SGB I zulässig ist. Es ist mir folglich bekannt, dass ich andernfalls zur vollständigen Zahlung der o.g. Gebühren bzw. Unterkunftskosten verpflichtet bleibe.“
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entbehrt jeder rechtlichen Relevanz. Er stünde zur Abtretung „an Erfüllungs statt“ in einem unauflösbaren (diametralen) Widerspruch und würde geradewegs das Gegenteil des Vereinbarten – eine Abtretung lediglich „erfüllungshalber“ – bedeuten. Es handelt sich insoweit, wenn nicht um das „Werk“ eines Rechtsunkundigen, so doch zumindest um eine höchst missverständliche Formulierung, der eine weitere Bedeutung nicht beizumessen ist. Der anerkannte mittellose Flüchtling kann dem Kostengläubiger selbst im Falle eines Rechtsmangels (vgl. § 365 BGB) nicht mehr geben, als er selbst besitzt – die an Erfüllungs statt abgetretene Forderung gegenüber dem Sozialleistungsträger.
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Anerkannte mittellose leistungsunfähige Flüchtlinge im SGB-II Bezug können – wie bereits dargelegt – durch eine (nachträgliche) Festsetzung von Unterbringungsgebühren oder -kosten nicht in einer Art fortwährenden (persönlichen) „Nachhaftung“ für rechtmäßig in Anspruch genommene existenzsichernde Fürsorgeleistungen gehalten werden (vgl. bereits BayVGH, B.v. 02.11.2020 – 12 C 20.23011 – juris, Rn. 22). Eine Verteilung der Kosten auf längere Zeiträume kommt nicht in Betracht. Gebührennachforderungen sind im Rahmen des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II in dem Monat, in dem sie konkret fällig gestellt werden als Bedarf zu berücksichtigen, soweit der Gebührentatbestand durch die frühere Nutzung der Unterkunft entstanden ist und der leistungsberechtigte Schuldner – wie regelmäßig – den davon abweichenden Zeitpunkt der Fälligkeit der Gebührenforderung nicht beeinflussen konnte (vgl. BSG, Urt. v. 19.05.2021 – B 14 AS 19/20 R – juris, Rn. 21 ff. u. Rn. 29 a.E.).
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Mit der Abtretung der Ansprüche anerkannter mittelloser leistungsunfähiger Flüchtlinge im SGB-II Bezug gegen den Sozialleistungsträger (Jobcenter) ist das Kosten- und Gebührenschuldverhältnis gegenüber dem Freistaat als Kostengläubiger endgültig erloschen (vgl. Buck-Heeb, in: Erman, BGB, 16. Aufl. 2020, § 364 Rn. 5; Kern, in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2022, Das Erlöschen der Schuldverhältnisse, J 33).
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Da sich der Beklagte trotz Abtretung an Erfüllungs statt gleichwohl des Fortbestehens des Gebührenschuldverhältnisses berühmt, ist dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen.
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3. Einer Kostenentscheidung bedarf es vorliegend nicht, da das Verfahren gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei ist (vgl. BayVGH, B.v. 14.03.2022 – 12 C 22.170 – juris, Rn. 10) und Kosten im Beschwerdeverfahren nach § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
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4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).