Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 18.04.2023 – 3 U 3704/22
Titel:

Keine Haftung des Automobilherstellers gemäß § 823 Abs. 2 BGB wegen Verwendung eines Thermofensters

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826, § 831
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Wenn das Kraftfahrtbundesamt als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des "Thermofensters" ausgeht, kann dem Hersteller keine andere Einschätzung abverlangt werden, sodass ihm  nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorgeworfen werden kann. (Rn. 9 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zwar kann derjenige, der durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht worden ist, den er sonst nicht geschlossen hätte, auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung dadurch einen Vermögensschaden erleiden, dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist. Die Bejahung eines Vermögensschadens unter diesem Aspekt setzt allerdings voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EA 288, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung, fahrlässiges Verhalten, Schaden
Vorinstanz:
LG Traunstein, Endurteil vom 31.05.2022 – 1 O 264/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8581

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 31.05.2022, Az. 1 O 264/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 31.05.2023.
3. Binnen gleicher Frist besteht Gelegenheit zur Stellungnahme zum Berufungsstreitwert, den der Senat auf € 18.721,20 festzusetzen gedenkt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz um Schadensersatzansprüche nach einem Fahrzeugkauf im Zusammenhang mit dem sogenannten „Dieselskandal“.
2
Der Kläger erwarb am 14.02.2019 einen Pkw VW Golf als Gebrauchtwagen zum Preis von 24.000,00 Euro. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe EA288 ausgestattet.
3
Die Abgasrückführungsrate (AGR-Rate) wird beim streitgegenständlichen Motortyp abhängig von der Außentemperatur („Thermofenster“) und vom Drehzahl- bzw. Lastbereich gesteuert. In der Motorsteuerungssoftware des streitgegenständlichen Fahrzeugs ist eine Fahrkurvenkennung hinterlegt. Über diese informierte die Beklagte das Kraftfahrt-Bundesamt (nachfolgend: KBA) im Oktober 2015 nach Bekanntwerden der Problematik beim Motortyp EA 189. Mittels „Applikationsrichtlinie EA288“ von November 2015, dem KBA gegenüber erläutert im Dezember 2015, regelte die Beklagte intern, wie mit der Fahrkurvenerkennung künftig umzugehen sei. Für das streitgegenständliche Fahrzeug gab und gibt es weder einen Rückruf noch ein verpflichtendes Software-Update.
4
Die Klagepartei behauptet das Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen und begehrt Schadensersatz aufgrund des ihrer Ansicht nach für sie nachteiligen Kaufvertragsschlusses.
5
Das Landgericht hat die Klage durch Endurteil abgewiesen. Mit ihrer Berufung verfolgt die Klagepartei ihr erstinstanzliches Klageziel weiter.
II.
6
Die Voraussetzungen für die Zurückweisung nach § 522 Abs. 2 ZPO sind gegeben, weil das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordern, eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
7
Das Endurteil des Landgerichts begegnet aus Sicht des Senats keinen rechtlichen Bedenken. Ein Schadensersatzanspruch scheitert mangels Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen der in Frage kommenden deliktischen Anspruchsgrundlagen, darüber hinaus fehlt es an einem Schaden. Dazu im Einzelnen:
8
1. Der Klagepartei steht – auch im Lichte der EuGH-Entscheidung vom 21.03.2023, Az. C-100/21 – kein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB zu. Der Senat schließt sich insoweit den Ausführungen des OLG Bamberg im Hinweisbeschluss vom 28.02.2023 – 7 U 33/22 an.
9
Selbst wenn man davon ausgeht, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. September 2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 385/2009 der Kommission vom 7. Mai 2009 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers schützen (so EuGH, Urteil vom 21.03.2023, Az. C 100/21), scheidet ein Schadensersatzanspruch der Klagepartei aus, weil der Beklagten nicht einmal fahrlässiges Verhalten vorgeworfen werden kann.
a) Thermofenster
10
Dem Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission „Volkswagen“ vom April 2016 ist zu entnehmen, dass im dort genannten Zeitraum Thermofenster von allen Autoherstellern verwendet und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet wurden. Nach Einschätzung der Untersuchungskommission handelt es sich bei der Verwendung eines Thermofensters angesichts der Unschärfe der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO (EG) Nr. 715/2007, wonach zum Schutz des Motors vor Beschädigungen und zur Gewährleistung eines sicheren Fahrzeugbetriebs notwendige Abschalteinrichtungen zulässig sind, um keine eindeutigen Gesetzesverstöße, sofern ohne die Verwendung des Thermofensters dem Motor Schaden drohe und „sei dieser auch noch so klein“ (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen, Stand April 2016, S. 123).
11
Nach der Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19.07.2008 (Mitteilung über die Anwendung und die künftige Entwicklung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften über Emissionen von Fahrzeugen für den Leichtverkehr und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen (Euro 5 und Euro 6), 2008/C 182/08) waren trotz der erhöhten NOx-Emissionen bei niedrigen Temperaturen keine Messungen vorgesehen. Die Hersteller waren auch nicht verpflichtet, Informationen über das Emissionsverhalten von Dieselfahrzeugen bei niedrigen Temperaturen zur Verfügung zu stellen (dort Ziffer 7). Das Vorhandensein eines Thermofensters war also dem KBA als Typgenehmigungsbehörde bekannt, wenngleich es keine Beschreibung über die exakte Wirkungsweise mangels entsprechender Verpflichtung erhalten hat. Unter diesen Umständen durfte sich die Beklagte grundsätzlich darauf verlassen, dass das KBA im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens aufgrund des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG eine Ergänzung verlangen würde, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit des Thermofensters in dem betreffenden Fahrzeug zu prüfen. Anderenfalls durfte sich die Beklagte auf die Prüfungskompetenz des KBA als Genehmigungsbehörde verlassen und ohne Verschulden von der Zulässigkeit ihres Vorgehens ausgehen.
12
Wenn also das KBA als zuständige Typgenehmigungsbehörde nach eigener Prüfung selbst von der Zulässigkeit des „Thermofensters“ ausgeht, kann der Beklagten keine andere Einschätzung abverlangt werden.
b) Fahrkurvenerkennung
13
Der Beklagtenpartei ist auch im Hinblick auf die vorgetragene Fahrkurvenerkennung – unabhängig von der Frage der zeitlichen Anwendbarkeit aufgrund der Applikationsrichtlinie – keine Fahrlässigkeit vorzuwerfen, es fehlt insoweit bereits an der Grenzwertkausalität. Wie von der Klagepartei selbst vorgetragen und dem Senat aufgrund der in zahllosen Parallelverfahren erfolgten Auskünfte des KBA bekannt, hatte das KBA seit Ende 2015 von der Fahrkurvenerkennung Kenntnis und hat das KBA seitdem unstreitig eine Vielzahl unterschiedlicher, mit diesem Motor ausgestatteter Fahrzeugtypen einer Überprüfung unterzogen, ohne dass die Verwendung dieser Steuerung als unzulässige Abschalteinrichtung eingestuft wurde. Hintergrund für die Einrichtung einer Fahrkurvenerkennung durch die Beklagte war laut Auskunft des KBA, dass aufgrund dieser für die Erteilung der Typgenehmigung weniger Prüfzyklen durchlaufen werden mussten. Die Abgasgrenzwerte wurden aber auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten. Es fehlt somit hinsichtlich der Fahrkurvenerkennung an jeglicher Grenzwertkausalität. Es ist fernliegend, dass das Kraftfahrtbundesamt im Rahmen der zahlreichen Überprüfungen die von der Klagepartei behaupteten Wirkungen der Fahrkurvenerkennung und der dynamischen Steuerung der AdBlue-Dosierung auf die Fahrzeugemissionen übersehen und somit unberücksichtigt gelassen haben könnte (vgl. auch: OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 17.03.2022 – 8 U 245/21, bestätigt durch BGH, Beschluss vom 23.01.2023 – Vla ZR 724/22).
14
2. Unabhängig von den obigen Ausführungen kann die Berufung darüber hinaus bereits deswegen keinen Erfolg haben, weil der Klagepartei kein Schaden entstanden ist. Auch vor diesem Hintergrund kommt es auf die Ausführungen des EuGH im Urteil vom 21.03.2023, Az. C-100/21 nicht an. Dies hat der BGH jüngst im Rahmen zweier Nichtzulassungsbeschwerden ebenfalls betreffend einen Motor des Typs EA 288 nochmals bestätigt (vgl. BGH, Beschluss vom 23.01.2023 – VIa ZR 724/22 und BGH, Beschluss vom 30.01.2023 VIa ZR 663/22). Aus ebendiesem Grund ist auch die beantragte Aussetzung des Verfahrens abzulehnen.
15
Zwar kann nach der Rechtsprechung des BGH derjenige, der durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht worden ist, den er sonst nicht geschlossen hätte, auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung dadurch einen Vermögensschaden erleiden, dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist. Die Bejahung eines Vermögensschadens unter diesem Aspekt setzt allerdings voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht (BGH, Urteil vom 25.05.2020 – ZR 252/19, NJW 2020, 1962).
16
Dabei kann aus der allgemeinen Lebenserfahrung und der Art des zu beurteilenden Geschäfts der Erfahrungssatz abgeleitet werden, dass kein Käufer ein Fahrzeug erwirbt, dem eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung droht und bei dem im Zeitpunkt des Erwerbs in keiner Weise absehbar ist, ob dieses Problem behoben werden kann, sodass davon auszugehen sein kann, dass ein solcher Käufer in Kenntnis der illegalen Abschalteinrichtung den Kaufvertrag nicht abgeschlossen hätte (vgl. BGH, a.a.O.).
17
Dieser Erfahrungssatz fußt auf der ex post erkannten und dann ex ante zugrunde gelegten Annahme, die im Fahrzeug enthaltene Abschalteinrichtung trage das konkrete Potential in sich, zu einer Betriebsbeschränkung bzw. Betriebsuntersagung zu führen. In den Fällen des Motors EA 189 leitet sich diese Annahme aus dem Wissen eines späteren Rückrufs sämtlicher Fahrzeuge durch das KBA mit nachfolgendem Versuch der Beklagten ab, eine Stilllegung der Fahrzeuge durch Updates zu verhindern.
18
Im vorliegenden Fall besteht ein solcher Erfahrungssatz schon deshalb nicht, weil dem klägerischen Fahrzeug zu keinem Zeitpunkt eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung drohte. Das KBA hat bislang keinerlei Regelungen getroffen, die Einfluss auf die Nutzbarkeit des Fahrzeugs im öffentlichen Straßenraum gehabt hätten. Die Klagepartei konnte das Fahrzeug uneingeschränkt nutzen (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.).
19
Für die Klagepartei hat damit bei verständiger Würdigung gerade keine Situation bestanden, welche den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig erscheinen ließe (so im Ergebnis OLG München, Urteil vom 14.04.2021 – 15 U 3584/20; OLG Schleswig, Urteil vom 13.08.2021 – 17 U 9/21). Vor diesem Hintergrund vermag der Senat einen Schaden der Klagepartei auch aus der zugrunde zu legenden ex-ante-Betrachtung nicht zu erkennen.
20
3. Mangels Fahrlässigkeit und mangels Schadens kommt auch eine Haftung aus anderen deliktischen Anspruchsgrundlagen nicht in Betracht.
III.
21
1. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (vgl. § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 ZPO) liegen nicht vor.
22
2. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).