Inhalt

OLG Nürnberg, Beschluss v. 25.04.2023 – 17 U 1673/22
Titel:

Keine Ansprüche gegen Audi wegen des dort entwickelten, hergestellten und eingebauten 3,0-Liter-Motors (hier: Audi A6)

Normenketten:
BGB § 31, § 276, § 823 Abs. 2, § 826
ZPO § 148, § 522 Abs. 2
Typgenehmigungsverfahrens-RL Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
Fahrzeugemissionen-VO Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Vgl. zu 3,0 Liter-Motoren von Audi mit unterschiedlichen Ergebnissen auch: BGH BeckRS 2021, 37683; BeckRS 2022, 21374; KG BeckRS 2023, 2608; OLG Brandenburg BeckRS 2022, 32170; OLG Braunschweig BeckRS 2022, 28824; BeckRS 2022, 27100; OLG Nürnberg BeckRS 2023, 5896; BeckRS 2023, 5895; OLG München BeckRS 2022, 43580; BeckRS 2023, 7833; BeckRS 2022, 36080 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2022, 28703 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) sowie OLG Brandenburg BeckRS 2021, 52227 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit einer Haftung der Herstellerin in Form der (Rück-)Abwicklung eines ungewollt abgeschlossenen Kaufvertrages würde der Käufer sein wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht durchsetzen, das weder durch Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 RL 2007/46/EG noch durch Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 oder §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV geschützt ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Rechtsirrtum ist auch bei Anlegung des erforderlichen strengen Maßstabes dann ausnahmsweise unvermeidbar, wenn der Schuldner nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte, wofür ausreicht, dass die zuständige Aufsichtsbehörde die Rechtsfrage zugunsten des Handelnden beantwortet hätte. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es fehlt hinsichtlich jeglicher deliktischen Ansprüche an einem normativen Schaden, wenn nicht einmal abstrakt das Risiko einer Nichtbenutzbarkeit des Fahrzeugs bestand, da weder ein Widerruf der Typgenehmigung noch eine Stilllegung des Fahrzeugs drohte. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Audi AG, 3.0 l V6 Dieselmotor, EA 896Gen2, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Fahrlässigkeit, wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht, Rechtsirrtum, Risiko der Stilllegung
Vorinstanz:
LG Amberg, Urteil vom 18.05.2022 – 11 O 1270/21
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8575

Tenor

1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Amberg vom 18.05.2022, Aktenzeichen 11 O 1270/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Amberg ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Klagepartei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 21.249,41 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klagepartei nimmt die Beklagte hinsichtlich eines von ihr von einem nicht am Rechtsstreit beteiligten Dritten am 22.06.2015 als Gebrauchtwagen erworbenen Pkw Audi A6, 150 kW (Erstzulassung 05.12.2011) in Anspruch. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten entwickelten und hergestellten 3,0 l-V6-Dieselmotor des Typs EA 896Gen2 ausgestattet. Für das Fahrzeug wurde eine EG-Typengenehmigung für die Emissionsklasse 5 ausgestellt. Das streitgegenständliche Fahrzeug ist nicht von einem Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt (KBA) im Hinblick auf eine unzulässige Abschalteinrichtung betroffen.
2
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Amberg vom 17.05.2022 Bezug genommen.
3
Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 30.950,00 € Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs nebst Zinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung gerichtete Klage als unbegründet abgewiesen.
4
Hinsichtlich der Antragstellung erster Instanz wird auf den Tatbestand und hinsichtlich der Begründung des Ersturteils auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie auf die zusammenfassende Darstellung unter Ziffer I. des Hinweises des Senats vom 14.03.2023 Bezug genommen.
5
Die Klagepartei verfolgt ihre erstinstanzlich geltend gemachten Ansprüche im Wege der Berufung weiter. Hinsichtlich des Berufungsvorbringens wird auf die Berufungsbegründung vom 18.08.2022 sowie auf die zusammenfassende Darstellung unter Ziffer I. des Hinweises des Senats vom 14.03.2023 Bezug genommen.
6
Im Berufungsverfahren beantragt die Klagepartei:
Auf die Berufung der Klagepartei wird das Urteil des Landgerichts Amberg vom 18.05.2022 wie folgt abgeändert:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerpartei 30.950,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit abzüglich einer in der mündlichen Verhandlung zu beziffernde Nutzungsentschädigung Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeuges Audi, Typ A6 mit der Fahrgestellnummer zu zahlen;
Hilfsweise
2. Das Urteil des Landgerichts Amberg vom 18.05.2022, Az.: 11 O 1270/21 aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme an das Landgericht München II zurückzuverweisen; Hilfsweise
3. Die Revision zuzulassen.
7
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
8
Wegen der Berufungserwiderung der Beklagten wird auf deren Schriftsatz vom 25.10.2022 Bezug genommen.
9
Der Senat hat mit Hinweis vom 14.03.2023 begründet, warum er beabsichtigt, die Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen und Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu gegeben.
10
Eine Gegenerklärung der Klagepartei ist fristgemäß mit Schriftsatz vom 13.04.2023 eingegangen.
II.
11
Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Amberg vom 18.05.2022, Aktenzeichen 11 O 1270/21, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
12
Zur Begründung wird zunächst auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats Bezug genommen.
13
Auch die Ausführungen in der Gegenerklärung der Klagepartei vom 13.04.2023 geben zu einer Änderung keinen Anlass.
14
Es bleibt dabei, dass eine Haftung der Beklagten nicht in Betracht kommt. Zu den in der Gegenerklärung vorgebrachten rechtlichen Erwägungen sind folgende ergänzenden Ausführungen veranlasst.
15
1. Der Klagepartei steht, wie das Landgericht richtig erkannt hat, gegen die Beklagte kein Anspruch aus §§ 826, 31 BGB unter dem Gesichtspunkt einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung zu. Der klägerische Sachvortrag enthält keine ausreichenden greifbaren Anhaltspunkte für den objektiven Tatbestand der Sittenwidrigkeit und den erforderlichen Schädigungsvorsatz der Beklagten.
16
Insoweit nimmt der Senat auf die Begründung des Hinweises vom 14.03.2023 Bezug, da die Gegenerklärung sich hierzu nicht verhält.
17
2. Die Beklagte haftet auch nicht gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV oder den Normen der RL 2007/46/EG und der Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
18
a) Weder Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Rahmenrichtlinie in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 noch §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV dienen dem Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts des einzelnen Fahrzeugerwerbers.
19
Der Bundesgerichtshof hat wiederholt festgehalten, dass das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, mithin die allgemeine Handlungsfreiheit und speziell das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Käufer nicht im Schutzbereich dieser Bestimmungen liegt (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19 = BGHZ 225, 316 – juris, Rn. 76; BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20 = NJW 2020, 2798 – juris, Rn. 11; BGH, Beschluss vom 01.09.2021, Az. VI ZR 59/21 – juris, Rn. 3; BGH, Urteil vom 16.09.2021, Az. VII ZR 190/20 = NJW 2021, 3721 – juris, Rn. 36; BGH, Beschluss vom 12.01.2022, Az. VII ZR 391/21 – juris, Rn. 18; BGH, Beschluss vom 10.02.2022, Az. III ZR 87/21 = MDR 2022, 700 – juris, Rn. 14).
20
Das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 21.03.2023 in der Rechtssache C-100/21 veranlasst keine von dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs abweichende rechtliche Beurteilung. Hatte schon Generalanwalt Rantos mit seinen Schlussanträgen vom 02.06.2022 nicht behauptet, dass die europarechtlichen Normen konkret die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Fahrzeugerwerber vor unerwünschten Kaufverträgen schützen, ist dies auch dem Urteil des EuGH vom 21.03.2023 nicht zu entnehmen.
21
Nach der Entscheidung des EuGH sind die in Rede stehenden europarechtlichen Vorschriften dahin auszulegen, dass sie neben allgemeinen Rechtsgütern, insbesondere einem hohen Umweltschutzniveau, die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützen, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist. Der EuGH begründet dies im Wesentlichen damit, dass die nach Erteilung der EG-Typgenehmigung entdeckte Unzulässigkeit einer Abschalteinrichtung, mit der ein Fahrzeug ausgerüstet ist, die Gültigkeit dieser Genehmigung und daran anschließend die der eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Automobilhersteller und dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs herstellende Übereinstimmungsbescheinigung in Frage stellen könne, wobei letztere insbesondere ermögliche, den Käufer davor zu schützen, dass der Hersteller seine Pflicht, im Einklang mit Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 auf den Markt zu bringen, nicht einhält. Mithin habe ein individueller Käufer eines Kraftfahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch darauf, dass dieses Fahrzeug nicht mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne dieser Bestimmung ausgestattet ist. Daran anknüpfend stellt der EuGH sodann fest, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz hat, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung bzw. im Zusammenhang mit deren Einbau tatsächlich ein Schaden entstanden ist, vorausgesetzt, dass dieser Ersatz in einem angemessenen Verhältnis zum entstandenen Schaden steht (vgl. EuGH, Urteil vom 21.03.2023, Az. C-100/21, Rn. 71, 82, 84, 85, 88, 89, 91, 95 und 96).
22
Jedenfalls eine Verletzung seines Interesses im vorgenannten Sinne macht die Klagepartei jedoch gerade nicht geltend. Vielmehr beruft sich die Klagepartei als verletztes Schutzgut auf ihr wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht und erhebt den Vorwurf, von der Beklagten zu der Übernahme einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst worden zu sein. Dementsprechend verlangt die Klagepartei von der Beklagten die (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrages durch Erstattung des von ihm an den Verkäufer entrichteten Kaufpreises (unter Anrechnung des erlangten Nutzungsvorteils) Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs. Mit einer Haftung der Beklagten in Form der (Rück-)Abwicklung eines ungewollt abgeschlossenen Kaufvertrages würde die Klagepartei ihr wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht durchsetzen, das durch die in Rede stehenden europarechtlichen Vorschriften unverändert nicht geschützt ist (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az. VI ZR 252/19 = BGHZ 225, 316 – juris, Rn. 76; BGH, Beschluss vom 10.02.2022, Az. ZR 87/21 = MDR 2022, 700 – juris, Rn. 13 und 14; BGH, Urteil vom 30.07.2020, Az. VI ZR 5/20 = NJW 2020, 2798 – juris, Rn. 11 und 15; sowie OLG Hamm, Beschluss vom 23.03.2023, Az. 7 U 113/22 = BeckRS 2023, 4904 – beck-online, Rn. 20 ff; OLG München, Beschluss vom 31.03.2023, Az. 27 U 6731/22 = BeckRS 2023, 6956 – beck-online, Rn.23 ff.).
23
Im Ergebnis kommt dem zwischenzeitlich ergangenen Urteil des EuGH vom 21.03.2023 somit auch keine Entscheidungserheblichkeit für den vorliegenden Fall zu. Wenngleich einzig die nationalen Gerichte zur Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts berufen sind, während der EuGH im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV nur die Zwecksetzung und Schutzrichtung einer unionsrechtlichen Norm bindend ermitteln kann (vgl. OLG München, Urteil vom 05.09.2022, Az. 28 U 1587/22 = BeckRS 2022, 23404 – beck-online, Rn. 29), besteht mangels Entscheidungserheblichkeit für den Senat vorliegend auch kein Anlass zur Prüfung, ob ausgehend von dem durch den EuGH angenommenen Schutz auch von Einzelinteressen durch die Bestimmungen der RL 2007/46/EG in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 den betreffenden EU-Vorschriften Schutzgesetzcharakter nach inländischem Recht und mit welcher Reichweite jenseits des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zuzuschreiben sein könnte, mithin ob sie insoweit gegebenenfalls unter das Konzept einer drittschützenden Norm im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB zu subsumieren wären (vgl. Grüneberg/Sprau, 82. Aufl. 2023, § 823 BGB, Rdnr. 56 bis 59).
24
b) Im Übrigen kann der Beklagten ein Verschulden i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB auch entgegen der Gegenerklärung nicht in Form der Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden.
25
Unterstellt, Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46/EG stellten Schutzgesetze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB dar und das im streitgegenständlichen Fahrzeug implementierte Thermofenster wäre eine unzulässige Abschalteinrichtung gemäß Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007, ist Verschulden Anspruchsvoraussetzung, § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB.
26
Eine Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB setzt ein fahrlässiges Verhalten auf Seiten der Beklagten voraus, d.h. eine Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. BGB). Fahrlässigkeit setzt aber die Erkennbarkeit der sich aus dem jeweiligen Normkontext ergebenden haftungsbegründenden Umstände voraus (BeckOK-Schaub, BGB, Stand: 01.12.2022, § 276 Rn 60; MüKo-Grundmann, BGB, 9. Aufl. 2022, § 276 Rn 68). Mindestens wäre erforderlich, dass bei gehöriger Sorgfalt der mögliche Eintritt des schädigenden Erfolgs hätte vorausgesehen und verhindert werden können (Grüneberg-Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, § 276 Rn 13). Für die bei der Beklagten Handelnden müsste somit bei dem Einsatz und der Programmierung des streitgegenständlichen Thermofensters erkennbar gewesen sein, dass das konkrete Thermofenster nicht gesetzeskonform gewesen wäre.
27
Ein Rechtsirrtum des Handelnden schließt Fahrlässigkeit nur bei Unvermeidbarkeit aus. Ein Rechtsirrtum ist jedoch auch bei Anlegung des erforderlichen strengen Maßstabes dann ausnahmsweise unvermeidbar, wenn der Schuldner nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage mit einer anderen Beurteilung durch die Gerichte nicht zu rechnen brauchte. Dafür genügt es, dass die zuständige Aufsichtsbehörde die Rechtsfrage zugunsten des Handelnden beantwortet hätte (BGH 27.06.2017 – VI ZR 424/16 – juris, Rn. 16f.; 27.09.1989 – IVa ZR 156/88 juris, Rn. 8 –; 17.12.1969 -VIII ZR 10/68 – juris Rn. 9; OLG Hamm 24.06.2022 – 30 U 90/21 – juris, Rn. 66-74).
28
Mit der amtlichen Auskunft vom 11.09.2020 aus einem Parallelverfahren vor dem OLG Stuttgart (Anlage B1) bestätigt das KBA, mithin die zuständige Typgenehmigungsbehörde, dass die Problematik von umgebungsluftgesteuerten Regelungen (sogenannte Thermofenster) jedenfalls seit 2008 bekannt ist und deren Notwendigkeit aus Gründen des Motorschutzes im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchstabe a der Verordnung (EG) 715/2007 belegt sei. Eine genaue Beschreibung der Emissionsstrategien, auch im Hinblick auf die Abgasrückführung, wurde erst ab 16.05.2016 mit der Verordnung (EU) 2016/646 eingeführt. Als die Beklagte das streitgegenständliche Fahrzeug in Verkehr brachte, war die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wonach eine solche Vorrichtung eine unzulässige Abschaltvorrichtung im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 darstellt (vgl. EuGH, Urt. v. 17.12.2020, C-398/18 = BeckRS 2020, 35477 Rn. 109 ff.), noch nicht ergangen. Demnach hätte eine Erkundigung der Beklagten beim KBA zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Fahrzeugs und selbst noch zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags die Auskunft erbracht, dass das Thermofenster nicht unzulässig sei. Das KBA hat dieses nicht beanstandet, obwohl der Behörde das Vorhandensein und die grundsätzliche Funktionsweise des Thermofensters seit Jahren bekannt ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 13.01.2023 – 7 U 113/22, BeckRS 2023, 4907, Rn.58; OLG Bamberg, Hinweisbeschluss v. 28.3.2023 – 7 U 33/22, BeckRS 2023, 5900 Rn. 45-47, beck-online; OLG Zweibrücken Hinweisbeschluss v. 28.3.2023 – 7 U 95/22, BeckRS 2023, 5903 Rn. 20, beck-online; LG München I Endurteil v. 30.3.2023 – 31 S 16727/21, BeckRS 2023, 6034 Rn. 24 – 27, beck-online).
29
Dem von der Klagepartei zitierten Urteil des BGH vom 16.09.2021 (VII ZR 190/20) ist entgegen den Ausführungen der Gegenerklärung gerade nicht zu entnehmen, dass der BGH bei der Implementierung des Thermofensters fahrlässiges Verhalten der Beklagten annimmt. Die zitierte Randnummer 32 setzt sich lediglich mit dem für § 826 BGB erforderlichen Schädigungsvorsatz auseinander und grenzt diesen von einem fahrlässigen Verhalten ab, ohne dies zu für den dort streitgegenständlichen Fall zu bejahen. In der weiter zitierten Randnummer 36 verneint der BGH die Schutzwirkung der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV oder der Normen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Hinblick auf das wirtschaftliche Selbstbestimmungsinteresse, wieder ohne Fahrlässigkeit im entschiedenen Fall anzunehmen.
30
Auch die Ausführungen der Beklagtenpartei im Schriftsatz vom 23.03.2023 zu einem nunmehr eingeleiteten Anhörungsverfahrens durch das KBA geben zu keiner Änderung der rechtlichen Einschätzung Anlass.
31
Das KBA leitete nunmehr im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 14.07.2022 – C-134/20, wonach eine zulässige Abschaltung unter den im Unionsgebiet herrschenden Fahrbedingungen nicht während des überwiegenden Teils eines Jahres aktiv sein darf, ein Anhörungsverfahren ein. Das KBA begründete dieses allein damit, dass unter Berücksichtung der vorgenannten EuGH-Rechtsprechung vorläufig die Möglichkeit bestünde, dass die im streitgegenständlichen Fahrzeugtyp verbaute temperaturabhängige Abgasrückführung ohne Durchführung der Maßnahme eine unzulässige Emissionsstrategie nach Art. Abs. 2 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 darstellen könnte. Das KBA hat damit nicht zum Ausdruck gebracht, dass es die Thermofenster aus Motorschutzgründen nicht mehr für erforderlich halten würde. Das Ergebnis der neuerlichen Untersuchungen ist zudem weiterhin offen und lässt auch keine Rückschlüsse auf die Erkennbarkeit einer etwaigen Unzulässigkeit des Thermofensters für die Beklagte zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 23.03.2023 7 U 113/22, BeckRS 2023, 4904 Rn.16; OLG München Beschluss vom 31.03.2023 – 27 U 6731/22, BeckRS 2023, 6956 Rn. 28, beck-online).
32
c) Es fehlt hinsichtlich jeglicher deliktischen Ansprüche auch an einem normativen Schaden. Dem klägerischen Vortrag fehlen schließlich greifbare Anhaltspunkte für einen Schaden der Klagepartei wegen drohender Betriebsbeschränkung oder -untersagung bezüglich des streitgegenständlichen Fahrzeugs (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, juris Rn. 48, 51). Es bestand nicht einmal abstrakt das Risiko einer Nichtbenutzbarkeit, da weder ein Widerruf der Typgenehmigung noch eine Stilllegung des Fahrzeugs drohte. Hat das KBA – wie vorliegend – ausweislich der vorgenannten amtlichen Auskünfte nach zwischenzeitlicher Überprüfung keine unzulässige Abschalteinrichtung festzustellen vermocht, hätte es auch zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses keinen emissionsbedingten Rückruf beabsichtigt, wenn diese Untersuchungen damals bereits durchgeführt worden wären. Es kann daher nicht von einem wirtschaftlich nachteiligen Vertragsschluss ausgegangen werden (vgl. OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 26. April 2022 – 25 U 73/21, BeckRS 2022, 42721, Rn. 30, beck-online; nachfolgend BGH, Beschluss vom 30. Januar 2023 – VIa ZR 687/22, juris; OLG München, Urteil vom 15. Juni 2021 – 9 U 5466/20, juris Rn. 34; OLG Naumburg, Urteil vom 10. Dezember 2021 – 8 U 69/21, juris Rn. 10; OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 28. September 2021 – 24 U 208/20, juris Rn. 46).
33
3. Die Klagepartei kann die streitgegenständliche Rückabwicklung des Kaufvertrags auch nicht aus einer selbständigen Garantie im Sinne des § 443 BGB herleiten. Entgegen der Auffassung der Klagepartei vermag der Senat, worauf er bereits hingewiesen hat, der Übereinstimmungserklärung nicht den Erklärungswert einer Garantieerklärung beimessen. Beim Inverkehrbringen des Fahrzeugs kommt durch die bloße Ausgabe der EG-Übereinstimmungsbescheinigung kein Garantievertrag zwischen dem Hersteller und dem Erwerber zustande. Bei der Übereinstimmungsbescheinigung im Sinn von Art. 18 RL 2007/46/EG, §§ 6, 27, 37 EG-FGV, die der Hersteller eines Fahrzeuges erstellt und mit der er bestätigt, dass das konkrete auf den Markt gebrachte Fahrzeug den Vorgaben der EG-Typgenehmigung entspricht, und mittels derer der Hersteller die Voraussetzungen für die (Erst-)Zulassung des Fahrzeugs schafft, handelt es sich bei der gebotenen Beurteilung nach §§ 133, 157, 242 BGB nicht um eine gegenüber dem Kläger in seiner Eigenschaft als Fahrzeugkäufer abgegebenen Garantieerklärung im Sinn von § 443 BGB. Denn mit der Erstellung der Übereinstimmungsbescheinigung, mit der bestätigt wird, dass das konkrete auf den Markt gebrachte Fahrzeug den Vorgaben der EG-Typgenehmigung entspricht, erfüllt der Hersteller eine gesetzliche Verpflichtung und schafft die Voraussetzungen der (Erst-)Zulassung des auf den Markt gebrachten Fahrzeugs (§ 6 Abs. 3 FZV). Dass der Hersteller über diese gesetzliche Pflichterfüllung hinaus in besonderem Maße Vertrauen in Anspruch nehmen oder eine Zusicherung abgeben will, erschließt sich weder nach dem Text der Bescheinigung noch nach deren Zweck (OLG Karlsruhe, Urteil vom 26. Januar 2022 – 6 U 128/20, Rz 43 – 44, juris; OLG Köln, Urteil vom 30. Juni 2021 – I-22 U 98/19, juris Rz. 66 f m. w. N; hier OLG Frankfurt a. M. Urt. v. 3.3.2023 – 19 U 222/22, BeckRS 2023, 3833 Rn. 68, beck-online.
34
4. Der Senat sieht eine Aussetzung des Verfahrens entsprechend § 148 ZPO bis zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs in den Sachen VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22 als nicht veranlasst an. Die diesbezüglich mit Schriftsatz der Klagepartei vom 17.03.2022 erfolgte Anregung auf Aussetzung des Verfahrens wird daher nicht Folge geleistet.
35
Die im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens erforderliche Abwägung zwischen einerseits den Erfolgsaussichten des anderen Verfahrens (vgl. BGH NJW-RR 1992, 1149 (1150); OLG München, BeckRS 2022, 23404; OLG Bamberg, BeckRS 2022, 23415; Zöller/Greger, 34. Aufl. 2022, § 148 ZPO, Rn. 7; vgl. auch Skamel, NJW 2015, 2460 (2463); BeckOK ZPO/Wendtland, 47. Ed. 1.12.2022, § 148 ZPO, Rn. 13) und andererseits der mit der Aussetzung eintretenden Verfahrensverzögerung führt zu dem Ergebnis, dass eine Verfahrensaussetzung unterbleibt.
36
Der Senat geht gerade nicht davon aus, dass die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-100/21 Auswirkungen auf die vorgenannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben wird. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.
37
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
38
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß § 708 Nr. 10, 711 ZPO.
39
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der § 3 ZPO, §§ 47, 48 GKG bestimmt.