Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 30.01.2023 – W 8 K 22.30691
Titel:

Erfolgreiche Asylklage auf Feststellung eines krankheitsbedingten nationalen Abschiebungsverbotes

Normenketten:
VwVfG § 51
AsylG § 31 Abs. 3 S. 1, S. 3, § 71
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, S. 2, § 60a Abs. 2c S. 2, S. 3
Leitsatz:
Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind und kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind oder weil die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein im Zielstaat zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, unzulässiger Folgeantrag, keine relevanten Wiederaufgreifensgründe betreffend internationalen Schutzes, Einzelfall des Vorliegens eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses, psychisch kranke Frau ohne gesicherte familiäre Unterstützungsmöglichkeit, wiederholte Vergewaltigungen durch den Bruder sowie sonstiger Personen, posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode, schizoaffektive Störung, paranoide Schizophrenie, keine Gewährleistung der notwendigen ununterbrochenen medizinischen Behandlung im Iran, Medikamente sowie Psychotherapie, notwendige familiäre oder sonstige Unterstützung nicht gewährleistet, beachtliche wahrscheinliche Selbstmordgefahr, nicht zu alleiniger selbständiger Lebensführung in der Lage, keine hinreichende inländische Alternative, Asylklage, Folgeantrag, alleinstehende Frau, Wiederaufgreifensgründe, nationales Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Krankheit, psychische Erkrankung, akustische Halluzinationen, paranoider Schizophrenie, Verschlimmerung, Behandlung, familiäre Unterstützung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 8563

Tenor

I. Die Nummern 2 und 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. September 2022 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.     

Tatbestand

1
Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige. Ein erster Asylantrag wurde im Rahmen eines Dublin-Verfahrens durch Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26. September 2019 als unzulässig abgelehnt. Ein erster Folgeantrag wurde mit Bescheid vom 24. Juni 2020 ebenfalls unanfechtbar abgelehnt (vgl. VG Ansbach, U.v. 7.12.2020 – AN 19 K 20.30605 – juris).
2
Am 29. September 2021 stellte die Klägerin mit Rechtsanwaltsschreiben einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag). Zur Begründung ließ sie im Wesentlichen vorbringen: Sie habe sich wiederholt stationär im Bezirkskrankenhaus mit der Diagnose PTBS befunden, teilweise aufgrund einer Einweisung durch die Polizei. Dazu wurden verschiedene ärztliche Unterlagen eingereicht. Eine Rückkehr in den Iran sei der Klägerin nicht möglich, da sie befürchte, von ihrem Bruder wieder misshandelt und vergewaltigt zu werden.
3
Mit Bescheid vom 5. September 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1). Des Weiteren lehnte es den Antrag auf Änderung des Bescheides vom 24. Juni 2020 (Az.: 8107076-439) bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab (Nr. 2). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 7 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Ausreise befristet (Nr. 3). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag sei unzulässig, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Im Rahmen der ersten beiden Asylverfahren sei festgestellt worden, dass der hinsichtlich Iran geltend gemachte Sachverhalt keine Feststellung als Flüchtling rechtfertige. Die Klägerin habe ihren Asylfolgeantrag im Wesentlichen mit gesundheitlichen Gründen begründet. Das Vorbringen zur befürchteten Misshandlung und Vergewaltigung durch ihren Bruder sei präkludiert, da die Klägerin dies bereits im Erstverfahren geltend gemacht habe. Dem Vorbringen sei insoweit kein neuer Sachvortrag zu entnehmen. Die Voraussetzung für ein Wiederaufgreifen zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG sei ebenfalls nicht gegeben. Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG seien insoweit nicht erfüllt. Gründe, die unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG gemäß § 49 VwVfG rechtfertigen würden, lägen ebenfalls nicht vor. Ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot sei nach wie vor nicht erkennbar. Generell seien alle Medikamentengruppen im Iran erhältlich. In jedem Bezirk gebe es Ärztinnen und Ärzte, die dazu verpflichtet seien, Notfälle zu jeder Zeit aufzunehmen. Es sei nicht erkennbar, dass eine erforderliche medizinische Behandlung im Iran gegebenenfalls nicht gewährleistet wäre oder aus finanziellen Gründen scheitern sollte. Die Klägerin habe in der Altenpflege und in einem privaten Frauen- und Studentenwohnheim im Iran gearbeitet. Es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund eine Finanzierung einer gegebenenfalls notwendigen Behandlung fehlen sollte. Die ärztlichen Atteste beriefen sich auf nicht weiter überprüfte Aussagen der Klägerin. An der vorgetragenen Vergewaltigung und Misshandlung des Bruders bestünden ernsthafte Zweifel. Somit sei nicht plausibel nachvollziehbar, ob überhaupt und gegebenenfalls aus welchen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran eine (Re-)Traumatisierung stattfinden könnte. Die von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen seien nicht geeignet, eine Gesundheitsgefährdung durch eine Abschiebung zu belegen. Bisherige Suizidversuche seien als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis durch die Ausländerbehörde zu berücksichtigen. Gleiches gelte bezüglich der Prüfung der Reisetauglichkeit.
4
Mit Schriftsatz vom 24. September 2022, bei Gericht eingegangen am 25. September 2022 ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Zur Begründung ließ sie einen aktuellen Arztbrief vom 16. September 2022 übersenden.
5
Mit Schriftsatz vom 15. Januar 2023 ließ die Klägerin zur weiteren Klagebegründung eine Übersicht über ihre Klinikaufenthalte übersenden, letztmalig bis 13. Dezember 2022, und im Wesentlichen weiter vorbringen: Die Klägerin sei dauerhaft auf Medikamente angewiesen sowie auf eine ambulante (zum Teil auch stationäre) psychiatrische Behandlung. Hier sei schon fraglich, ob die Klägerin dies überhaupt finanzieren könnte. Als alleinstehende Frau, ohne verwandtschaftliche Unterstützung, wäre es ihr nicht möglich, aufgrund ihrer psychischen Erkrankung einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, um die Medikamente zu finanzieren. Somit sei zumindest ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.
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Mit Schriftsatz vom 24. Januar 2023 ließ die Klägerin einen aktuellen Entlassbericht des Universitätsklinikums W. … vom 17. Januar 2023 übersenden, wonach die stationäre Aufnahme am 6. Januar 2023 aufgrund von erneutem Bedrohungserleben mit Todesangst sowie akustischen Halluzinationen (bedrohende Stimmen) bei bekannter paranoider Schizophrenie erfolgt sei.
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Mit Schriftsatz vom 27. Januar 2023 ließ die Klägerin noch die letzten aktuellen fachärztlichen Stellungnahmen des Universitätsklinikums vorlegen, unter anderem eine fachärztliche-psychiatrische Stellungnahme zur Vorlage bei Gericht vom 26. Januar 2023 sowie Arztbriefe vom 19. Januar 2023 und vom 14. Dezember 2022 und eine „Epikrise“ vom 7. November 2022.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 29. September 2022 die Klage abzuweisen.
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Die Kammer übertrug den Rechtstreit mit Beschluss vom 26. September 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 8. Dezember 2022 lehnte das Gericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten ab.
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In der mündlichen Verhandlung am 30. Januar 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte,
die Nummern 2 und 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. September 2022 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Des Weiteren übergab der Bevollmächtigte der Klägerin noch einen vorläufigen Arztbrief des Zentrums für Seelische Gesundheit W. … vom 18. November 2022. Das Gericht hörte die Klägerin informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. September 2022 ist in seinen Nummern 2 und 3 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung – wie beantragt – einen Anspruch auf Feststellung des Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Infolgedessen war nicht nur die betreffende Nummer 2 des Bescheides, sondern auch dessen Nummer 3 (Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots) aufzuheben.
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Die Voraussetzungen für ein krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen vor. Im Hinblick auf die Regelung in § 51 VwVfG i.V.m. § 71 AsylG sowie § 31 Abs. 3 Satz 1 und Satz 3 AsylG ist festzuhalten, dass zum einen Wiederaufgreifensgründe in Bezug auf das Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbotes vorliegen, wie sich nicht zuletzt aus den beim Bundesamt sowie im Klageverfahren vorgelegten umfangreichen ärztlichen Stellungnahmen ergibt. Des Weiteren besteht zum anderen ein Anspruch auf Wiederaufgreifen aufgrund der schwerwiegenden psychischen Erkrankung der Klägerin mit der Folge, dass bei der Entscheidung darüber das Ermessen auf Null reduziert ist, wie sich in der Sache aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt.
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Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG). Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 muss der Ausländer eine Erkrankung, die eine Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose) den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich in der ärztlichen Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Nach § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG liegt eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur bei einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
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Dabei erfasst die Regelung in § 60 Abs. 7 AufenthG nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich auch aus der Krankheit eines Ausländers ergeben, wenn diese sich im Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind. Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein im Zielstaat zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist. In die Beurteilung miteinzubeziehen und bei der Gefahrenprognose zu berücksichtigen sind sämtliche zielstaatsbezogenen Umstände, die zu einer Verschlimmerung der Erkrankung führen können. Hierbei muss eine beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehen, dass dem Ausländer bei einer Rückkehr die in der Vorschrift genannte Gefahr droht. Dabei ist eine einzelfallbezogene Betrachtung der individuell bestimmten und erheblichen Gefährdungssituation anzulegen. Eine wesentliche Verschlechterung liegt nicht schon bei jeder zu befürchtenden ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands vor. Erforderlich ist, dass die Gefahr der Krankheitsverschlechterung erheblich und konkret ist. Sie ist erheblich, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde, und konkret, wenn der Ausländer alsbald nach seiner Rückkehr in eine solche Lage geriete, weil er keine adäquate Behandlung bzw. sonst keine wirksame Hilfe erlangen kann (vgl. zum Ganzen BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – Buchholz 310, § 108 VwGO Nr. 266; U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris; U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – Buchholz 402.240, § 53 AuslG Nr. 66; U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – BVerwG 127, 33 sowie etwa speziell mit Bezug zum Iran zuletzt etwa VG Würzburg, U.v. 12.9.2022 – W 8 K 21.31212 – juris Rn. 19 ff.; VG Minden, U.v. 10.2.2022 – 2 K 41/19.A – juris Rn. 125 ff.; VG Bayreuth U.v. 28.7.2021 – B 8 K 19.31806, 7891734 – juris S. 19). Eine solche Gefahr kann auch vorliegen durch den Wegfall der erforderlichen Betreuung und dem Fehlen der Überwachung einer notwendigen medikamentösen oder ärztlichen Behandlung durch eine Betreuungsperson oder Einrichtung im Herkunftsstaat (VG Ansbach, U.v. 2.5.2014 – AN 11 K 14.30309 – juris Rn. 17 m. Bezug auf BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris).
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Weiter ist festzuhalten, dass eine mögliche Dekompensation mit Suizidalität für sich nicht ausreicht. Der Umstand, dass suizidale Handlungen bei einer Abschiebung bzw. Unterbrechung der Behandlung nicht völlig ausgeschlossen werden können, genügt für sich nicht, sofern keine beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 24.11.2015 – W 6 K 15.30406 – juris Rn. 25 m.w.N. sowie VG Magdeburg, U.v. 22.1.2019 – 3 A 276/17 – juris Rn. 42).
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Nach diesen Grundsätzen ist hier ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Iran anzunehmen, weil nach den konkreten Umständen des vorliegenden Einzelfalles die beachtlich wahrscheinliche Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran alsbald erheblich verschlechtern würde und mit einem Selbstmord der Klägerin zu rechnen ist, weil davon auszugehen ist, dass die Klägerin die ununterbrochene notwendige medizinische Versorgung wenn überhaupt auch nicht dauerhaft erreichen könnte, so dass ihr eine Rückkehr in den Iran nicht zumutbar ist.
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Zwar ist der Beklagten zugute zu halten, dass grundsätzlich die Behandlung von – auch schweren – psychischen Erkrankungen einschließlich einer posttraumatischen Belastungsstörung auch im Iran möglich und zumutbar ist, wobei kein Anspruch auf eine Behandlung mit einem speziellen Medikament besteht, sofern keine ausdrückliche Kontraindikation für sämtliche andere zur Verfügung stehenden Alternativ-Medikamente bezüglich des vorliegenden Krankheitsbildes besteht. Nach der vorliegenden Auskunftslage können psychische Erkrankungen sowohl medikamentös als auch psychotherapeutisch im Iran behandelt werden. Des Weiteren besteht grundsätzlich auch die Möglichkeit einer Betreuung im Iran. Obwohl auch kostenlose Gesundheitsleistungen angeboten werden, sind selbst bei versicherten Personen immer wieder Zuzahlungen erforderlich. Dies gilt auch für Arzneimittel (vgl. grundsätzlich BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationen der Staatendokumentation – Iran, vom 23.5.2022, S. 90 ff; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 24 f.). Einschlägige Medikamente bei psychischen Erkrankungen sind im Iran erhältlich. Weiter sind Psychiater und Psychologen stationär und ambulant mit diversen Arten von Psychotherapien verfügbar. Zusätzlich sind verfügbar: Psychiatrische Kriseninterventionen bei Suizidversuch, psychiatrische klinische Behandlung (kurzfristig) durch einen Psychiater, psychiatrische ambulante Langzeitbehandlungen durch einen Psychiater, psychiatrische klinische Behandlung auf einer geschlossenen Station (nicht unbedingt Zwangseinweisung), aber auch psychiatrische Zwangseinweisung bei Bedarf (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – Iran, Posttraumatische Belastungsstörung, schwergradige depressive Episode; Medikamente Quetiapin und Mirtazapin, vom 25.6.2021). Demnach sind psychische Erkrankungen im Iran grundsätzlich gut behandelbar (VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 20; VG Minden, U.v. 10.2.2022 – 2 K 41/19 A – juris Rn. 156; VG Oldenburg, U.v. 20.12.2021 – 13 A 6013/17, 6341423 – juris S. 13 ff.; VG Bayreuth, U.v. 28.7.2021 – B 8 K 19.31806, 7891734 – juris S. 20 ff.; VG Frankfurt, U.v. 3.9.2020 – 3 K 1414/19.F.A – juris Rn. 27; VG Sigmaringen, U.v. 15.11.2019 – A 3 K 6356/17 – juris Rn. 47; jeweils m.w.N.).
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Des Weiteren verkennt das Gericht nicht, dass die Klägerin – gerade auch in der mündlichen Verhandlung am 30. Januar 2023 – diverse widersprüchliche und nicht auf weitere aufklärbare Angaben gemacht hat, sodass zu diesen Aspekten nicht feststeht, was ihr insoweit geglaubt werden kann und was nicht. Das beginnt schon bei den Zeitläufen der Vergewaltigungen. Während sie beim Bundesamt angab, das Video von der ersten Vergewaltigung seitens ihres Bruders sei einen Monat vor der Ausreise aufgenommen worden, gab sie demgegenüber laut ärztlicher Berichte an, sie sei über mehrere Jahre hinweg vergewaltigt worden. In der mündlichen Verhandlung erklärte sie nunmehr, sie sei dreimal in der Woche vergewaltigt worden und es habe etwa ein Jahr bzw. ein bis zwei Jahre gedauert. Sie gab des Weiteren erstmals an, dass sie deswegen drei Monate in stationäre Behandlung gewesen sei. Diese Angaben stehen auch im Widerspruch zu der von ihr nicht bestrittenen Beantragung des Visums für Griechenland, das mit ihren zeitlichen Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht in Einklang zu bringen ist. Auffällig ist weiter, dass die Klägerin weitere Vergewaltigungen in Kroatien nicht gegenüber dem Bundesamt erwähnt hatte, sondern erst gegenüber den Ärzten sowie im Gerichtsverfahren. Weiter machte die Klägerin widersprüchliche Angaben, dass und wann sie in einer eigenen Wohnung bzw. zusammen mit ihrer Mutter gewohnt habe bzw. wo sie gearbeitet habe, und zwar nicht bloß in einem Heim, sondern auch in einer Reiseagentur. Darüber hinaus stehen ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung zur Flucht nicht im Einklang mit den bisherigen Angaben gegenüber dem Bundesamt. Das Gleiche gilt für die Angabe des Aufenthalts in der Türkei. Während sie beim Bundesamt angab, sie sei nur für einige Stunden durchgereist, erklärte sie nun erstmals in der mündlichen Verhandlung, sie sei einige Tage bis eine Woche in der Türkei gewesen und sei sogar vom Islam zum Christentum konvertiert und dort getauft worden. Schließlich stritt sie im Widerspruch zu den Angaben gegenüber dem Bundesamt ab, dass sie im Iran überhaupt leibliche Schwestern habe.
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Diese Widersprüche mögen sich einerseits eventuell durch die psychische Erkrankung der Klägerin erklären lassen, die aktuell laut den vorliegenden ärztlichen Erkenntnissen offenbar nicht mehr zwischen Realität und Wahnvorstellungen unterscheiden kann. Die Klägerin gab außerdem dazu an, sie habe beim Bundesamt aus Angst nicht alles sagen wollen und können. Andererseits hat das Gericht nicht den Eindruck, dass die schwere psychische Erkrankung der Klägerin nur gespielt ist, sondern dass die Klägerin ernsthaft schwer erkrankt ist. Gerade das Vorbringen zum Kerngeschehen der zugrundeliegenden Erkrankung, die Videoaufnahme durch ihren Bruder und die erlittenen Vergewaltigungen erscheinen dem Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts sowie des persönlichen Eindrucks von der Klägerin glaubhaft. Aber selbst wenn man als Grundlage für die Annahme der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung glaubhaftes Vorbringen zu einem erlittenen Trauma als Auslöser verneinen wollte, sind die weiteren schweren psychischen Erkrankungen der Klägerin im Übrigen nicht von der Hand zu weisen.
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Im vorliegenden Fall ist vielmehr aufgrund der Schwere der ärztlicherseits festgestellten Erkrankungen eine Beurteilung dahingehend gerechtfertigt, dass bei der Klägerin nicht nur eine ungünstige Entwicklung des Gesundheitszustands zu befürchten ist, sondern dass bei ihr bei einer Abschiebung eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr einer Verschlimmerung ihrer Erkrankung besteht, mit der Folge, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin nach den konkreten Umständen ihres Einzelfalles alsbald nach ihrer Rückkehr wesentlich oder gar lebensbedrohlich bis hin zum Selbstmord verschlechtern würde. Für die Annahme einer derartigen Gefahrenlage bestehen vorliegend substanziierte und durchgreifende Anhaltspunkte aufgrund den vorliegenden, auch qualifizierten ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten sowie angesichts der im vorliegenden Einzelfall weiter vorliegenden Umständen.
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Das Universitätsklinikum W. … erstattete unter dem 26. Januar 2023 eine fachärztliche-psychiatrische Stellungnahme zur Vorlage bei Gericht. In dieser Stellungnahme ist ausgeführt, dass die Beurteilung auf der Grundlage von über 20 psychiatrischen Untersuchungen und Behandlungen in der psychiatrischen Ambulanz über einen Zeitraum von über 15 Monaten sowie unter Berücksichtigung der stationären Aufenthalte im Haus (Universitätsklinikum) vom 20. bis 26. September 2022, 29. November bis 13. Dezember 2022 und vom 6. Januar bis zum 18. Januar 2023 erfolgt ist. Die Methode der Tatsachenerhebung habe aus dem erhobenen psychopathologischen Befund, der psychiatrischen Exploration und der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung bestanden. Die psychotherapeutischen Gespräche seien auf Persisch geführt worden. Im Übrigen seien sämtliche Gespräche durch professionelle Übersetzer übersetzt worden. Die fachärztliche psychopathologische Begutachtung haben keinen Anhalt für Simulation und Aggravation ergeben, sondern ein hohes Maß an inhaltlicher Kongruenz. Weiterhin seien die geschilderten Tatsachen zur aktuellen Psychopathologie einer paranoiden Schizophrenie und einer komorbiden posttraumatischen Belastungsstörung passend. Seit September 2022 seien wiederholte ambulante Vorstellungen mit paronoid-halluzinatorischer Symptomatik, Phonemen, Bedrohungserleben und Ich-Störungen mit Gedankenausbreitung und massiver ängstlicher Anspannung erfolgt, worunter Todesangst und suizidale Gedanken aufgetreten seien. Die Patientin habe sich in den vergangenen Monaten mehr und mehr zurückgezogen und berichtet, dass sie überwacht werde. Auch Fremdbeeinflussungen würden berichtet. Es bestehe eine posttraumatische Belastungsstörung. Nach mehrfacher Vergewaltigung und Misshandlung durch den Bruder sowie mehrmaliger Vergewaltigung durch andere Flüchtlinge auf der Flucht, welche sich in Flashbacks, massiver Anspannung und Ängsten sowie Schlafstörungen äußere. Bei vorbestehender rezidivierender depressiver Störung und schweren depressiven Syndrom mit gedrückter Stimmungslage, Antriebslosigkeit, Freud- und Interessenlosigkeit, Suizidalität, Hoffnungslosigkeit, Konzentrationsminderung und Schlafstörungen habe sich über den Sommer 2022 das Vollbild einer paranoiden Schizophrenie mit paranoid halluzinatorischem Erleben mit Bedrohungs- und Beziehungserleben, Phonemen und Ich-Störungen im Sinne von Gedankenausbreitung und Gefühl des Gemachten neben einer massiven ängstlichen Anspannung mit verzweifelter Grundstimmung und Suizidgedanken entwickelt. Die Klägerin habe schon stationäre Voraufenthalte im Dezember 2020 in N. … (einmal) sowie von Dezember 2020 bis August 2021 (sechsmal) im Bezirkskrankenhaus … Die Patientin habe mehrmals versucht gehabt, sich durch Einnahme von Medikamenten und durch Selbstverletzungen mit einem Messer das Leben zu nehmen. Neben der psychopharmakologischen Behandlung hätten sie eine ambulante psychotherapeutische Behandlung begonnen, zunächst mit dem Ziel der Stabilisierung und Verbesserung der Emotionsregulation, um das selbstverletzende Verhalten und die Suizidimpulse zu reduzieren sowie Ressourcenverstärkung. Unverändert sei es über die Sommermonate 2022 zu Krisen gekommen bis hin zu akuter Suizidalität mit Bedrohungs-, Beeinträchtigungs- und paranoiden Beziehungsideen. Am Ende habe sich ambulant keine ausreichende Stabilisierung gezeigt, so dass sie wiederholt stationär aufgenommen worden sei. Ein ambulanter Umstellungsversuch sei später auch nicht erfolgreich gewesen, so dass eine weitere notfallmäßige Einweisung im Januar 2023 erforderlich gewesen sei. Konzentration und Merkfähigkeit seien reduziert. Formalgedanklich sei die Klägerin im Wesentlichen geordnet, aber eingeengt auf paranoide Beziehungsideen und Bedrohungserleben; Phoneme, Beziehungsideen, Beeinträchtigungserleben; szenisches Wiedererleben traumatischer Erlebnisse im Sinne von Flashbacks; Albträume. Massive ängstliche Anspannungen im Sinne eines Hyperarousal. Stimmung ängstlich-angespannt, teils verzweifelt, hoffnungslos; wenig auslenkbar; Psychomotorik angespannt, innere Unruhe, Tremor des linken Armes und Zungenschwere. Die erhobenen fachärztlichen Diagnosen lauteten: Paranoide Schizophrenie, PTBS, Alkoholabhängigkeit, Alkoholentzugssyndrom.
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Es handele sich dabei um eine schwerwiegende psychische Erkrankung. Die Klägerin leide an einem komplexen Erkrankungsbild, bei dem die Kombination aus erlebter Traumatisierung und paranoider Realtitäsverkennung zu einer ausgeprägten Zustandslabilität und intensiven Behandlungsbedürftigkeit führe. Zur adäquaten Behandlung der paranoiden Schizophrenie und der komorbiden posttraumatischen Belastungsstörung sei zunächst eine stabile medikamentöse Einstellung in stationär psychiatrischer Behandlung angezeigt. Bisherige Behandlungsversuche zeigten diesbezüglich keine ausreichende Wirksamkeit bzw. seien durch die Schwere der Symptomatik und die Komplexität der komorbiden PTBS und Alkoholabhängigkeit limitiert. Inwiefern sich unter einer stabilen medikamentösen Behandlung mit antipsychotisch wirksame Substanzen, z.B. auch in Form einer Depotmedikation eine Stabilisierung herstellen lasse, sei gegenwärtig nicht absehbar. Notwendig sei in jedem Fall eine Weiterführung der regelmäßigen Termine in der vertrauten Umgebung ihrer universitären Einrichtung mit psychiatrischer Institutsambulanz. Weiterhin sei eine regelmäßige und langfristige psychotherapeutische Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung erforderlich, die derzeit in der Ambulanz erfolge. Wenn die medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung unterbleibe, wäre eine massive Verschlechterung der Symptomatik der PTBS aber auch der paranoiden Schizophrenie im Sinne von einer erneuten Exazerbation des paranoid-halluzinatorischen Erlebens sowie akuter Suizidalität und einem erneuten Suizidversuch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Aufgrund der komplexen Erkrankung bestehe aktuell keine Reisefähigkeit. Bei einem Umgebungswechsel bzw. bei einer Abschiebung und der damit verbundenen Reise sei eine akute Belastungssymptomatik mit Agitation und psychomotorischen Erregungszustand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Zudem sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein erneuter Suizidversuch zu erwarten, da die Patientin im Falle einer Abschiebung nicht zwischen paranoiden Ängsten, erinnerter Gewalt und Traumatisierung einer aktuellen akuten Traumatisierung unterscheiden könne. Grund hierfür sei auch das massive Hyperarousal durch die aktualisierte Traumatisierung sowie das anhaltende halluzinatorische Erleben.
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Einer weiteren Stellungnahme des Universitätsklinikums W. … vom 19. Januar 2023 ist unter anderem weiter zu entnehmen, dass die Klägerin ihre Medikamente nicht zuverlässig einnehme. Nach einem Arztbrief des Universitätsklinikums W. … vom 14. Dezember 2022 sei Grund der Einweisung ein paranoides Syndrom mit Beziehungsideen und akustischen Halluzinationen gewesen.
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Die vorstehenden qualifizierten ärztlichen Ausführungen werden unterstrichen durch diverse weitere ärztliche Stellungnahmen des Universitätsklinikums W. …, etwa vom 7. November 2022 oder vom 17. Januar 2023 sowie durch die vorliegenden älteren Stellungnahmen aus dem Bezirkskrankenhaus … sowie des Zentrums für Seelische Gesundheit in W. … Dem letzten vorläufigen Arztbrief des Zentrums für Seelische Gesundheit vom 18. November 2022 ist zu entnehmen, dass sich die Klägerin aufgrund eines Unterbringungsbeschlusses bei akuter Eigengefährdung vom 14. bis 18. November 2022 dort in stationärer Behandlung befunden habe. Die Klägerin habe mitgeteilt, wieder vermehrt Stimmen zu hören. Sie habe von Verfolgungsideen berichtet und schlecht geschlafen. Die Klägerin hätte in ihrer Unterkunft Suizidgedanken geäußert und angegeben schon einen Abschiedsbrief geschrieben zu haben. Sie habe konkrete Suizidgedanken geäußert (vgl. auch den Arztbrief des Zentrums für Seelische Gesundheit vom 16.9.2022).
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Unterstrichen wird die schwere psychische Erkrankung der Klägerin weiter durch das Vorbringen der in der mündlichen Verhandlung anwesenden Psychotherapeutin der Klägerin, die unter anderem erklärte, dass sie davon ausgehe, dass die Klägerin hier in Deutschland viel besser versorgt werden könne als im Iran. Auch hier habe sich aber schon ihr Zustand verschlechtert. Die Symptomatik habe sich zuletzt verändert von der PTBS hin zu einer schizoaffektiven Störung, also Wahnvorstellungen und akustischen Halluzinationen. Die Klägerin fühle sich bedroht. Die Behandlung sei schon hier für die Klägerin eine Herausforderung. Wichtig sei das Vertrauensverhältnis. Eine Behandlung sei dringend notwendig. Die Psychotherapeutin, die iranischer Herkunft ist und die die Muttersprache der Klägerin spricht, erklärte weiter, sie kenne die Verhältnisse im Iran und könne sich nicht vorstellen, dass die Klägerin im Iran entsprechend in erforderlicher Weise behandelt würde. Sie wüsste auch nicht, wie die Klägerin die notwendige Behandlung im Iran erreichen können sollte. Medikamente seien im Iran teilweise nicht zu bekommen und müssten auf den schwarzen Markt besorgt und selbst finanziert werden. Wenn die notwendige Behandlung nicht fortgesetzt würde, würde sich die Klägerin das Leben nehmen. Das sei sehr wahrscheinlich. Das massive Bedrohungserleben, das die Klägerin habe, sei für sie, die Klägerin unerträglich. Sie, die Psychotherapeutin, glaube nicht, dass sich die Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran dort erneut auf eine Behandlung einlassen und ein neues Vertrauensverhältnis aufbauen würde und die Dinge so erzählen würde wie hier. Selbst in Deutschland habe sie beim Zentrum für Seelische Gesundheit nicht die Wahnvorstellungen erzählt, weil sie diese für wahr gehalten habe. Sie habe diese erst bei ihnen im Universitätsklinikum erzählt; dadurch seien neue Symptome bekannt geworden. Die Vorgehensweise der Klägerin passe ins Krankheitsbild. Die Klägerin habe sich, wie sie selbst auch gesagt habe, nicht getraut beim Bundesamt alle Dinge anzusprechen. Wenn sie ihre Erlebnisse ausspreche, dann dekompensiere sie diese. Sie halte diese praktisch nicht aus. Sie habe dann beim Erzählen eine Art Wiedererleben. Ihre Reaktion darauf sei eine Selbstverletzung.
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Zu den vorstehend skizzierte medizinischen Erkenntnisse kommt der persönliche Eindruck des Gerichts von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung. Die Klägerin wirkte sichtlich erregt. Eine Hand zitterte durchweg. Um sich zu beruhigen und die Verhandlung fortsetzen zu können, war es zweimal erforderlich, dass die Klägerin mit Unterstützung und auf Anleitung ihrer Psychotherapeutin Entspannungstechniken anwendete, und zwar Atemübungen sowie die Aufzählung von neutralen Begriffen (wie Jacke, Papier usw.). Gestik, Mimik sowie Art und Weise ihrer Aussagen waren offenkundig von ihrem Zustand geprägt. Abgesehen davon gab die Klägerin selbst an, bevor sie in den Iran zurückgehe, werde sie Suizid begehen. Sie werde ein entsprechendes Schreiben verfassen und sich dann vor einer Rückkehr umbringen.
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Zusätzlich zu den zahlreichen vorgelegten, auch qualifizierten ärztlichen Unterlagen und den Ausführungen der Psychotherapeutin bestätigt der persönliche Eindruck der Klägerin während der mündlichen Verhandlung die Schwere ihrer psychischen Erkrankung.
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Das Gericht ist nach alledem davon überzeugt, dass die Klägerin schwer psychisch krank ist und dass sich ihr Gesundheitszustand bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit alsbald wesentlich verschlimmern würde bis hin zu einem Selbstmord. Denn die ärztlicherseits festgestellten Erkrankungen und getroffenen Diagnosen lassen einerseits bei der Klägerin einen gesundheitlichen Gesamtzustand erkennen, der eine ununterbrochene psychiatrische Behandlung zusammen mit entsprechender Medikation auf lange Dauer zwingend indiziert. Darüber hinaus führt der Gesundheitszustand der Klägerin dazu, dass sie nicht in der Lage wäre, alleine zu leben, ihre täglichen Angelegenheiten allein zu besorgen und insbesondere die notwendige medizinische Behandlung und Medikation auf Dauer zuverlässig sicherzustellen. Sie wäre vielmehr auf die intensive Hilfe und Begleitung anderer angewiesen.
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Wesentlich für die Bejahung eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses für die Klägerin ist, dass die in ihrem Fall zwingend erforderliche Unterstützung – seitens der Familie oder auf sonstige Weise – bei einer Rückkehr im Iran nicht gewährleistet ist. Auch wenn grundsätzlich im Iran eine Betreuung möglich sein sollte, ist nicht ersichtlich, wie die Klägerin diese im Falle einer Rückführung alsbald und ohne Unterbrechung erreichen können sollte. Denn es ist nicht zu erkennen, dass bei einer zwangsweisen Rückführung eine entsprechend anderweitige nahtlose Unterstützung der Klägerin im Zielland Iran seitens der Beklagten organisiert werden könnte. Dies ist aber im konkreten vorliegenden Einzelfall geboten, damit die Klägerin die erforderlichen Hilfen rechtzeitig erreichen kann (vgl. Dörig, Krankheit als Abschiebungshindernis, NVwZ 2022, 192, 196 mit Verweis auf BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 12). Nach den vorliegenden Erkenntnissen kooperieren die iranischen Behörden gerade bei zwangsweisen Abschiebungen nicht mit den deutschen Stellen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage islamischen Republik Iran, Stand: Dezember 2020, vom 5.2.2021, S. 25 f., wobei allenfalls bei einer freiwilligen Rückkehr eine Kooperation überhaupt realistisch wäre). Aber selbst bei einer gewissen Kooperation der iranischen Seite sieht das Gericht eine über einen nur kurzfristigen Zeitraum hinausgehende Versorgung und Betreuung der Klägerin als nicht gewährleistet an.
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Auch eine eventuelle Unterstützung durch die Familie ist nicht hinreichend sichergestellt. Die Klägerin hat erklärt, dass ihre Eltern gestorben seien. Des Weiteren kann nicht davon ausgegangen werden, dass andere Verwandte ihr mit Gewissheit dauerhaft im notwendigen Umfang helfen würden. Dass Schwestern vorhanden wären, wie noch ursprünglich beim Bundesamt angegeben, ist zweifelhaft und selbst wenn, dann wäre schon eine Kontaktaufnahme zu diesen seitens der schwerkranken Klägerin nicht gewährleistet. Der Bruder hat die Klägerin nach ihren eigenen Angaben vergewaltigt. Das Gericht hält das Kerngeschehen insoweit, zumindest in der Gedankenwelt der Klägerin, für glaubhaft, so dass eine Rückkehr zu diesem zwangsläufig zu einer drastischen Verschlimmerung ihrer Leiden führen würde. Nach Überzeugung des Gerichts fehlen damit Anhaltspunkte, dass die Klägerin bei einer Rückkehr die notwendige Medikation und weitere Behandlung erreichen könnte und diese auch auf Dauer finanzieren könnte. Aufgrund der konkreten Situation kann nach Überzeugung des Gerichts die Klägerin auch nicht auf einen eventuellen Familienverband im Iran verwiesen werden.
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Ohne fremde Unterstützung wäre nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen eine erhebliche Verschlimmerung des Gesundheitszustandes bzw. die Suizidgefahr die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmende Folge. Das Gericht ist überzeugt, dass die Klägerin ohne fremde Unterstützung nicht in der Lage wäre, sich entsprechende Hilfen im Iran selbst zu organisieren. Genauso hält das Gericht aufgrund der konkreten Erkrankung für unwahrscheinlich, dass die Klägerin mit oder ohne Behandlung in der Lage wäre, sich selbst durch eigene Erwerbstätigkeit ein Existenzminimum zu sichern und sich zusätzlich noch die erforderlichen Medikamente zu beschaffen (vgl. auch schon VG Würzburg, U.v. 12.9.2022 – W 8 K 21.31212 – juris).
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Die Klägerin könnte nach alledem in ihrem Einzelfall weder für sich alleine, noch gegebenenfalls über Verwandte oder auf sonstige Weise eine adäquate Behandlung und Medikation seiner Erkrankung im Iran erhalten. Wie bereits angemerkt ist davon auszugehen, dass die Klägerin die erforderlichen Medikamente sowie auch weitere Behandlungen nicht umsonst erhalten würde, sondern Zuzahlungen erforderlich wären. Mangels eigener Erwerbsmöglichkeit und mangels verlässlicher finanzieller Unterstützung könnte die Klägerin – abgesehen davon, dass sie Medikamente aufgrund ihrer Krankheit nicht zuverlässig einnehmen würde – letztlich auch aus diesem Grund die erforderliche ärztliche Behandlung sowie Medikation im Iran nicht erhalten (vgl. auch VG Stuttgart, U.v. 14.10.2016 – A 11 K 698/16 – juris Rn. 24 mit Bezug auf ein Gutachten des Deutschen Orient-Instituts an das VG Aachen vom 22.12.2003 und eine Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 20.11.2008).
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Abgesehen davon könnte die Klägerin – unabhängig von ihrer Erkrankung – ohne familiäre Unterstützung als alleinstehende Frau ohnehin nicht ihr Existenzminimum auf Dauer sichern (vgl. dazu ausführlich VG Würzburg, U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30758 – juris und U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30011 – juris).
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Eine gleichwohl erfolgende Abschiebung unter Inkaufnahme eines alsbaldigen Suizidversuchs der Klägerin im Iran, um so womöglich in Kontakt mit einer Krisenintervention im Iran zu kommen bzw. zwangsweise in eine Station eingewiesen zu werden, ist der Klägerin nicht zumutbar und vor Rechts wegen ausgeschlossen.
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Letztlich ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin gerade im vorliegenden Einzelfall bei einer Rückkehr in den Iran nicht die erforderliche Hilfe und Unterstützung erfahren würde, um alsbald eintretende gravierende Gesundheits- oder Lebensgefahren auf ein zumutbares Maß reduzieren zu können. Damit ist eine Abschiebung der Klägerin in den Iran von Rechts wegen ausgeschlossen mit der Folge, dass die Beklagte unter Aufhebung der Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten war ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Wie schon ausgeführt sind unter vorliegenden Gegebenheiten auch die Voraussetzungen des § 31 Abs. 3 AsylG erfüllt.
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Auf die weiteren vom Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung angesprochenen Aspekte einer Verwestlichung der Klägerin sowie des Vorliegens eines inländischen Vollstreckungshindernisses in Form einer Reiseunfähigkeit der Klägerin war mangels Entscheidungserheblichkeit nicht mehr einzugehen. Diese Punkte können daher dahingestellt bleiben.
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Des Weiteren war die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 3 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.