Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 11.04.2023 – W 8 K 23.89
Titel:

Verzicht auf mündliche Verhandlung, Maserimpfpflicht, unzuständige Behörde

Normenketten:
VwGO § 101 Abs. 2
IfSG § 20 Abs. 9
IfSG § 20 Abs. 12
VwZVG Art. 21a
ZustV § 65 S. 1
ZustV § 65 S. 4
GDG Art. 1 Abs. 1 Nr. 4
GDG Art. 1 Abs. 2
Schlagworte:
Verzicht auf mündliche Verhandlung, Maserimpfpflicht, unzuständige Behörde
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7983

Tenor

I. Der Bescheid der Stadt Aschaffenburg vom 27. Dezember 2022 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Bescheids, mit dem sie zur Vorlage eines Nachweises über einen ausreichenden Masernschutz für ihre minderjährige Tochter aufgefordert wird.
2
1. Am 4. August 2022 übermittelte die M…-W…-S… dem Landratsamt Aschaffenburg, Gesundheitsamt, eine ärztliche Bescheinigung mit Angabe einer dauerhaften Kontraindikation gegen eine Masernschutzimpfung der elfjährigen Tochter der Klägerin. Mit Schreiben der Beklagten vom 6. Dezember 2022 wurde der Klägerin mitgeteilt, dass nach Mitteilung des Gesundheitsamtes die Atteste des ausstellenden Arztes nicht akzeptiert werden können und für ihre Tochter ein vollständiger Masernimpfschutz bzw. die medizinische Kontraindikation für eine solche Impfung nachzuweisen ist. Der Klägerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 20. Dezember 2022 gegeben.
3
Mit Bescheid vom 27. Dezember 2022 ordnete die Beklagte an, dass die Klägerin dem Gesundheitsamt für ihre Tochter J… S…, geb. … … 2011, bis zum 15. März 2023 einen Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz gemäß § 20 Absatz 9 IfSG vorzulegen hat (Nr. 1). Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Nr. 1 des Bescheids werde ein Zwangsgeld von 250,00 EUR fällig (Nr. 2). Die sofortige Vollziehung der Anordnungen Nr. 1 – 2 wurde angeordnet (Nr. 3). Die Kosten des Bescheids betragen 124, 11 EUR. Es wurde eine Gebühr in Höhe von 120,00 EUR festgesetzt. Die Auslagen betragen 4,11 EUR (Nr. 4). In den Gründen ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Zuständigkeit der Beklagte zum Erlass des Bescheides ergebe sich aus Art. 3 Abs. 1 Nr. 3 Gesundheitsdienst- und Verbraucherschutzgesetz (GDVG), § 65 Satz 1 der Zuständigkeitsverordnung (ZustV), Art. 3 Abs. 1 Nr. 2 BayVwVfG. Auch wenn sie sich mangels eigenen Gesundheitsamtes des Gesundheitsamtes des Landratsamtes bediene, bleibe die Zuständigkeit für den Vollzug für das IfSG bei der Stadt als Kreisverwaltungsbehörde. Die als Beleg für eine vollständige Masernschutzimpfung der Tochter der Klägerin vorgelegten Nachweise könnten nicht akzeptiert werden. Nach Stellungnahme des Gesundheitsamtes liege eine medizinische Kontraindikation, nach der die Tochter der Klägerin nicht geimpft werden könnte, nicht vor. Die Anordnung der Zwangsgelder entspreche pflichtgemäßem Ermessen und stehe nicht in einem unangemessenen Verhältnis zum angestrebten Zweck.
4
2. Mit Schriftsatz vom 18. Januar 2023, eingegangen bei Gericht am 23. Januar 2023, erhob die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid und beantragte,
die Aufhebung des Bescheides vom 27. Dezember 2022 Aktenzeichen: …
5
Zur Klagebegründung führte die Klägerin im Wesentlichen aus: Die Ausführungen in dem Bescheid seien falsch, da die IUB/das Attest vom Arzt inhaltlich richtig, und somit der Nachweis erbracht worden sei. Es sei falsch, dass im Attest fehlende medizinische Sachzusammenhänge dargestellt würden. Sie sei ihrer Nachweispflicht ausreichend nachgekommen, indem sie ein ärztliches Attest vorgelegt und somit die medizinische Kontraindikation nachgewiesen habe.
6
Mit weiterem Schriftsatz vom 10. Februar 2023 machte die Klägerin ergänzende Ausführungen.
7
3. Die Beklagte beantragte sinngemäß,
die Klage abzuweisen.
8
Mit Schriftsatz vom 13. Februar 2023 teilte die Beklagte auf Nachfrage des Gerichts zu ihrer Zuständigkeit hin im Wesentlichen mit: Zwar sei in § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG geregelt, dass die im streitgegenständlichen Bescheid geforderten Nachweise gegenüber dem Gesundheitsamt vorzulegen seien, als Fachbehörde habe das Gesundheitsamt aber keine Vollzugsaufgaben. Dies ergebe sich auch aus den Art. 7 ff. GDG. Die Zuständigkeit der Stadt Aschaffenburg – Ordnungs- und Straßenverkehrsamt – ergebe sich sachlich aus § 65 Satz 1 und Satz 4 ZustV.
9
Mit Schriftsatz vom 20. Februar 2023 führte der Vertreter des öffentlichen Interesses, Regierung von Unterfranken, im Wesentlichen aus: Eine in § 65 Satz 1 ZustV vorbehaltene anderweitige Bestimmung sei in § 65 ZustV enthalten, wonach die unteren Gesundheitsbehörden im Sinn des Art. 1 Abs. 1 Nr. 3 Gesundheitsdienstgesetz (GDG) zuständig seien, soweit im Infektionsschutzgesetz Aufgaben den Gesundheitsämtern zugewiesen würden. Das sei vorliegend mit der Regelung des § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG der Fall. Nach Art. 1 Abs. 1 Nr. 3 GDG seien neben den Landratsämtern die nach Art. 1 Abs. 2 GDG bestimmten Behörden untere Gesundheitsbehörden (Gesundheitsämter). Im Fall der Beklagte komme Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 GDG zum Tragen.
10
Das Gericht ordnete mit Beschluss vom 3. März 2023 (W 8 S 23.90) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid an.
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Die Klägerin verzichtete mit Erklärung vom 15. März 2023, die Beklagte mit Schriftsatz vom 14. März 2023 auf mündliche Verhandlung.
12
Mit Beschluss vom 29. März 2023 übertrug das Gericht den Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig und begründet.
16
Der Bescheid vom 27. Dezember 2022 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17
Der streitgegenständliche Bescheid ist bereits formell rechtswidrig. Die Beklagte war für den Erlass des Bescheides nicht sachlich zuständig.
18
Gem. § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG haben näher bestimmte Personen dem Gesundheitsamt auf Anforderung einen Nachweis nach § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen. Soweit im Infektionsschutzgesetz Aufgaben den Gesundheitsämtern zugewiesen werden, sind gem. § 65 Satz 4 ZustV die unteren Gesundheitsbehörden im Sinn des Art. 1 Abs. 1 Nr. 3 GDG zuständig. Nach Art. 1 Abs. 1 Nr. 3 GDG sind neben den Landratsämtern die nach Art. 1 Abs. 2 GDG bestimmten Behörden untere Gesundheitsbehörden (Gesundheitsämter). Art. 1 Abs. 2 GDG enthält die Bestimmung der für kreisfreie Städte zuständigen Gesundheitsämter. Obwohl die Beklagte eine kreisfreie Stadt ist, kommt ihr nach Art. 1 Abs. 2 GDG nicht die Aufgabe als untere Gesundheitsbehörde zu. Da sie unter Art. 1 Abs. 2 Nr. 2 GDG fällt, ist das Landratsamt, dessen Gebiet die Beklagte vollständig umschließt oder den gleichen Namen wie diese trägt, die untere Gesundheitsbehörde.
19
Unter Berücksichtigung dieser Bestimmungen ist eine sachliche Zuständigkeit der Beklagten nicht gegeben. Aus dem Umstand, dass ein Verstoß gegen § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG eine Ordnungswidrigkeit darstellt (vgl. § 73 Abs. 1a Nr. 7 d IfSG), ergibt sich nichts Abweichendes. Allgemeine Befugnisse als Sicherheitsbehörde sind gegenüber den spezialgesetzlichen Regelungen des IfSG nachrangig.
20
Es kann vorliegend dahinstehen, ob die unzuständige Beklagte befugt wäre, den eigenen Bescheid aufzuheben.
21
Nachdem die Anordnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt, erweisen sich auch die hierauf bezogene, akzessorische Zwangsgeldandrohung in Nr. 2 des Bescheids als auch die Kostenentscheidung in Nr. 4 des Bescheids als rechtswidrig.
22
Nach alledem hat die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO Erfolg.
23
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.