Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 07.03.2023 – W 1 K 22.50066
Titel:

Dublin-Verfahren (Polen)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1 S. 2, Art. 12
Leitsatz:
In der Republik Polen bestehen weder im Asylverfahren noch in den Aufnahmebedingungen systemische Mängel; hinreichende Gründe für die Annahme der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art 3 EMRK bei einer Rückkehr sind nicht feststellbar. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Polen, afghanische Frau, 28 Jahre alt, keine Vulnerabilität, insbesondere keine Krankheit ersichtlich, kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GrCh in Polen auch vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs, Aufnahmestopp ab 01.08.2022 außer Kraft, Abschiebungsanordnung, systemische Mängel, Dublin-Rückkehrer, Massenzustrom von Vertriebenen (Ukraine)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7975

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine afghanische Staatsangehörige, begehrt die Aufhebung einer Abschiebungsanordnung nach Polen.
2
Die 1995 in T… (Afghanistan) geborene Antragstellerin meldete sich am 08.11.2021 als Asylsuchende in Deutschland. Eine durch das Bundesamt durchgeführte EURODAC-Abfrage bezüglich der Antragstellerin ergab keinen Treffer. Am 09.12.2021 stellte die Antragstellerin einen Asylantrag.
3
Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 10.02.2022 gab die Klägerin an, sich seit Juli 2021 in Polen aufgehalten zu haben. Zuvor habe sie in der Türkei gelebt, wo sie auch studiert habe. Sie habe ein Visum für ein Praktikum für Polen bekommen und dort in einem Wohnheim gelebt. Dorthin wolle sie nicht zurückkehren, da sie in Polen Verwandte ihres Verlobten getroffen habe, die sie bedroht hätten. Mit diesem Mann sei sie in Afghanistan zwangsverlobt worden, als sie elf Jahre gewesen sei. Bei der polnischen Polizei sei sie nicht gewesen. Sie habe psychische Probleme seit dieser Geschichte in Polen.
4
Das Bundesamt richtete am 28.12.2021 ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Polen. Die polnischen Behörden erklärten mit Schreiben vom 28.01.2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags der Klägerin gem. Art. 12 Abs. 2 oder 3 Dublin III-VO.
5
Mit Bescheid vom 16.02.2022, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig ab (Nummer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen (Nummer 2), ordnete die Abschiebung der Antragstellerin nach Polen an (Nummer 3) und befristete das zugleich angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nummer 4). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
6
Hiergegen hat die Klägerin erhoben und einen Eilantrag gestellt. Die Klage und der Eilantrag wurden damit begründet, die Klägerin könne wegen der Familie ihres Verlobten nicht zurück nach Polen.
7
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.02.2022 aufzuheben,
hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG bezüglich Polen vorliegen,
hilfsweise,
die Beklagte zu verpflichten, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes zu verkürzen.
8
Das Bundesamt beantragt für die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
9
Mit Beschluss des Einzelrichters vom 16.03.2022 wurde die aufschiebende Wirkung der Klage im Hinblick auf den Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine nach Polen angeordnet.
10
Mit Beschluss der Kammer vom 31.01.2023 wurde der Rechtsstreit auch in der Hauptsache auf den Einzelrichter übertragen.
11
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

12
Die auf Aufhebung des Bescheides vom 16.02.2022 gerichtete Klage, über die in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, jedoch nicht begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 16.02.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat darüber hinaus auch keinen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Polen (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
13
1. Nummer 1 des angegriffenen Bescheides ist rechtmäßig. Die Beklagte hat insoweit zu Recht entschieden, dass der Asylantrag unzulässig ist. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-Verordnung sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Die Republik Polen hat mit Schreiben vom 28.01.2022 ihre Zuständigkeit nach Art. 12 Dublin III-VO bejaht, nachdem sich die Klägerin aufgrund eines von Polen ausgestellten Visums in Polen aufgehalten hatte. Die Republik Polen hat damit auf das mit Schreiben des Bundesamtes vom 28.12.2021 fristgerecht nach Art. 23 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-Verordnung gestellte Wiederaufnahmegesuch reagiert, was die Verpflichtung nach sich zieht, die betreffenden Person wieder aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für ihre Ankunft zu treffen.
14
a) Die Beklagte ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-Verordnung für die Prüfung des Asylantrages der Klägerin zuständig. Denn es sind keine hinreichenden Gründe für die Annahme der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 106) bzw. dem übereinstimmenden Art. 3 EMRK (vgl. Nds OVG, U.v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 26) bei einer Rückkehr der Klägerin nach Polen aufgrund systemischer Mängel im Asylverfahren oder in den dortigen Aufnahmebedingungen feststellbar. Bei der Prüfung, ob ein Mitgliedsstaat hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzsuchenden gegen Art. 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (NdsOVG, U.v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Denn nach dem Konzept, welches Art. 16a Abs. 2 GG und §§ 26a, 29 Abs. 1, 34a AsylG zu Grunde liegt, ist davon auszugehen, dass unter anderem in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt ist und daher dort einem Schutzsuchenden keine politische Verfolgung droht sowie keine für Schutzsuchende unzumutbare Bedingungen herrschen („Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“, vgl. auch EuGH, U.v. 19.03.2019 – C-173/17 – juris Rn. 82, und U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 –, NVwZ 2012, 417; BVerwG, U.v. 09.01.2019 – 1 C 36.18 – juris Rn. 19; Nds. OVG, U.v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich. Eine Widerlegung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU (ABl. 2013, L 180/96), die Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU (ABl. 2011, L 337/9) oder die Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU (ABl. 2013, L 180/60) genügen, um die Überstellung eines Schutzsuchenden an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln (BVerwG, B.v. 06.06.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5; NdsOVG, U.v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Kann einem Mitgliedstaat hingegen nicht unbekannt sein, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende in dem zuständigen Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass ein Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden, hat eine Überstellung zu unterbleiben (vgl. EuGH, U.v. 19.03.2019, C-163/17, juris Rn. 85; vgl. auch BVerwG, B.v. 06.06.2014 – 10 B 35.14 – juris Rn. 5; NdsOVG, U.v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn. 27). Systemische Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.03.2019 – C-163/17 – juris Rn. 92). Das Gericht muss auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte (in einem Klageverfahren) feststellen, dass dieses Risiko für diesen Kläger gegeben ist, weil er sich im Fall der Überstellung unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH, U.v. 19.03.2019 – C-163/17 – juris Rn. 98). Der Nachweis obliegt dem Schutzsuchenden (vgl. EuGH, U.v. 19.03.2019 – C 163/17 – juris Rn. 95).
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Entsprechend den vorstehenden Ausführungen geht das Gericht auf der Basis einer Gesamtwürdigung nach dem aktuellen Erkenntnisstand und im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) nicht davon aus, dass das Asylverfahren in Polen derartigen Mängeln unterliegt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Unterbringungsmöglichkeiten.
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Polen verfügt über ein funktionsfähiges, richtlinienkonformes Asyl- und (Wieder-)Aufnahmeverfahren, das im Normalfall gewährleisten kann, dass Asylbewerber nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen müssen. Diese Einschätzung entspricht auch der herrschenden Auffassung in der aktuellen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. u.a. VG Bayreuth, B.v. 15.12.2022 – B 9 S 22.50233; VG Köln, B.v. 31.8.2022 – 22 L 913/22.A – juris Rn. 18 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 10.8.2022 – 12 L 1303/22.A – juris Rn. 46 ff.; VG Minden, B.v. 2.8.2022 – 12 L 548/22.A – juris Rn. 30 ff.; VG München, B.v. 27.5.2022 – M 30 S 22.50276 – juris Rn. 26 ff.). Insbesondere gibt es keine Berichte über Zugangshindernisse zum Verfahren für Dublin-Rückkehrer. Personen, die im Rahmen der Dublin-Bestimmungen nach Polen zurückkehren, können bei der Grenzwache einen Asylantrag stellen oder die Wiedereröffnung eines etwaigen vorherigen Verfahrens beantragen. Eine Wiedereröffnung ist innerhalb von neun Monaten ab Einstellung möglich. Sind diese neun Monate verstrichen, wird der Antrag als Folgeantrag betrachtet und auf Zulässigkeit geprüft. Im Jahr 2020 wurden 1.044 Entscheidungen (betreffend 1.556 Personen) bezüglich Einstellung von Asylverfahren getroffen; in der überwiegenden Mehrheit der Fälle, weil die Antragsteller nach Antragsstellung nicht in einer Aufnahmeeinrichtung ankamen bzw. diese verließen und nicht binnen sieben Tagen zurückkehrten. Im Jahr 2020 beantragten 124 Personen innerhalb von 9 Monaten eine Wiedereröffnung ihres Verfahrens (Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Polen vom 7.12.2021, S. 4 m.w.N.).
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Auch der fortdauernde Ukrainekrieg und die sich hieraus ergebenden Flüchtlingsbewegungen nach Polen führen nicht zu einer anderen Betrachtung. Zwar sind wegen des Ukrainekrieges bis September 2022 bis zu ca. 6,3 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen geflohen (https://www.laender-analysen.de/polen-analysen/305/die-unterstuetzung-der-polnischen-bevoelkerung-fuer-gefluechtete-aus-der-ukraine/). Andere Quellen sprechen von 9,5 Millionen Menschen (https://de.euronews.com/2023/02/20/polen-fluechtlinge-ukraine), von denen aber fast 8 Millionen wieder zurückgekehrt seien. Zweifellos ist eine verstärkte Rückkehr der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in ihr Herkunftsland zu verzeichnen; so sollen allein über die polnische Grenze täglich ca. 11.000 und zuletzt sogar bis zu 20.000 Menschen zurückkehren. Zudem führt der Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine aber auch zu einer Deckung des Arbeitskräftebedarfs und der Mehrung des polnischen Wohlstandes (https://www.nzz.ch/meinung/naechstenliebe-macht-sich-bezahlt-polen-profitiert-von-ukrainischen-fluechtlingen-ld.1714398?reduced=tru).
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Insofern gilt es auch zu berücksichtigen, dass Schutzsuchende aus der Ukraine aufgrund des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates der Europäischen Union vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der RL 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes kein üblicherweise vorgesehenes Asylverwaltungsverfahren durchlaufen müssen, sondern vielmehr im einem vereinfachten Verwaltungsverfahren einen europaweit gültigen vorübergehenden Schutz mit entsprechendem Zugang zum Arbeitsmarkt und etwaigen Sozialleistungen erhalten (können). Die Aktivierung der RL 2001/55/EG vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (Massenzustrom-Richtlinie) soll eine ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten fördern (vgl. Art. 1 Massenzustrom-Richtlinie; ferner Erwägungsgründe 16 und 20 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 vom 4.3.2022). Ferner gilt es zu berücksichtigen, dass die Schutzsuchenden aus der Ukraine zu einem beachtlichen Teil auch in privat organisierten Unterkünften untergebracht werden oder weiterreisen, was im März 2022 dazu führte, dass die von lokalen polnischen Behörden eingerichteten Unterkunftszentren mit einer Kapazität für ca. 280.000 Menschen weitgehend unbewohnt geblieben sind. Auch erhielt Polen von der Europäischen Kommission 560 Millionen Euro an Hilfsgeldern zur Versorgung von Schutzsuchenden aus der Ukraine.
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Berichte, wonach es derzeit zu einer Überforderung des polnischen Asylsystems kommen soll, etwa durch Engpässe bei der Flüchtlingsunterbringung und -versorgung, insbesondere auch vulnerabler Gruppen, sind dem Gericht dagegen nicht bekannt. Daher gilt zur Überzeugung des Gerichts nach wie vor die Vermutungswirkung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens. Wenngleich Polen vor einer großen Herausforderung steht, vermag das Gericht insbesondere wegen der Aktivierung der Massenzustrom-Richtlinie, der Unterstützung Polens mit Hilfsgeldern und dem Ausbau von Unterkünften in Polen sowie der deutlich abgenommenen Flüchtlingsbewegungen an der polnisch-ukrainischen Grenze und mangels dieser Vermutung entgegenstehender Berichte nicht zu erkennen, dass Polen nicht über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt und der Klägerin schwerwiegende Verstöße und Rechtsbeeinträchtigungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würden (vgl. VG München, B.v. 27.5.2022 – M 30 S 22.50276 – juris Rn. 27 ff.; VG Stade, B.v. 16.12.2022 – 2 B 1739/22; VG Bayreuth, B.v. 15.12.2022 – B 9 S 22.50233; VG Karlsruhe, B.v. 24.10.2022 A 19 K 2557/22; VG Berlin, B.v. 14.12.2022 – 22 L 296/22 A – alle bei juris).
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b) Systemische Schwachstellen ergeben sich auch nicht aus dem Vortrag der Klägerin, zumal diese in Polen vor ihrer Ausreise gar keinen Asylantrag gestellt hatte. Durch ihren legalen Aufenthalt in Polen vor ihrer Ausreise ist sie auch bis zu einem gewissen Grad mit den Verhältnissen in Polen vertraut und dürfte sich dort leichter zurechtfinden als andere Asylbewerber aus Afghanistan.
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c) Nach der Systematik sowie dem Sinn und Zweck der Dublin-Regelungen hat ein(e) Asylbewerber(in) auch kein Wahlrecht, sich den Mitgliedsstaat auszusuchen, in dem er/sie sich bessere Chancen oder angenehmere Aufenthaltsbedingungen erhofft oder nach Ablehnung eines Asylantrags in einen anderen Mitgliedsstaat weiter zu reisen, um eine zusätzliche Prüfung seines Asylantrags mit einem für ihn günstigeren Ergebnis zu erreichen (VG Würzburg – B.v. 2.1.2020 – W 8 19.50836 – juris Rn. 16). Dies gilt auch für die Klägerin, die sich zudem nicht mit Erfolg darauf berufen kann, in Polen der Gefahr der Nachstellung der Familie ihres angeblichen Zwangsverlobten ausgesetzt zu sein. Der diesbezügliche Sachvortrag der Klägerin erscheint nämlich frei erfunden. So ist schon unplausibel, dass die Klägerin ohne weitere Probleme aus Afghanistan in die Türkei zur Aufnahme eines Studiums hätte ausreisen können, wenn sie aus einer orthodoxen Familie in Afghanistan stammen würde, die sie gegen ihren Willen schon als Kind zwangsverlobt hatte. Weiterhin ist der Sachvortrag der Klägerin hinsichtlich des konkreten Vorfalls, der zur Ausreise aus Polen geführt haben soll, widersprüchlich, da sie beim Bundesamt angegeben hatte, Verwandte (Cousins) des angeblichen Verlobten hätten sie in Polen gefunden, während sie in der mündlichen Verhandlung zunächst davon sprach, der angebliche Verlobte selbst habe sie in Polen aufgesucht und erst auf Vorhalt wieder von Cousins des Verlobten sprach. Abgesehen davon, dass auch der gesamte Sachvortrag der Klägerin insoweit beim Bundesamt unplausibel ist, macht dieser Widerspruch, den die Klägerin nicht erklären konnte, den Vortrag vollends unglaubhaft. Im Übrigen hätte die Klägerin sich auch der Hilfe polnischer Behörden bedienen können, wenn sie dort in der von ihr geschilderten Weise bedroht worden wäre. Dies hat die Klägerin aber offensichtlich noch nicht einmal in Erwägung gezogen.
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d) Dass bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber in Polen keine Sozialleistungen mehr erhalten und grundsätzlich mit ihrer Abschiebung in ihr Heimatland zu rechnen haben, ist ebenfalls kein relevanter Mangel des Asylverfahrens und auch im Übrigen nicht menschenrechtswidrig. Der Anwendungsbereich der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180 S. 96) – im Folgenden: Aufnahmerichtlinie –, die in Art. 17 ff. die Gewährung einer materiellen Grundversorgung einschließlich der medizinischen Versorgung vorschreibt, ist auf „Antragsteller“ beschränkt, d.h. auf Personen, über deren Antrag auf internationalen Schutz noch nicht endgültig entschieden wurde (vgl. Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 2b der Aufnahmerichtlinie). Ist das Verfahren indes abgeschlossen und der Schutzsuchende zur Ausreise verpflichtet, kann er sich nicht mehr auf die Gewährung von Leistungen berufen, die von einem Mitgliedstaat im Rahmen des Asylverfahrens grundsätzlich zu gewähren sind. Darüber hinaus hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in diesem Zusammenhang ausdrücklich festgestellt, dass ausgewiesene Ausländer keinen Anspruch darauf haben, im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates zu verbleiben, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren, die vom ausweisenden Staat grundsätzlich zur Verfügung gestellt wird (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – Nr. 27725/10 -ZAR 2013, 336). Dementsprechend kann auch die Verweigerung bzw. der Entzug einer Arbeitserlaubnis für bestandskräftig abgelehnte Asylbewerber keinen systemischen Mangel des Asylverfahrens begründen.
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e) Die Beklagte ist auch nicht verpflichtet, nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO selbst in die materielle Prüfung des Asylbegehrens der Klägerin einzutreten. Eine Pflicht zum Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO nach erfolgter Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats kommt nur in sehr eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht und ist selbst nach Ablauf der Überstellungsfrist nicht zwingend anzunehmen (vgl. EuGH, U.v. 14.11.2013 – C-4/11 – NVwZ 2014, 129 Rn. 37). Anhaltspunkte hierfür sind nicht ersichtlich. Insbesondere vermag der Vortrag der Klägerin keine solchen zu begründen.
24
f) Ein der Abschiebung nach Polen entgegenstehendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der Beklagten auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen wäre (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 11 f.), ist ebenfalls weder vorgetragen noch ersichtlich.
25
g) Auch wenn man neben der Frage des Vorliegens systemischer Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO in Dublin-Verfahren nach dem Wortlaut von § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG eine Prüfung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG für erforderlich hält (a.A. VG Potsdam, B.v. 19.10.2016 – 6 L 977/16.A – juris), führt dies im Ergebnis nicht dazu, dass hier solche Abschiebungsverbote anzuerkennen wären. Das Vorliegen der Voraussetzungen von § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG ist nicht ersichtlich.
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Insbesondere liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG nicht vor. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist.
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Die Klägerin hat keine Erkrankungen geltend gemacht. Im Übrigen ist eine ausreichende medizinische Versorgung auch in Polen gewährleistet. Asylbewerber in Polen haben ab Registrierung ihres Asylantrags (in Notfällen schon ab Asylantragstellung) das gesetzlich garantierte Recht auf medizinische Versorgung im selben Ausmaß wie für versicherte polnische Staatsbürger. Dieses Recht besteht auch dann weiter, wenn die materielle Versorgung, aus welchen Gründen auch immer, reduziert oder eingestellt wird. Die medizinische Versorgung von Asylbewerbern wird öffentlich finanziert. Die medizinische Grundversorgung wird über die Krankenreviere der Unterbringungszentren gewährleistet, in denen der Arzt pro 120 Asylbewerber sechs Ordinationsstunden und die Pflegekraft 20 Ordinationsstunden leisten. Für je 50 weitere Asylbewerber sind je drei Stunden mehr für Arzt und Pflegekraft vorgesehen. Sie kommen mindestens dreimal die Woche ins Zentrum. Zusätzlich sind für je 50 Kinder im Zentrum vier Ordinationsstunden/Woche für einen Kinderarzt mit zusätzlichen zwei Stunden für je 20 weitere Kinder vorgesehen.
28
2. Auch die in Nummer 3 des angegriffenen Bescheides verfügte Abschiebungsanordnung nach Polen ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt dann, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesem Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies ist vorliegend entsprechend obiger Ausführungen unter 1. bezüglich Polen der Fall.
29
Es steht vorliegend auch i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung nach Polen durchgeführt werden kann. Voraussetzung für das Tatbestandsmerkmal des Feststehens ist, dass eine Überstellung in den jeweiligen Zielstaat sowohl rechtlich zulässig als auch zeitnah – mit großer Wahrscheinlichkeit – tatsächlich möglich ist (vgl. vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 15. April 2019 – AN 14 S 19.50278 –, juris Rdnr. 17; VG Wiesbaden, Urteil vom 6. Mai 2022 – 3 K 1656/18.WI.A –, Rn. 49, juris Pietzsch in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1. Januar 2022, § 34a AsylG Rdnr. 9; Müller in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 34a AsylG Rdnr. 11 ff.; Bergmann in Dienelt/Bergmann, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 34a AsylG Rdnr. 3). Abzustellen ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Dies zugrunde gelegt, ist vorliegend von einem Feststehen im o.g. Sinne auszugehen (so für die vorliegende Konstellation auch: VG Gießen, B.v. 02.02.2023 – 5 L 2581/22.GI.A; VG Gießen, U.v. 01.02.2023 -5 K 940/21.GI.A; VG München, B.v. 27.01.2023 – 10 S 22.50577; VG Regensburg, U.v. 27.01.2023 – RN 15 K 22.50498; VG Regensburg, B.v. 23.01.2023 – RO 13 S S 23.50009 –, juris; VG Aachen, B.v. 18.01.2023 – 9 L 22/23.A –, juris; VG Göttingen, B.v. 06.01.2023 – 1 B 170/22 –, juris; aA VG Gelsenkirchen, B.v. 05.01.2023 – 1a L 1642/22.A –, juris). Zwar hatte die Republik Polen mit Erklärung vom 25.02.2022 zunächst angegeben, bis auf weiteres keine Dublin-Rückkehrer mehr entgegennehmen zu können, diese Erklärung aber mit Schreiben vom 01.08.2022 wieder widerrufen, so dass mittlerweile auch zwischen dem 01.08.2022 und dem 31.12.2022 258 Personen nach Polen überstellt werden konnten, wie das Bundesamt mit Schriftsatz vom 07.02.2022 mitgeteilt hat.
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Darüber hinaus ist auch kein sonstiges inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis ersichtlich, welches im Rahmen einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ebenfalls zum Prüfungsumfang des Bundesamts und demzufolge auch des Verwaltungsgerichts gehört (BayVGH, B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris m.w.N.).
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3. Das in Nummer 4 getroffene Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist ebenfalls rechtmäßig. Das Verbot ist nach dem Gesetzeswortlaut zwingend anzuordnen. Die Festsetzung der Frist erfolgt nach § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessenswege. Die Beklagte hat ihr Ermessen vorliegend auch ausgeübt. Dass die festgesetzte Frist von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung vorliegend ermessensfehlerhaft wäre, ist nicht erkennbar.
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4. Schließlich ist auch der gestellte Hilfsantrag auf die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG unbegründet. Insoweit wird vollumfänglich auf die obigen Ausführungen unter 2. i.V.m. 1. verwiesen.
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5. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b Abs. 1 AsylG.