Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 11.04.2023 – RN 7 K 19.925
Titel:

Aussetzung und Vorlage an EuGH, Vorabentscheidungsverfahren des EuGH, Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, Zulässiger Rechtsweg bei Vollstreckung durch Europäische, Agentur (ECHA)

Normenketten:
AEUV Art. 274, 288, 299
REACH-Verordnung Art. 94 Abs. 1
REACH-Gebührenverordnung Art. 13 Abs. 4
VwGO §§ 40, 94, 167, 173
ZPO §§ 753, 764
Schlagworte:
Aussetzung und Vorlage an EuGH, Vorabentscheidungsverfahren des EuGH, Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, Zulässiger Rechtsweg bei Vollstreckung durch Europäische, Agentur (ECHA)
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7868

Tenor

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006, wonach gegen eine Entscheidung der Agentur Klage zum Gericht der Europäischen Union erhoben werden kann, dahin auszulegen, dass auch die Vollstreckbarkeit von Entscheidungen der Agentur Gegenstand einer Klage sein kann?
2. Sofern die erste Frage zu verneinen ist: Ist Art. 299 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen, dass er nicht nur auf Rechtsakte anzuwenden ist, die durch den Rat, die Kommission oder die Europäische Zentralbank erlassen wurden, sondern auch auf Entscheidungen der …, mit denen ein Verwaltungsentgelt auferlegt wurde?
3. Sofern die zweite Frage zu bejahen ist: Ist Art. 299 Abs. 2 AEUV dahin auszulegen, dass sich der Verweis auf Vorschriften des Zivilprozessrechts des Mitgliedsstaates nicht nur auf die Verfahrensvorschriften, sondern auch auf die Zuständigkeitsregelungen bezieht?

Gründe

I.
1
Gegenstand des Verfahrens ist ein Anspruch auf Zahlung eines Verwaltungsentgelts für eine Registrierung nach der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006.
2
Die Klägerin ist eine Agentur der Europäischen Union mit Sitz in H* … Die Klägerin ist für die Verwaltung und Durchführung der technischen, wissenschaftlichen und administrativen Aspekte der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 zuständig.
3
Die Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 enthält Regelungen zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der chemischen Industrie in der Europäischen Union sowie zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt vor Risiken, die durch Chemikalien entstehen können.
4
Hersteller und Importeure von chemischen Stoffen unterliegen einer Registrierungspflicht nach der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006. Für die Registrierung sind Verwaltungsentgelte und Gebühren zu entrichten, deren Höhe sich nach der Verordnung (EG) Nr. 340/2008 bestimmt. Die Höhe der Verwaltungsentgelte richtet sich nach der Unternehmensgröße.
5
Am 16. November 2010 reichte die Beklagte bei der Klägerin ein Registrierungsdossier (Registration-Nr.: …*) ein und machte einen Anspruch auf ermäßigte Gebühren und Verwaltungsentgelte als Kleinstunternehmen geltend.
6
Die Klägerin überprüfte im Jahr 2013 die Angaben der Beklagten zur Unternehmensgröße. In diesem Zusammenhang wies die Klägerin die Beklagte mit Schreiben vom 31. Mai 2013 darauf hin, dass Klein- und mittelständische Unternehmen eine Ermäßigung von Gebühren und Entgelten beanspruchen können. Hierzu sei es erforderlich, Nachweise zur Unternehmensgröße vorzulegen. Ohne Vorlage dieser Nachweise komme eine Ermäßigung nicht in Betracht.
7
Am 20. November 2013 erließ die Klägerin die Entscheidung SME (2013) … und stellte diese der Beklagten zu. In dieser Entscheidung stellte die Klägerin fest, dass die Beklagte nicht berechtigt sei, eine Ermäßigung des Verwaltungsentgelts in Anspruch zu nehmen. Daher sei ein zusätzliches Verwaltungsentgelt in Höhe von 9.950,00 EUR in Rechnung zu stellen. Diese Entscheidung war mit einer Rechtsbehelfsbelehrungversehen, wonach die Klägerin innerhalb von 2 Monaten ab Zugang der Entscheidung Klage vor dem Gericht der Europäischen Union erheben kann.
8
Mit Schreiben vom 22. November 2013 übersandte die Klägerin der Beklagten die in der Entscheidung SME (2013) … angekündigte Rechnung über die Zahlung des Verwaltungsentgeltes in Höhe von 9.950,00 EUR, fällig zum 22. Dezember 2013.
9
Mit Schreiben vom 22. Dezember 2013 erinnerte die Klägerin an die ausstehende Zahlung. Als Fälligkeitsdatum wurde nunmehr der 20. Februar 2014 angegeben.
10
Die Beklagte zahlte weder das Verwaltungsentgelt noch erhob sie Klage beim Gericht der Europäischen Union gegen die Entscheidung SME (2013) … vom 20. November 2013.
11
Am 15. Mai 2019 ließ die Klägerin Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erheben und begehrt von der Beklagten Zahlung in Höhe von 9.950,00 EUR.
II.
12
Die maßgeblichen Vorschriften des Unionsrechts finden sich in:
Art. 274 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon (Konsolidierte Fassung bekanntgemacht im ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 47), zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. EU L 112/21 vom 24.4.2012) m.W.v. 1.7.2013, im Folgenden: AEUV Soweit keine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union aufgrund der Verträge besteht, sind Streitsachen, bei denen die Union Partei ist, der Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichte nicht entzogen.
Art. 288 AEUV
13
(1) Für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union nehmen die Organe Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen an.
14
(2) Die Verordnung hat allgemeine Geltung. Sie ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
15
(3) Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
16
(4) Beschlüsse sind in allen ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich.
17
(5) Die Empfehlungen und Stellungnahmen sind nicht verbindlich.
Art. 299 AEUV
18
(1) Die Rechtsakte des Rates, der Kommission oder der Europäischen Zentralbank, die eine Zahlung auferlegen, sind vollstreckbare Titel; dies gilt nicht gegenüber Staaten.
19
(2) Die Zwangsvollstreckung erfolgt nach den Vorschriften des Zivilprozessrechts des Staates, in dessen Hoheitsgebiet sie stattfindet. Die Vollstreckungsklausel wird nach einer Prüfung, die sich lediglich auf die Echtheit des Titels erstrecken darf, von der staatlichen Behörde erteilt, welche die Regierung jedes Mitgliedstaats zu diesem Zweck bestimmt und der Kommission und dem Gerichtshof der Europäischen Union benennt.
20
(3) Sind diese Formvorschriften auf Antrag der die Vollstreckung betreibenden Partei erfüllt, so kann diese die Zwangsvollstreckung nach innerstaatlichem Recht betreiben, indem sie die zuständige Stelle unmittelbar anruft.
21
(4) Die Zwangsvollstreckung kann nur durch eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgesetzt werden. Für die Prüfung der Ordnungsmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahmen sind jedoch die einzelstaatlichen Rechtsprechungsorgane zuständig.
Art. 74 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH), zur Schaffung einer Europäischen Chemikalienagentur, zur Änderung der RL 1999/45/EG und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 793/93 des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1488/94 der Kommission, der RL 76/769/EWG des Rates sowie der Richtlinien 91/155/EWG, 93/67/EWG, 93/105/EG und 2000/21/EG der Kommission (ABl. 2006, L 396, S. 1), im Folgenden: Verordnung Nr. 1907/2006
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(1) Die nach Artikel 6 Absatz 4, Artikel 7 Absätze 1 und 5, Artikel 9 Absatz 2, Artikel 11 Absatz 4, Artikel 17 Absatz 2, Artikel 18 Absatz 2, Artikel 19 Absatz 3, Artikel 22 Absatz 5, Artikel 62 Absatz 7 und Artikel 92 Absatz 3 erforderlichen Gebühren werden in einer Verordnung der Kommission festgesetzt, die nach dem in Artikel 133 Absatz 3 genannten Verfahren bis zum 1. Juni 2008 erlassen wird.
23
(2) Für die Registrierung eines Stoffes in einer Menge zwischen 1 und 10 Tonnen braucht keine Gebühr entrichtet zu werden, wenn das Registrierungsdossier die gesamten Informationen nach Anhang VII enthält.
24
(3) Bei Struktur und Höhe der Gebühren nach Absatz 1 werden die Arbeiten berücksichtigt, die die Agentur und die zuständige Behörde aufgrund dieser Verordnung durchzuführen haben; die Gebühren werden so angesetzt, dass die aus ihnen erzielten Einnahmen in Verbindung mit anderen Einnahmequellen der Agentur nach Artikel 96 Absatz 1 ausreichen, um die Kosten für die erbrachten Dienstleistungen zu decken. Bei der Festsetzung der Registrierungsgebühren wird berücksichtigt, welche Arbeiten nach Titel VI gegebenenfalls durchgeführt werden. Im Fall des Artikels 6 Absatz 4, des Artikels 7 Absätze 1 und 5, des Artikels 9 Absatz 2, des Artikels 11 Absatz 4, des Artikels 17 Absatz 2 und des Artikels 18 Absatz 2 wird bei Struktur und Höhe der Gebühren der Mengenbereich des registrierten Stoffes berücksichtigt. In allen Fällen wird für KMU eine ermäßigte Gebühr festgesetzt. Im Fall des Artikels 11 Absatz 4 wird bei Struktur und Höhe der Gebühren berücksichtigt, ob Informationen gemeinsam oder getrennt eingereicht wurden. Im Fall eines Antrags nach Artikel 10 Buchstabe a Ziffer xi werden bei Struktur und Höhe der Gebühren die Arbeiten berücksichtigt, die von der Agentur bei der Beurteilung der Begründung verlangt werden.
25
(4) In der in Absatz 1 genannten Verordnung der Kommission wird angegeben, unter welchen Umständen ein Teil der Gebühren der zuständigen Behörde des jeweiligen Mitgliedstaates abgetreten wird.
26
(5) Die Agentur kann Entgelte für andere ihrer Leistungen erheben.
Art. 94 der Verordnung Nr. 1907/2006
27
(1) Zur Anfechtung einer Entscheidung der Widerspruchskammer oder – im Fall nicht widerspruchsfähiger Entscheidungen – der Agentur kann nach Maßgabe des Artikels 230 des Vertrags Klage beim Gericht erster Instanz erhoben werden.
28
(2) Trifft die Agentur keine Entscheidung, so kann nach Maßgabe des Artikels 232 des Vertrags Untätigkeitsklage beim Gericht erster Instanz oder beim Gerichtshof erhoben werden.
29
(3) Die Agentur hat die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil des Gerichts erster Instanz oder des Gerichtshofs ergeben.
Art. 13 der Verordnung (EG) Nr. 340/2008 der Kommission vom 16. April 2008 über die an die … zu entrichtenden Gebühren und Entgelte gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH) (ABl. 2008, L 107, S. 6), im Folgenden: Verordnung (EG) Nr. 340/2008
30
(1) Eine natürliche oder juristische Person, die nach Artikel 3 bis 10 Anspruch auf ermäßigte Gebühren oder Entgelte beanspruchen kann, teilt dies der Agentur bei der Einreichung von gebührenpflichtigen Registrierungen, bei Aktualisierungen, Mitteilungen, Anträgen, Überprüfungsberichten oder Widersprüchen mit.
31
(2) Eine natürliche oder juristische Person, die nach Artikel 74 Absatz 2 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 einen Gebührenverzicht beanspruchen kann, teilt dies der Agentur bei Einreichung der Registrierung mit.
32
(3) Die Agentur kann jederzeit einen Nachweis darüber verlangen, dass die Voraussetzungen für eine Ermäßigung der Gebühren oder Entgelte beziehungsweise für einen Gebührenverzicht vorliegen.
33
(4) Wenn eine natürliche oder juristische Person, die eine Ermäßigung oder einen Gebührenverzicht beanspruchen kann, diesen Anspruch nicht belegen kann, erhebt die Agentur die Gebühr oder das Entgelt in voller Höhe sowie ein Verwaltungsentgelt. Wenn eine natürliche oder juristische Person, die einen Anspruch auf Ermäßigung geltend macht, bereits eine ermäßigte Gebühr oder ein ermäßigtes Entgelt entrichtet hat, diesen Anspruch jedoch nicht belegen kann, so stellt die Agentur die Differenz zur vollen Gebühr oder zum vollen Entgelt sowie ein Verwaltungsentgelt in Rechnung. Artikel 11 Absätze 2, 3 und 5 gilt entsprechend.
34
Die einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts lauten wie folgt:
„Art. 101 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.05.1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.12.2022 (BGBl. I S. 2478), im Folgenden: GG
(1) Ausnahmegerichte sind unzulässig. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.“
(2) Gerichte für besondere Sachgebiete können nur durch Gesetz errichtet werden.
§ 17 a Gerichtsverfassungsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I S. 1077), zuletzt geändert durch Artikel 5 des Gesetzes vom 19. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2606), im Folgenden: GVG
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(1) Hat ein Gericht den zu ihm beschrittenen Rechtsweg rechtskräftig für zulässig erklärt, sind andere Gerichte an diese Entscheidung gebunden.
36
(2) Ist der beschrittene Rechtsweg unzulässig, spricht das Gericht dies nach Anhörung der Parteien von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Sind mehrere Gerichte zuständig, wird an das vom Kläger oder Antragsteller auszuwählende Gericht verwiesen oder, wenn die Wahl unterbleibt, an das vom Gericht bestimmte. Der Beschluss ist für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtsweges bindend.
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(3) Ist der beschrittene Rechtsweg zulässig, kann das Gericht dies vorab aussprechen. Es hat vorab zu entscheiden, wenn eine Partei die Zulässigkeit des Rechtsweges rügt.
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(4) Der Beschluss nach den Absätzen 2 und 3 kann ohne mündliche Verhandlung ergehen. Er ist zu begründen. Gegen den Beschluss ist die sofortige Beschwerde nach den Vorschriften der jeweils anzuwendenden Verfahrensordnung gegeben. Den Beteiligten steht die Beschwerde gegen einen Beschluss des oberen Landesgerichts an den obersten Gerichtshof des Bundes nur zu, wenn sie in dem Beschluss zugelassen worden ist. Die Beschwerde ist zuzulassen, wenn die Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn das Gericht von der Entscheidung eines obersten Gerichtshofes des Bundes oder des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes abweicht. Der oberste Gerichtshof des Bundes ist an die Zulassung der Beschwerde gebunden.
39
(5) Das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache entscheidet, prüft nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist.
40
(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten für die in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuständigen Spruchkörper in ihrem Verhältnis zueinander entsprechend.
41
§ 40 Verwaltungsgerichtsordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 19. März 1991 (BGBl. I S. 686), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 14. März 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 71), im Folgenden: VwGO
42
(1) Der Verwaltungsrechtsweg ist in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art gegeben, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind. Öffentlichrechtliche Streitigkeiten auf dem Gebiet des Landesrechts können einem anderen Gericht auch durch Landesgesetz zugewiesen werden.
43
(2) Für vermögensrechtliche Ansprüche aus Aufopferung für das gemeine Wohl und aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung sowie für Schadensersatzansprüche aus der Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten, die nicht auf einem öffentlich-rechtlichen Vertrag beruhen, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben; dies gilt nicht für Streitigkeiten über das Bestehen und die Höhe eines Ausgleichsanspruchs im Rahmen des Artikels 14 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die besonderen Vorschriften des Beamtenrechts sowie über den Rechtsweg bei Ausgleich von Vermögensnachteilen wegen Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte bleiben unberührt.
§ 167 VwGO
44
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
45
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
§ 168 VwGO
46
(1) Vollstreckt wird
1.
aus rechtskräftigen und aus vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidungen,
2.
aus einstweiligen Anordnungen,
3.
aus gerichtlichen Vergleichen,
4.
aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen,
5.
aus den für vollstreckbar erklärten Schiedssprüchen öffentlich-rechtlicher Schiedsgerichte, sofern die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit rechtskräftig oder für vorläufig vollstreckbar erklärt ist.
47
(2) Für die Vollstreckung können den Beteiligten auf ihren Antrag Ausfertigungen des Urteils ohne Tatbestand und ohne Entscheidungsgründe erteilt werden, deren Zustellung in den Wirkungen der Zustellung eines vollständigen Urteils gleichsteht.
§ 173 VwGO
48
Soweit dieses Gesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, sind das Gerichtsverfassungsgesetz und die Zivilprozeßordnung einschließlich § 278 Absatz 5 und § 278a entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen; Buch 6 der Zivilprozessordnung ist nicht anzuwenden. Die Vorschriften des Siebzehnten Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes sind mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass an die Stelle des Oberlandesgerichts das Oberverwaltungsgericht, an die Stelle des Bundesgerichtshofs das Bundesverwaltungsgericht und an die Stelle der Zivilprozessordnung die Verwaltungsgerichtsordnung tritt. Gericht im Sinne des § 1062 der Zivilprozeßordnung ist das zuständige Verwaltungsgericht, Gericht im Sinne des § 1065 der Zivilprozeßordnung das zuständige Oberverwaltungsgericht.
49
§ 753 Zivilprozessordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3202; 2006 I S. 431; 2007 I S. 1781), zuletzt geändert durch Artikel 19 des Gesetzes vom 22. Februar 2023 (BGBl. 2023 I Nr. 51), im Folgenden: ZPO
50
(1) Die Zwangsvollstreckung wird, soweit sie nicht den Gerichten zugewiesen ist, durch Gerichtsvollzieher durchgeführt, die sie im Auftrag des Gläubigers zu bewirken haben.
51
(2) Der Gläubiger kann wegen Erteilung des Auftrags zur Zwangsvollstreckung die Mitwirkung der Geschäftsstelle in Anspruch nehmen. Der von der Geschäftsstelle beauftragte Gerichtsvollzieher gilt als von dem Gläubiger beauftragt.
52
(3) Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates verbindliche Formulare für den Auftrag einzuführen. Für elektronisch eingereichte Aufträge können besondere Formulare vorgesehen werden.
53
(4) Schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Parteien sowie schriftlich einzureichende Auskünfte, Aussagen, Gutachten, Übersetzungen und Erklärungen Dritter können als elektronisches Dokument beim Gerichtsvollzieher eingereicht werden. Für das elektronische Dokument gelten § 130a, auf dieser Grundlage erlassene Rechtsverordnungen sowie § 298 entsprechend. Die Bundesregierung kann in der Rechtsverordnung nach § 130a Absatz 2 Satz 2 besondere technische Rahmenbedingungen für die Übermittlung und Bearbeitung elektronischer Dokumente in Zwangsvollstreckungsverfahren durch Gerichtsvollzieher bestimmen.
54
(5) § 130d gilt entsprechend.
§ 764 ZPO
55
(1) Die den Gerichten zugewiesene Anordnung von Vollstreckungshandlungen und Mitwirkung bei solchen gehört zur Zuständigkeit der Amtsgerichte als Vollstreckungsgerichte.
56
(2) Als Vollstreckungsgericht ist, sofern nicht das Gesetz ein anderes Amtsgericht bezeichnet, das Amtsgericht anzusehen, in dessen Bezirk das Vollstreckungsverfahren stattfinden soll oder stattgefunden hat.
57
(3) Die Entscheidungen des Vollstreckungsgerichts ergehen durch Beschluss.
58
Bekanntmachung über die Zuständigkeit für die Erteilung der Vollstreckungsklausel zu Entscheidungen von Organen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der europäischen Atomgemeinschaft vom 3. Februar 1961, Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1961, Teil II, Seite 50, im Folgenden: Bekanntmachung vom 3. Februar 1961 Für die Erteilung der Vollstreckungsklausel nach Art. 192 Abs. 2 des Vertrages zur Gründung der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 5 und 20 März 1957 (Bundesgesetzbl. II S. 753, 1014) ist der Bundesminister der Justiz zuständig.
III.
59
1. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hängt von der Auslegung des Unionsrechts, insbesondere der Art. 94 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 und Art. 299 AEUV ab. Vor einer Entscheidung über die Klage ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b), Abs. 2 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
a) Zur Vorlagefrage 1
60
Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht klären lassen, ob der Rechtsweg zu den Unionsgerichten eröffnet ist, wenn eine europäische Agentur die Vollstreckung einer Zahlungsverpflichtung aufgrund einer unanfechtbaren Entscheidung begehrt.
61
Ein deutsches Gericht, bei dem eine Klage erhoben wurde, darf eine inhaltliche Entscheidung zur Sache und damit zur Begründetheit einer Klage nur treffen, wenn der Rechtsweg eröffnet ist und die übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen. In Deutschland gibt es fünf selbstständige Gerichtsbarkeiten: die ordentliche Gerichtsbarkeit mit der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, die Arbeitsgerichtsbarkeit, die Sozialgerichtsbarkeit, die Finanzgerichtsbarkeit und die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
62
Das angerufene Gericht hat von Amts wegen die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs zu prüfen. Wird der Verwaltungsrechtsweg beschritten, obwohl dieser nach Maßgabe des § 40 VwGO und den auf- oder abdrängenden Sonderzuweisungen nicht eröffnet ist, hat das angerufene Verwaltungsgericht den Rechtsstreit nach § 17a Abs. 2 GVG an das Gericht zu verweisen, welches für diesen in der ersten Instanz zuständig ist. Das Gericht, an das verwiesen wurde, darf die Sache weder an das abgebende Gericht zurückverweisen noch an ein Gericht eines anderen Rechtswegs weiterverweisen.
63
Gemäß § 17 a Abs. 4 Satz 1 GVG erfolgt die Verweisung durch Beschluss. Der Verweisungsbeschluss ist nach § 17 a Abs. 2 Satz 3 GVG für das Gericht, an welches der Rechtsstreit verwiesen wurde, hinsichtlich des Rechtswegs bindend.
64
Ausnahmsweise entfällt die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses bei schweren und offensichtlichen Rechtsverstößen oder offensichtlicher Unrichtigkeit. Dies ist der Fall, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht. Eine solche Willkür liegt vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grundes entbehrt, sodass sich die Verweisung in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entfernt.
65
Das vorlegende Gericht hat daher zu prüfen, ob im konkreten Fall der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet, wenn entweder eine Spezialvorschrift einschlägig ist, die diese Rechtsfolge vorsieht (aufdrängende Sonderzuweisung) oder aber wenn die Voraussetzungen der Generalklausel gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO erfüllt sind und die Streitigkeit nicht ausdrücklich einer anderen Gerichtsbarkeit zugewiesen wird (abdrängende Sonderzuweisung).
66
Gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nichtverfassungsrechtlicher Art eröffnet, soweit die Streitigkeiten nicht durch Bundes- oder Landesgesetz ausdrücklich einem anderen Gericht zugewiesen sind.
67
Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Beurteilung, ob der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, die Natur des im Sachvortrag der Klägerin behaupteten Rechtsverhältnisses ist, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird. Das Rechtsverhältnis ist auf der Grundlage des klägerischen Begehrens und des zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalts zu ermitteln. Abzustellen ist mithin auf den Streitgegenstand, das heißt den prozessualen Anspruch, der durch den zur Begründung vorgetragenen tatsächlichen Lebenssachverhalt (Klagegrund) näher bestimmt wird.
68
Im vorliegenden Fall begehrt die Klägerin Zahlung eines fälligen und unanfechtbaren Verwaltungsentgelts in Höhe von 9.950,00 EUR nach der Verordnung (EG) Nr. 340/2008. Das klägerische Begehren ist daher auf Durchsetzung der Zahlungsverpflichtung nach dem Vollstreckungsrecht gerichtet.
69
Ob der Verwaltungsrechtsweg in Vollstreckungssachen eröffnet ist, richtet sich nach der Herkunft des Titels. Auf den materiell-rechtlichen Charakter des zu vollstreckenden Anspruchs kommt es nicht an, denn Gegenstand des Vollstreckungsverfahrens ist nicht mehr das Befinden über einen materiellen Anspruch, sondern dessen Durchsetzung mit den Machtmitteln des Staates.
70
Die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für das Vollstreckungsverfahren bestimmt sich ausschließlich nach § 167 VwGO, der als lex specialis die Generalklausel des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO verdrängt. Nach herrschender Meinung lässt sich aus § 167 VwGO entnehmen, dass die Vorschrift rechtswegbestimmend sein soll. Die Sonderzuweisung des § 167 VwGO setzt einen Vollstreckungstitel aus einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren gemäß § 168 Abs. 1 VwGO voraus. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts liegt diese Voraussetzung im konkreten Fall nicht vor, da die Klägerin die Beklagte zur Zahlung verpflichtet, ohne dass ein gerichtliches Verfahren vorausgegangen ist. Ob ein materiell-rechtlicher Zahlungsanspruch auf Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 340/2008 überhaupt entstanden ist, wurde gerichtlich nicht entschieden. Die Klägerin begründet den Zahlungsanspruch allein mit ihrer Entscheidung SME (2013) 4439 vom 20. November 2013, die nunmehr unanfechtbar ist.
71
Es könnte Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 340/2008 eine abdrängende Sonderzuweisung sein mit der Folge, dass der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet wäre und das Verwaltungsgericht Regensburg nicht über die Klage entscheiden darf.
72
Nach Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 kann zur Anfechtung einer Entscheidung der Widerspruchskammer oder – im Fall nicht widerspruchsfähiger Entscheidungen – der Agentur nach Maßgabe des Art. 263 AEUV Klage zu den Unionsgerichten erhoben werden. Bei der Entscheidung SME (2013) … vom 20. November 2013 handelt es sich nicht um eine widerspruchsfähige Entscheidung gemäß Art. 91 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006, denn die Entscheidung der Agentur beruht auf Art. 13 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 340/2008.
73
Nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 ist eine Klage bei den Unionsgerichten nur zulässig, wenn eine Entscheidung der Agentur angefochten wird. Eine Anfechtung im Sinne dieser Vorschrift setzt voraus, dass eine natürliche oder juristische Person, die zur Zahlung eines Entgeltes verpflichtet ist, Klage erhebt. Im vorliegenden Fall ist es jedoch die Agentur, die gegen die entgeltpflichtige Beklagte gerichtlichen Rechtsschutz ersucht.
74
Die Klägerin ist der Auffassung, dass in einer solchen Konstellation Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 keine Anwendung findet. Zwar sehe die Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 in Art. 94 einen Rechtsbehelf vor. Diese Norm biete der Klägerin jedoch keine Möglichkeit, auf Einhaltung der Zahlungsverpflichtung zu klagen. Ebenso wenig sei die Klägerin mit der Kompetenz ausgestattet, die Entscheidung gegen juristische Personen in Deutschland zu vollstrecken.
75
Die Beklagte ist hingegen der Auffassung, dass für die Vollziehung unionsrechtlicher Maßnahmen der Unionsrichter zuständig sei. Der Rechtsweg sei umfassend in Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 geregelt. Es sei nicht zwischen der Festsetzung eines Verwaltungsentgeltes und seiner Durchsetzung zu unterscheiden. Eine derartig künstliche Aufspaltung liege fern, da Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 auf eine umfassende Kontrolle des Verwaltungshandelns der Klägerin als Unionsbehörde abziele.
76
Das vorlegende Gericht schließt sich den Ausführungen der Beklagten an und ist der Auffassung, dass gemäß Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 der Rechtsweg zu den Unionsgerichten eröffnet ist. Ergänzend zu dem Vorbringen der Beklagten spricht für eine Zuständigkeit der Unionsgerichte, dass eine hoheitliche Maßnahme – hier in Form einer Entscheidung über die Höhe der Verwaltungsentgelte – unmittelbar durch eine Agentur ausgeführt wird. Es liegt folglich ein Fall des direkten Unionsrechtsvollzugs vor. Nur in Fällen, in denen unionsrechtliches Verwaltungshandeln durch nationale Behörden erfolgt (indirekter Unionrechtsvollzugs) ist hingegen der Rechtsweg zu den deutschen Verwaltungsgerichten eröffnet, da ein Rechtsakt der deutschen öffentlichen Gewalt vorliegt. Daher scheint es sachgerecht, hoheitsrechtliche Entscheidungen einer Agentur als Einrichtung der Union vollumfänglich von den europäischen Gerichten prüfen zu lassen.
77
Weiterhin spricht für eine Zuständigkeit der Unionsgerichte die Regelung des Art. 299 Abs. 4 AEUV, nach der der Gerichtshof der Europäischen Union ausschließlich zuständig ist, soweit es um die Aussetzung der Vollstreckung und um Streitigkeiten über das Fortbestehen des materiellen Anspruchs geht. Um eine einheitliche Rechtsanwendung innerhalb der Union zu gewährleisten, sollte nicht nur die Aussetzung der Vollstreckung, sondern – mit Ausnahme von Art. 299 Abs. 4 Satz 2 AEUV – das gesamte Vollstreckungsverfahren durch die Unionsgerichte überprüfbar sein.
78
Für den Fall, dass der Gerichtshof der Europäischen Union auf die Vorlagefrage 1 antwortet, dass Art. 94 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 dahin auszulegen ist, dass auch die Vollstreckbarkeit von Entscheidungen der Agentur Gegenstand einer Klage sein können, erbittet das vorlegende Gericht einen Hinweis, ob beziehungsweise in welcher Form die anhängige Verwaltungsstreitsache an das Gericht der Europäischen Union oder den Gerichtshof der Europäischen Union zu verweisen ist. Das nationale Recht enthält lediglich Vorschriften zur Verweisung an nationale Gerichte anderer Gerichtsbarkeiten.
b) Zur Vorlagefrage 2
79
Für den Fall, dass der Gerichtshof der Europäischen Union die Vorlagefrage 1 verneint, ist sodann zu klären, ob es sich bei der Entscheidung der Agentur um einen vollstreckbaren Titel im Sinne des Art. 299 Abs. 1 AEUV handelt.
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Gemäß Art. 299 Abs. 2 AEUV richtet sich die Zwangsvollstreckung nach den Vorschriften des Zivilprozessrechts des Staates, in dessen Hoheitsgebiet sie stattfindet. Diese Regelung gilt nach dem Wortlaut des Art. 299 Abs. 1 AEUV jedoch nur für Rechtsakte des Rates, der Kommission und der europäischen Zentralbank, die eine Zahlung auferlegen.
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Zwar enthält Art. 299 Abs. 1 AEUV keine Beschränkung hinsichtlich der Art der Rechtsakte, sondern ist auf alle Rechtsakte anwendbar, mit denen eine Zahlung auferlegt wird (Urteil vom 16.7.2020, ADR Center SpA/Europäische Kommission, C-584/17, ECLI:ECLI:EU:C:2020:576, Rn. 51). Jedoch gilt Art. 299 AEUV nach dem Wortlaut nur für Zahlungstitel des Rates, der Kommission und der europäischen Zentralbank. Ausdrücklich nicht erfasst ist die Vollstreckung von Zahlungstiteln anderer europäischer Organe wie beispielsweise Agenturen.
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Art. 299 Abs. 1 AEUV könnte aufgrund seiner systematischen Stellung sowie nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auch dahingehend auszulegen sein, dass sich die Vollstreckung von Zahlungstiteln anderer europäischer Behörden nach dem Zivilprozessrecht des jeweiligen Mitgliedstaates richtet (Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 7. November 2019, ADR Center SpA/Europäische Kommission, C-584/17; ECLI:ECLI:EU:C:2019:941, Rn. 44).
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Für eine weite Auslegung des Art. 299 AEUV, nach der auch Zahlungstitel der Agentur umfasst sind, spricht überdies, dass weder die Verordnung Nr. 1907/2006 noch die Verordnung (EG) Nr. 340/2008 spezifische Regelungen zur Vollstreckung enthält. Bei näherer Betrachtung verfügt die Agentur zwar über die Befugnisse, Verwaltungsentgelte und Gebühren zu erheben. Sie ist jedoch nicht mit den Mitteln ausgestattet, unanfechtbare Entscheidungen zu den Verwaltungsentgelten und Gebühren zu vollstrecken. Um dem Unionsrecht volle Wirksamkeit zu verleihen, sind die Organe der Union darauf angewiesen, dass sie über Möglichkeiten zur zwangsweisen Durchsetzung der von ihnen geschaffenen Titel verfügen.
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Mangels spezieller Regelungen zur Vollstreckung in den Verordnungen (EG) Nr. 1907/2006 und Nr. 340/2008 ist ein Rückgriff auf die Vorschrift zur Zwangsvollstreckung nach Art. 299 AEUV geboten.
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Art. 299 Abs. 2 Satz 1 AEUV verweist auf die Vorschriften des Zivilprozessrechts desjenigen Mitgliedstaates, in dessen Hoheitsgebiet die Vollstreckung stattfinden soll. In der Bundesrepublik Deutschland richtet sich die im Zivilprozess vorgesehene Vollstreckung nach den Bestimmungen des 8. Buches der ZPO (§§ 704 ff. ZPO).
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Soweit es sich bei der Entscheidung SME (2013) 4439 um einen Vollstreckungstitel im Sinne des Art. 299 Abs. 1 AEUV handelt, ist auf Antrag der die Vollstreckung betreibenden Partei – hier der Agentur – der Zahlungstitel mit einer Vollstreckungsklausel zu versehen, das heißt für vollstreckbar zu erklären. Die Vollstreckungsklausel wird gemäß Art. 299 Abs. 2 Satz 2 AEUV von derjenigen staatlichen Behörde erteilt, die von der Regierung eines jeden Mitgliedstaates bestimmt und der Kommission und dem Gerichtshof benannt wird. In der Bundesrepublik Deutschland ist hierfür der Bundesminister der Justiz zuständig (Bekanntmachung vom 3. Februar 1961). Nach Erteilung der Vollstreckungsklausel kann die nach nationalem Recht zuständige Stelle von der die Vollstreckung betreibenden Partei unmittelbar angerufen werden (Art. 299 Abs. 3 AEUV). In der Bundesrepublik Deutschland ist das Vollstreckungsgericht gemäß § 764 ZPO oder der Gerichtsvollzieher gemäß § 753 ZPO das zuständige Vollstreckungsorgan.
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Für eine Anwendbarkeit des Art. 299 AEUV spricht zudem, dass die weiteren Voraussetzungen für eine Vollstreckung vorliegen. Als Adressaten eines Vollstreckungstitels im Sinne des Art. 299 AEUV kommen nur natürliche und juristische Personen in Betracht. Diese Voraussetzung liegt in Bezug auf die Beklagte, die eine juristische Person des Privatrechts ist, vor.
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Im Übrigen setzt Art. 299 AEUV als vollstreckbaren Titel einen Rechtsakt im Sinne des Art. 288 AEUV voraus. Rechtsakte im Sinne dieser Norm sind nicht nur abstrakt-generelle Rechtssätze des sekundären Unionsrechts wie Verordnungen oder Richtlinien, sondern auch Beschlüsse. Hierunter fallen insbesondere adressatengerichtete Beschlüsse gemäß Art. 288 Abs. 4 Satz 2 AEUV, wenn es sich um eine verbindliche Entscheidung handelt, die unmittelbare Wirkung für den Adressaten entfaltet. Eine verbindliche Entscheidung liegt vor, wenn eine Maßnahme dazu bestimmt und geeignet ist, unmittelbare Rechtswirkung zu entfalten, das heißt dem Adressaten einer Entscheidung Rechte zu gewähren oder Pflichten aufzuerlegen (Urteil vom 11. November 1981; 60/81, International Business Machines Corporation/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ECLI:ECLI:EU:C:1981:264, Rn. 9; Urteil vom 22. 6. 2000, C-147/96; Königreich der Niederlande/Kommission der Europäischen Gemeinschaften, ECLI:ECLI:EU:C:2000:335, Rn. 25; Beschluss vom 8.3.1991, Emerald Meats/Kommission, C-66/91, ECLI:ECLI:EU:C:1991:110, Rn. 26). Auch diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall erfüllt. Die unanfechtbare Entscheidung der Agentur verpflichtet die Beklagte zur Zahlung eines Verwaltungsentgeltes.
c) Zur Vorlagefrage 3
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Mit der dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht klären lassen, ob der Verweis auf die Vorschriften des Zivilprozessrechts des Staates, in dessen Hoheitsgebiet die Vollstreckung stattfindet, umfassend zu verstehen ist. Das deutsche Zivilprozessrecht regelt nicht nur das Verfahren einer ordnungsgemäßen Vollstreckungsmaßnahme, sondern auch das zuständige Vollstreckungsorgan. Als zuständige Vollstreckungsorgane kommen in der Bundesrepublik Deutschland das Vollstreckungsgericht (§ 753 ZPO) oder der Gerichtsvollzieher (§ 764 ZPO) in Betracht. Wäre Art. 299 AEUV dahin auszulegen, dass nicht nur auf das Verfahren zur Durchführung der Zwangsvollstreckung, sondern auch auf die Vorschriften zum zuständigen Vollstreckungsorgan verwiesen wird, ergibt sich daraus, an welches Gericht der vorliegende Rechtsstreit zu verweisen wäre.
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2. Die dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen sind entscheidungserheblich.
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Nach vorläufiger Auffassung des vorlegenden Gerichts spricht vieles dafür, dass der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten nicht eröffnet ist. Bejaht der Gerichtshof der Europäischen Union die Frage 1, wäre der Rechtsweg zum Gericht der Europäischen Union oder zum Gerichtshof der Europäischen Union eröffnet, sodass das vorlegende Gericht keine Sachentscheidung treffen darf. Bejaht der Gerichtshof der Europäischen Union hingegen die Fragen 2 und 3, wäre der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet.
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Beschreitet die Klägerin den Verwaltungsrechtsweg, obwohl dieser nach Maßgabe von § 40 VwGO und den auf- oder abdrängenden Spezialnormen nicht eröffnet ist, hat das angerufene Verwaltungsgericht den Rechtsstreit nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG an das zuständige Gericht einer anderen Gerichtsbarkeit zu verweisen.
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Eine Verweisung kommt daher erst dann in Betracht, wenn die Vorlagefragen geklärt sind.
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Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 146 Abs. 2 VwGO analog).