Inhalt

LG München I, Endurteil v. 19.04.2023 – 15 O 14153/21
Titel:

Schmerzensgeldanspruch aufgrund von Verletzungen durch einen polizeilichen Schusswaffengebrauch

Normenkette:
BGB § 227, § 839
Leitsätze:
1. Wird eine Person durch einen Polizeibeamten verletzt, so trägt der Verletzte die Beweislast dafür, dass der Polizeibeamte durch die Maßnahme amtspflichtwidrig das Übermaßverbot verletzt hat, wenn der Polizeibeamte zur Ausübung unmittelbaren Zwangs, dh Einwirkung auf Personen mittels körperlicher Gewalt, Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt oder Waffen, in der Situation berechtigt war. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
2. Entscheidend für die Prüfung einer schuldhaften Pflichtverletzung des Polizeibeamten im Sinne eines wenigstens fahrlässigen Verstoßes gegen das Übermaßverbot ist, wie sich die Situation für ihn darstellte. Die Prüfung, welche Verteidigung erforderlich ist, richtet sich zwar nach der objektiven Sachlage. Die Schadenersatzpflicht tritt aber nur ein, wenn den betreffenden ein Verschulden trifft, er also wenigstens fahrlässig handelt. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schmerzensgeld, Schusswaffengebrauch, Polizei, Übermaßverbot, Amtspflichtverletzung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7593

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 330.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über einen Schmerzensgeldanspruch aufgrund von Verletzungen durch einen polizeilichen Schusswaffengebrauch.
2
Am späten Abend des 22.09.2020 rief der Ehemann der Klägerin den ärztlichen Bereitschaftsdienst wegen akuter psychischer Probleme der Klägerin. Der Bereitschaftsarzt traf am 23.09.2020 gegen 0:40 Uhr in der … in München ein. Die Klägerin bedrohte den damals diensthabenden Bereitschaftsarzt vor Ort mit einem Messer. Der Bereitschaftsarzt flüchtete in sein Dienstfahrzeug. Über Notruf wurde die Einsatzzentrale des Polizeipräsidiums München über den Vorfall informiert und polizeiliche Hilfe angefordert.
3
Gegen 1:00 Uhr traf eine Polizeistreife der PI 29 mit dem Polizeibeamten PM … und weiteren Polizeibeamten ein. Die Klägerin und ihr Ehemann wurden vor dem Haus durch die anwesenden Polizeibeamten durchsucht, wobei festgestellt wurde, dass keiner der beiden Waffen bei sich trug. Der Ehemann der Klägerin teilte mit, dass das gesuchte Messer im Wohnzimmer auf dem Fernsehschrank liege, worauf Herr PM … den fraglichen Fundort im Haus aufsuchte, das Messer an sich nahm und dieses sichergestellt wurde.
4
Die Polizeibeamten begaben sich mit der Klägerin und deren Ehemann sodann in den Eingangsbereich des Anwesens. Dort wiesen sich die Klägerin und ihr Ehemann aus und wurden befragt.
5
Aufgrund des psychisch auffälligen Zustands der Klägerin sollte sich diese nach Ansicht der Polizeibeamten freiwillig in das kbo Isar-Amper-Klinikum München-Ost begeben. Stattdessen ging sie in die Küche und holte dort erneut ein 25,5 cm langes Messer hervor. Sie ging mit dem Messer in den Flur, wo sich sechs Polizeibeamte befanden, wobei sie das Messer im leicht angewinkelten Arm in der rechten Hand hielt und Griff sowie Klinge des Messers oben aus ihrer Faust heraus zeigten. Daraufhin zogen PM … und POK … ihre Dienstwaffen und forderten die Klägerin lautstark auf, das Messerwegzulegen. Dies tat die Klägerin nicht. Der Abstand zur Klägerin zu den Polizeibeamten betrug anfänglich ca. 4 m bis 5 m. Die Klägerin ging mit vorgehaltenem Messer wortlos weiter auf die Polizeibeamten zu. Die Polizeibeamten wichen Richtung Haustüre zurück.
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Als die Klägerin nicht mehr weit von Herrn PM … entfernt war und noch immer das Messer drohend in seine Richtung hielt, gab PM … einen Schuss aus seiner Dienstwaffe ab. Die Klägerin wurde im Bauch getroffen, fiel zu Boden und ließ das Messer fallen.
7
Die Klägerin wurde ins Krankenhaus gebracht, lag eine Woche lang im Koma und musste mehrere Notoperationen über sich ergehen lassen. Sie wurde mehrere Wochen im Krankenhaus behandelt. Die rechte Niere, die Gallenblase sowie große Teile des Dickdarms und des Dünndarms wurden entnommen. Das Projektil verblieb im Kreuzbein, da es die Wirbelsäule touchiert hat. Die hausärztliche Behandlung dauert an.
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Die Klägerin meint, eine Rechtfertigung durch Notwehr scheide aus, da der Schuss nicht erforderlich gewesen sei. Es seien insgesamt 6 Polizeibeamte anwesend gewesen, welche die Klägerin im Sinne einer „Trutzwehr“ hätten überwältigen können, da es sich bei der Klägerin um eine zierliche Frau gehandelt habe. Hierbei sei es auch möglich gewesen, die Klägerin mittels Pfeffersprays oder eines Einsatzschlagstocks zu überwältigen.
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Ferner hätte zunächst ein Warnschuss abgegeben werden müssen. Letztlich hätte der Polizeibeamte auf die Beine zielen müssen, was weniger gravierende Verletzungsfolgen verursacht hätte.
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Anfänglich behauptete die Klägerin, dass Herr PM … den Schusswaffengebrauch angedroht habe (Klageschrift vom 22.10.21, BI. 3 d.A., Replik vom 27.04.2022, BI. 44 d.A.). Erst mit Schriftsatz vom 25.08.2022 wurde durch die Klägerin bestritten, dass der Beamte … den Schusswaffengebrauch vorher angedroht habe (BI. 79 d.A.).
11
Die Klägerin beantragt:
1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch € 300.000,00 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 26.08.2021 zu bezahlen.
2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, sämtliche weiteren zukünftigen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche auf die Verletzung infolge polizeilichen Schusswaffengebrauchs vom 23.09.2020 zurückzuführen sind, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
3. Der Beklagte wird verurteilt, nicht anrechenbare außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von € 6.190,62 zu bezahlen.
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Der Beklagte beantragt:
Klageabweisung.
13
Der Beklagte behauptet, die Entfernung zwischen der Klägerin und Herrn PM… Zeitpunkt der Schussabgabe habe etwa 1,5 m bzw. 2 m betragen.
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Die Aufforderung, das Messerwegzulegen, sei mehrfach erfolgt. Ferner sei der Schusswaffengebrauch angedroht worden.
15
Der Beklagte meint, es habe objektiv eine Notwehrlage vorgelegen. Der Schusswaffengebrauch sei bei objektiver ex ante-Betrachtung der konkreten Sachlage vom Standpunkt des Herrn PM … und … nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zur Abwendung einer Gefahr für sich und seine Kollegen auch geeignet und erforderlich sowie das relativ mildeste Mittel gewesen.
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Daher ergebe sich bereits dem Grunde nach kein Anspruch auf Schmerzensgeld.
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Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften vom 16.11.2022 und 08.03.2023 Bezug genommen. Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … Florian … sowie … Die Klägerin wurde informatorisch angehört.

Entscheidungsgründe

A.
18
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klagepartei steht die begehrte Forderung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.
19
I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes aus § 839 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG, § 253 Abs. 2 BGB.
20
Der Polizeibeamte … handelte nicht amtspflichtwidrig. Insbesondere konnte die Kammer auch nicht zu dem Ergebnis kommen, dass das Übermaßverbot schuldhaft verletzt ist.
21
1. Der Zeuge … war nach Art. 77 bis 86 PAG zur Anwendung unmittelbaren Zwangs und damit zur Entfaltung körperlicher Gewalt mit Hilfsmitteln und Waffen gegenüber der Klägerin berechtigt. Auch die Klägerin selbst geht davon aus, dass von ihrer Seite ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff ausging (BI. 7 d.A.), indem sie mit einem Messer auf die Polizeibeamten zugegangen ist.
22
Der Schußwaffengebrauch gegen die Klägerin war gern. Art. 84 Abs. 1 Nr. 1 PAG gerechtfertigt (und vorliegend auch notwendig), um eine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben abzuwenden. Diese gegenwärtige Gefahr lag bedingt durch die Klägerin unstreitig vor.
23
a. Die Polizeibeamten haben zunächst versucht, den Flur bzw. Wohnung zu verlassen. Die Beweisaufnahme hat auch ergeben, dass der Zeuge … nicht noch weiter zurückweichen konnte.
24
aa. Der Zeuge H… gab glaubhaft an, dass er bemerkt habe, dass mehrere Kollegen „aus der Situation raus“ wollten. Er selbst habe auch zurück weichen wollen. Dies sei jedoch nicht gegangen, weil etwas hinter ihm gewesen sei, ein Möbelstück oder eine Wand.
25
bb. Auch der Zeuge … gab glaubhaft an, dass er versucht habe, nach hinten weg zu kommen. Es sei in dem Flur sehr eng gewesen. Letztlich habe er es geschafft, sich wegzudrehen und nach hinten weg zu gehen, als dann auch schon der Schuss gefallen sei.
26
b. Unstreitig ist, dass die Klägerin aufgefordert wurde, das Messerwegzulegen,
27
c. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts gern.
28
§ 286 ZPO fest, dass der Schusswaffengebrauch zuvor auch angedroht wurde, Art. 81 Abs. 1 Satz 1 PAG.
29
Dies haben die drei Zeugen … und … übereinstimmend angegeben.
30
aa. Der Zeuge … hat glaubhaft geschildert, dass er mindestens einmal den Schusswaffengebrauch angedroht habe. Insbesondere habe er sich an den Satz „Wenn du noch einen Schritt gehst, dann muss ich schießen.“ sehr gut erinnern können. Dies ist insbesondere glaubhaft, da er nicht lediglich pauschal wiedergegeben hat, dass er den Schußwaffengebrauch angedroht habe, sondern er sich ganz konkret an diesen Satz erinnern konnte. Er gab glaubhaft an, dass dies eines der drei Dinge sei, an welche er sich sehr gut erinnern könne. Er habe dies der Klägerin nahezu bettelnd gesagt.
31
Der Zeuge … hat ebenfalls glaubhaft angegeben, dass auch er den Schußwaffengebrauch angedroht habe. Er habe gesagt: „oder ich schieße“. Der Zeuge … erläuterte glaubhaft, dass er gehört habe, wie der Schußwaffengebrauch mit den Worten „Messer weg, oder ich schieße“ angedroht wurde.
32
bb. Die Angaben des Zeugen … der angegeben hat, dass er ausschließen könne, dass gesagt worden sei „Messer weg, sonst schieße ich“, mögen seiner Wahrnehmung entsprechen, stehen dieser Bewertung aber im Ergebnis nicht entgegen. Der Zeuge … stand nach eigenen Angaben nicht direkt neben den Polizeibeamten oder der Klägerin, sondern beim Treppenabsatz. Der Zeuge … gab auch an, dass es ein „Gewusel“ gegeben habe. Die Kammer geht deshalb davon aus, dass er die Androhung des Schusswaffengebrauchs aufgrund der Gesamtsituation nicht wahrgenommen hat.
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2. Da demnach Tatsachen feststehen, aufgrund derer der Zeuge … ur Ausübung unmittelbaren Zwangs und damit zur Entfaltung körperlicher Gewalt mit Hilfsmitteln und Waffen gegenüber der Klägerin berechtigt war, obliegt der Klägerin der Beweis derjenigen Voraussetzungen, von denen die Berechtigung ihres Vorwurfs abhängt, dass der Zeuge durch den Schuss das Übermaßverbot verletzt habe (vgl. OLG Schleswig, Urteil vom 11.11.2021 – 11 U 29/20; OLG Hamm, 11 U 118/94, Rn. 40).
34
a. Art. 4 PAG regelt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit speziell für polizeiliches Einschreiten. Er gilt für jede polizeiliche Maßnahme. Die Polizei hat ihn also ausnahmslos zu beachten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinn) wird in der Literatur auch als Übermaßverbot bezeichnet. Er hat Verfassungsrang und leitet sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 3 Abs. 1 BV und den Grundrechten ab (Schmidbauer/Steiner/Schmidbauer, 6. Aufl. 2023, PAG Art. 4 Rn. 1).
35
Während Art. 4 PAG die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips für alle polizeilichen Maßnahmen vorschreibt, gibt es einige Eingriffsmaßnahmen, bei denen der Gesetzgeber die besondere Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit speziell auferlegt (Schmidbauer/Steiner/Schm/ctoauer, 6. Aufl. 2023, PAG Art. 4 Rn. 3). Hierzu zählen insbesondere Art. 83 bis 86 PAG, die den Schußwaffengebrauch regeln.
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b. Nach Art. 83 Abs. 1 Satz 1 PAG dürfen Schußwaffen nur gebraucht werden, wenn andere Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs erfolglos angewendet sind oder offensichtlich keinen Erfolg versprechen. Art. 83 Abs. 1 S. 1 PAG ist Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips und legt fest, dass der Schusswaffengebrauch das letzte polizeiliche Zwangsmittel ist (Schmidbauer/Steiner/Schmidbauer, 6. Aufl. 2023, PAG Art. 83 Rn. 4).
37
c. Die Klägerin hat hierzu behauptet, dass andere Maßnahmen wie das körperliche Überwältigen der Klägerin (auch mittels Pfeffersprays oder eines Einsatzschlagstocks) oder die Abgabe eines Warnschusses als mildere Maßnahmen ebenfalls erfolgversprechend gewesen wären.
38
Für etwaige Verstöße gegen das Übermaßverbot einer Maßnahme ist die Klägerin beweispflichtig (vgl. Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts-, Staatshaftungs- und Entschädigungsrechts, 3. Aufl. 2020, Rn. 266). Dies entspricht auch der Beweislastverteilung im Rahmen des § 227 BGB. Wird eine Person durch einen Polizeibeamten verletzt, so trägt der Verletzte die Beweislast dafür, dass der Polizeibeamte durch die Maßnahme amtspflichtwidrig das Übermaßverbot verletzt hat, wenn der Polizeibeamte zur Ausübung unmittelbaren Zwangs, d. h. Einwirkung auf Personen mittels körperlicher Gewalt, Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt oder Waffen, in der Situation berechtigt war (vgl. OLG Schleswig BeckRS 2021, 34373 Rn. 24; OLG Hamm BeckRS 1995, 23078; Itzel/Schwall, Praxishandbuch des Amts-, Staatshaftungs- und Entschädigungsrechts, 3. Aufl. 2020, Rn. 266; Grüneberg/Sprau, 82. Auflage 2023, § 839, Rn. 84).
39
Diesen Beweis, dass das Übermaßverbot verletzt wurde, hat die Klägerin jedoch nicht führen können. Die Zeugen … und … wurden nach den Möglichkeiten eines milderen Mittels befragt. Sie gaben jedoch unabhängig voneinander die Einschätzung ab, dass es für sie in dieser Situation keine andere Abwehrmöglichkeit gegeben habe.
40
aa. Der Zeuge … gab an, dass ein anderes Einsatzmittel für ihn zu diesem Zeitpunkt des Angriffs der Klägerin nicht in Betracht gekommen wäre. Ohne (mangels Aussagegenehmigung für diese Frage) eine Aussage darüber zu treffen, ob er einen Schlagstock oder Pfefferspray bei sich gehabt hätte, gab der Zeuge an, dass auch diese Dinge nach seiner Auffassung nicht dazu geeignet gewesen wären, die Klägerin zu überwältigen. Der Zeuge habe Angst um sein Leben gehabt. Es sei nach seiner Einschätzung nicht möglich gewesen, die Klägerin zu überwältigen, da der Flur sehr eng gewesen sei und die Klägerin ein Messer in der Hand gehalten habe, welches sie hätte benutzen können.
41
bb. Der Zeuge … führte auf die Frage nach alternativen Abwehrmethoden aus, dass nach seiner Einschätzung die Folgen einer alternativen Herangehensweise unkalkulierbar seien, da mit einem Messer sehr schnell schwere bis tödliche Verletzungen zugefügt werden können. Die Flucht aus der Situation sei nicht gelungen. Weiter gab der Zeuge … auf die Frage, wohin in solchen Situationen geschossen werden müsse, an, dass ein Treffer für erforderlich gehalten werde, der diese Situation akut beende. Der Treffer müsse in den Oberkörper- bzw. Brustbereich gesetzt werden. Ein Schuss in die Beine hätte die Situation möglicherweise beenden können – es sei jedoch in einer Stresssituation schwer, einen Schuss in die Beine so zu setzen, dass er den Angriff auch tatsächlich sicher beende. Ein Schuss in den Arm sei aufgrund der Fläche des Arms noch deutlich schwieriger.
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Die gesamten Angaben der Zeugen … und des Zeugen … waren glaubhaft. Die Zeugen konnten sich offensichtlich noch gut an das nicht alltägliche Geschehen erinnern und haben detaillierte Angaben gemacht. Die Angaben stimmten auch untereinander überein. Darüber hinaus stimmten die Angaben auch mit ihren früheren Aussagen im Vorermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I mit dem Az. 121 AR 4179/20 überein.
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Der Zeuge … hat auch ohne weiteres eingestanden, dass er nach Vorlage des BI. 83 dem Vorermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I mit dem Az. 121 AR 4179/20 und nach Vorlage der Anlage K16 nicht mehr genau wisse, wo er damals gestanden habe und hat damit Gedächtnislücken zu erkennen gegeben. Das ist nachvollziehbar.
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cc. Die Kammer ist von der Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse durch die Zeugen überzeugt und teilt die Auffassung, dass ein milderes Mittel nicht zur Verfügung stand.
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(1) Das gilt zunächst ohne weiteres für die seitens der Klägerin vertretene These, dass die Polizeibeamten die Klägerin mittels Pfefferspray oder Schlagstöcken überwältigen können. Zum einen ist schon unklar, ob die Polizeibeamten über diese Ausrüstung verfügten.
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Vor allem aber müssen mildere Maßnahmen ohnehin nur dann angewendet werden, wenn sie eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr mit Sicherheit erwarten lassen, ohne dass Zweifel über die Wirkung des Verteidigungsmittels verbleiben. Der Polizeibeamte muss sich nicht auf das Risiko einer ungenügenden Abwehrhandlung einlassen (Grüneberg/Ellenberger, BGB, 82. Auflage 2023, § 227 Rnr. 7).
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Es erschließt sich für die Kammer vorliegend ohne weiteres, dass der Einsatz von Pfefferspray oder das Hantieren mit einem Schlagstock ohne das Risiko, gleichwohl durch einen Messerangriff der Klägerin verletzt oder getötet zu werden, nicht möglich war. Nach Aussage des Zeugen … die die Kammer auch insoweit für glaubhaft hält, war die Klägerin ihm so nahe, dass er mit einem weiteren Schritt zuzüglich ihrer Armlänge in ihrem Einwirkungsbereich gewesen wäre, ihn also mit dem Messer hätte treffen können. Dass der Einsatz eines Schlagstocks oder von Pfefferspray einen solchen Angriff nicht mehr sicher hätte verhindern können, ergibt sich für die Kammer von selbst.
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(2) Dasselbe gilt hinsichtlich des von der Klägerin als mögliches Alternativverhalten angeführten Schusses in Arme oder Beine. Unabhängig von den nachvollziehbaren Angaben des Zeugen … dass es in der gegebenen Stresssituation schwierig sei, einen Schuss in Arme oder Beine so zu setzen, dass er einen Angriff auch tatsächlich sicher beende, erschließt sich für die Kammer angesichts der vom Zeugen … angegebenen Distanz ohne weiteres, dass auch ein solcher Schuss nicht sicher zu einer sofortigen Beendigung der Gefahrensituation in dem Sinne hätte führen können, dass die Klägerin nicht noch in der Lage gewesen wäre, zuzustechen.
49
(3) Soweit die Klägerin außerdem meint, ein Warnschuss sei einerseits möglich gewesen und hätte andererseits die Situation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beendet, war dieser Vortrag für die Kammer nicht entscheidungserheblich. Denn entscheidend für die Prüfung einer schuldhaften Pflichtverletzung des Polizeibeamten im Sinne eines wenigstens fahrlässigen Verstoßes gegen das Übermaßverbot ist, wie sich die Situation für ihn darstellte. Die Prüfung, welche Verteidigung erforderlich ist, richtet sich zwar nach der objektiven Sachlage (Grüneberg, BGB, 82. Auflage 2023, § 227 Rnr. 7). Die Schadenersatzpflicht tritt aber nur ein, wenn den betreffenden ein Verschulden trifft, er also wenigstens fahrlässig handelt (Grüneberg, aaO Rnr. 11). Auch für dieses Verschulden ist die Klägern beweisbelastet, ein dahingehender Nachweis fehlte aber selbst dann, wenn ein Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis käme, dass ein Warnschuss objektiv möglich und zielführend gewesen wäre.
50
Dies gilt sowohl für die Frage, ob ein Warnschuss vorliegend ohne die Gefahr eines Querschlägers möglich war (a) als auch für die Frage, ob ein solcher Warnschuss die Gefährdungssituation (sicher) beendet hätte (b).
51
(a) Dass die Abgabe eines Schusses in geschlossenen Räumen die abstrakte Gefahr eines Querschlägers beinhaltet, konnte die Kammer der Entscheidung als allgemein bekannt zu Grunde legen. Jedenfalls unter den teils langjährig mit Strafsachen befassten Mitgliedern der Kammer ist dies bekannt. Ein solcher Querschläger stellt abstrakt eine Gefahr für jede im Raum befindliche Person dar.
52
Soweit die Klägerin behauptet, die Abgabe eines Warnschusses habe vorliegend so erfolgen können, dass es keine Abpraller gibt und zum Beweis hierfür die Einholung eines Sachverständigengutachtens anbietet, könnte ein Sachverständiger daher von vorneherein nur durch aufwändige Analyse der Örtlichkeit zu einem solchen Ergebnis kommen. Eine solche stand dem Zeugen … aber für seine Entscheidung, ob ein Warnschuss gefahrlos möglich ist, nicht zur Verfügung. Er hatte sich daher an der abstrakten Gefahr eines Querschlägers zu orientieren und handelte insoweit jedenfalls schuldlos.
53
(b) Der Polizeibeamte … konnte vorliegend darüber hinaus ohne Verschulden davon ausgehen, dass ein Warnschuss nicht zu dem von Klägerseite behaupteten Ergebnis geführt hätte, dass die Klägerin den Angriff beendet hätte.
54
Dagegen, dass sie unter dem Eindruck des Warnschusses willentlich das Messer weggelegt hätte, spricht vorliegend schon, dass die Klägerin auch auf jegliche andere Ansprache, insbesondere auch auf die Androhung des Schusswaffengebrauchs unter vorgehaltener Waffe, nicht reagierte.
55
Jedenfalls konnte der Zeuge … auf eine solche Reaktion auch in zeitlicher Hinsicht nicht mehr vertrauen, da er sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ohne Rückzugsmöglichkeit bereits nahezu in Reichweite der Klägerin befand.
56
Die unter dem Beweisangebot eines Sachverständigengutachtens aufgestellte Behauptung der Klägerin, der Warnschuss hätte „schreckbedingt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ dazu geführt, dass die Klägerin das Messer hätte fallen lassen, weil dies „die normale Schreckreaktion“ des Menschen auf ein solches Geräusch sei, ist schon deshalb nicht entscheidungserheblich, weil es sich schon nach Klägervortrag nicht um die Abwehrmethode, die die Gefahr sicher, sofort und endgültig beendet hätte, handelte, sondern eben nur mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit. Hierauf musste sich der Polizeibeamte nicht einlassen (vgl. Grüneberg, aaö, Rnr. 7).
57
Es ist aus Sicht der Kammer auch nicht naheliegend, dass mit dem Warnschuss quasi zwingend einhergehe, das Messer aus Schreck fallenzulassen. Jedenfalls würde dieser Umstand – die Richtigkeit der Behauptung unterstellt – kein Allgemeinwissen darstellen. Dass es sich um
58
Wissen handelte, auf das der Polizeibeamte … hätte zurückgreifen können, wurde weder behauptet noch unter Beweis gestellt. Es ist auch sonst nicht ersichtlich.
59
(4) Der Zeuge … konnte daher im Ergebnis jedenfalls ohne Verschulden davon ausgehen, dass sein Schuss zur finalen Gefahrenabwehr notwendig ist. Aufgrund der Beweisaufnahme ist die Kammer davon überzeugt, dass es sich der Polizeibeamte … nicht leicht mit der Entscheidung gemacht hat. Er wollte den Schuss ebenfalls nicht, hat die Klägerin angebettelt das Messer wegzulegen und sah letztlich keinen anderen Ausweg.
60
II. Die Klägerin hat gegen den Beklagten auch keinen verschuldensunabhängigen Anspruch aus Art. 87 PAG. Unabhängig von der Frage, ob Art. 87 PAG überhaupt eine Entschädigung für immaterielle Schäden gewährt, scheidet ein Anspruch hiernach aus. Personen, gegen die sich die Maßnahme richtet, weil sie die Gefahr selbst verursacht haben (Art. 7 Abs. 1 BayPAG) sind nicht anspruchsberechtigt (Schmidbauer/Steiner/Schmidbauer, 6. Aufl. 2023, PAG Art. 87 Rn. 13).
61
III. Aus den unter I. und II. genannten Gründen besteht auch kein Anspruch der Klägerin auf Feststellung, dass der Beklagte verpflichtet sei, sämtliche weiteren zukünftigen und im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht vorhersehbaren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, welche auf die Verletzung infolge polizeilichen Schusswaffengebrauchs vom 23.09.2020 zurückzuführen sind, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
62
IV. Die Anträge auf Zinsen sowie auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten teilen als Nebenforderung das Schicksal der Hauptforderung und unterliegen insoweit ebenfalls der Klageabweisung.
B.
63
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.
C.
64
Für die Bemessung des Streitwerts waren die Angaben zum Streitwert der Klägerin maßgebend, welche gern. § 5 ZPO addiert wurden. Die Feststellungsklage wurde mangels anderer Anhaltspunkte nach dem Klagevortrag mit 30.000 € bemessen.