Titel:
Erfolgreiche Nachbarklage gegen Errichtung einer Moschee mit Veranstaltungsräumen und Vorbeterwohnung
Normenketten:
BauGB § 30 Abs. 1, Abs. 2, § 34 Abs. 2
BauNVO § 8 Abs. 3 Nr. 2
BayBO Art. 47, Art. 71 S. 2
Leitsatz:
Eine ausnahmsweise Zulassung der Wohnung für den Vorbeter iner Moschee im Gewerbegebiet scheitert daran, dass die Wohnung nicht aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll wäre, denn für die Zulassung einer betriebsbezogenen Wohnung ist erforderlich, dass die dort lebenden Personen wegen der Art des Betriebes oder zur Wartung von Betriebseinrichtungen oder aus Sicherheitsgründen ständig erreichbar sein müssen, und deswegen das Wohnen solcher Personen nahe dem Betrieb erforderlich ist. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Moschee mit Vorbeterwohnung im Gewerbegebiet, Gebietserhaltungsanspruch, versteckter Dispens, keine Bindungswirkung eines Vorbescheids bei Absehen von Nachbarbeteiligung, Abstandsflächenverstoß, Klageverfahren, Bauplanungsrecht, Drittschutz, Gwerbegebiet, Moschee, Vorbeterwohnung, Befreiung, Abstandsfläche
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7363
Tenor
I. Der Bescheid vom 7. März 2022, Az. ..., wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung einer Moschee mit Veranstaltungsräumen und Vorbeterwohnung.
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Sie ist Eigentümerin des Grundstücks Fl.Nr. ... der Gemarkung .... Dieses grenzt unmittelbar an das Grundstück der Beigeladenen mit der Fl.Nr. ... der Gemarkung ... an. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Gewerbegebiet ... Nord vom 30. November 2000, der in diesem Bereich als Art der baulichen Nutzung ein Gewerbegebiet festsetzt. Nach Ziffer 2.1 des Bebauungsplans sind die in § 8 Abs. 2 BauNVO aufgeführten Nutzungen allgemein zulässig. Ausnahmsweise zulässig sind die in § 8 Abs. 3 BauNVO aufgeführten Nutzungen.
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Mit Bescheid vom 1. September 2015 erteilte der Beklagte der Beigeladenen einen Bauvorbescheid für den Neubau einer Moschee mit Gebets-, Schulungs-, Vereins- und Konferenzräumen, einem Nebengebäude und einer Vorbeterwohnung. Hierbei wurden gemäß § 31 Abs. 2 BauGB Befreiungen von folgenden Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt: Wohnung für den Vorbeter (Imam) im Gewerbegebiet, Überschreitung der Grundflächenzahl, Überschreitung der Baugrenze, Höhe des Minaretts. Eine Zustellung des Vorbescheids an die Nachbarn erfolgte nicht, da die Beigeladene einen Antrag auf Absehen von der Nachbarbeteiligung nach Art. 71 Satz 4 BayBO gestellt hatte.
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Der Beklagte übersandte der Klägerin auf deren Bitte mit Schreiben vom 1. Oktober 2015 einen Abdruck des Vorbescheids und beantwortete mit E-Mail vom 6. Oktober 2015 einige von der Klägerin gestellte Nachfragen. U.a. wies der Beklagte darauf hin, dass der Vorbescheid aufgrund des Verzichts auf die Nachbarbeteiligung im Vorbescheidsverfahren gegenüber den Nachbarn keine Bindungswirkung entfalte.
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Auf Antrag der Beigeladenen wurde der Vorbescheid mit Bescheiden vom 10. August 2018 und 22. September 2020 verlängert. Die Verlängerungsbescheide wurden der Beigeladenen zugestellt, eine Übermittlung an die Nachbarn erfolgte nicht.
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Die Beigeladene beantragte mit Plangeheft vom 28. August 2020 die Erteilung einer Baugenehmigung. Gleichzeitig wurde ein Antrag auf Befreiung von Festsetzungen des Bebauungsplans gestellt. Die Planunterlagen wurden im Verfahren aufgrund von Einwänden der Standortgemeinde und des Fachbereichs Wasserrecht mehrfach geändert.
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Der im Verfahren beteiligte fachliche Immissionsschutz des Beklagten teilte in seiner Stellungnahme vom 9. April 2021 mit, dass aus immissionsschutzfachlicher Sicht keine Bedenken bestünden.
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Mit Bescheid vom 7. März 2022 genehmigte der Beklagte das Bauvorhaben Neubau einer Moschee mit Gebets-, Schulungs-, Vereins- und Konferenzräumen, einem Nebengebäude und einer Vorbeterwohnung sowie die Errichtung von Stellplätzen unter im einzelnen angeführten Auflagen. Im Bescheid heißt es u.a.:
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1.1. Die Baumaßnahme ist gemäß den genehmigten Bauvorlagen auszuführen. Die Nutzungsbaubeschreibung vom 28. August 2020 sowie die Stellungnahme zum Schreiben vom 14. Oktober 2020 sind Bestandteil des Bescheides.
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1.3. Das Brandschutzkonzept […] vom 30. November 2021 ist Bestandteil der Baugenehmigung und bei der Bauausführung und Gebäudenutzung in allen Punkten zu beachten. Die Abnahme hat durch den Ersteller zu erfolgen. […]
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2.1. Es wird gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO eine Abweichung von Art. 29 Abs. 4 BayBO zugelassen (Öffnung des Gebetsraums im Erdgeschoss zur Galerieebene im Obergeschoss mehr als 400 m2; hier 60,00 m2 Überschreitung)
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2.2. Es wird gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO eine Abweichung von der ASR A2.3 zugelassen (Türe schließt nicht wie gefordert in Fluchtrichtung auf)
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3.1. Es wird gemäß § 31 Abs. 1 BauGB eine Ausnahme von den Festsetzungen des Bebauungsplanes zugelassen (Anlage für kirchliche Zwecke)
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4.10. Die Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze, der Grundflächenzahl, der Höhe des Minaretts sowie der Vorbeterwohnung wurden bereits in der Bauvoranfrage ausgesprochen.
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Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, die Baugenehmigung sei zu erteilen gewesen, weil dem Vorhaben öffentliches Recht nicht entgegenstehe. Die Zulassung der Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Vorschriften beruhe auf Art. 63 Abs. 1 BayBO. Die Vorschriften, von denen abgewichen werde, hätten keine nachbarschützende Funktion. Eine Beeinträchtigung nachbarlicher Belange sei nicht erkennbar. Die übrigen Voraussetzungen für die Zulassung der Abweichung lägen vor. Sie habe daher ermessensfehlerfrei zugelassen werden können. Die gewährte Ausnahme von den Festsetzungen des Bebauungsplans beruhe auf § 31 Abs. 1 BauGB. Sie sei im Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen. Die Voraussetzungen lägen vor, sie habe daher ermessensfehlerfrei zugelassen werden können.
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Mit Schreiben vom 1. April 2022, eingegangen am 4. April 2022, erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg. Eine ausdrückliche Antragstellung erfolgte nicht.
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Zur Begründung wurden u.a. Bedenken hinsichtlich des Brandschutzes, des Stellplatznachweises, des fehlenden Lärmschutznachweises, der Gebäudeklasse sowie der Bauhöhe angeführt.
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Die Bauherrin wurde mit Beschluss vom 6. April 2022 zum Verfahren beigeladen. Sie hat keinen Antrag gestellt.
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Der Beklagte trat der Klage unter dem 28. April 2022 entgegen. Für ihn ist beantragt,
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Das Baugrundstück befinde sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans Gewerbegebiet ... Nord, der als Art der baulichen Nutzung ein Gewerbegebiet festsetze. Der Beigeladenen sei am 1. September 2015 ein Bauvorbescheid zu einzelnen das Bauvorhaben betreffenden Fragen erteilt worden. Die Baugenehmigung zur Errichtung der Moschee sei unter Zulassung der erforderlichen Ausnahme von den Festsetzungen des Bebauungsplans hinsichtlich einer Anlage für kirchliche Zwecke i.S.d. § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO erteilt worden. Die Klägerin werde durch die Erteilung der Baugenehmigung nicht in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt. Der Bebauungsplan enthalte keine Festsetzung zur Gebäudeklasse 3 im Sinne des Art. 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 BayBO sondern eine solche zur zulässigen Zahl der Vollgeschosse (III). Diese sei eingehalten. Bei der zulässigen Gebäudeklasse handle es sich zudem nur um eine bauordnungsrechtliche Einstufung von Gebäuden, die lediglich Auswirkungen auf die im Rahmen des baurechtlichen Genehmigungsverfahrens bzw. der Bauausführung vorzulegenden bautechnischen Nachweise habe und von der keine nachbarschützende Wirkung ausgehe. Gleiches gelte für die Anzahl der Stellplätze, die mangels gemeindlicher Stellplatzsatzung nach der Anlage zur Garagen- und Stellplatzverordnung ermittelt worden und für die geplante Nutzung und deren Umfang ausreichend sei. Ein entsprechender Stellplatznachweis sei Bestandteil der Bauantragsunterlagen. Die Abstandsflächen des Gebäudes seien auf dem Grundstück eingehalten; der Grenzabstand zum klägerischen Grundstück betrage an der engsten Stelle ca. 9,1 m; erforderlich wären am höchsten Gebäudeteil (Minarett) 4,1 m. Es sei nicht zu erwarten, dass von der geplanten Nutzung Belästigungen oder Störungen ausgehen könnten, die nach der Eigenart des Baugebiets unzumutbar wären oder die Nutzung selbst solchen Störungen ausgesetzt sein könnte. Insbesondere habe die immissionsschutzfachliche Beurteilung durch den Umweltingenieur zu keinen Beanstandungen oder Bedenken geführt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15. März 2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte entschieden werden, auch wenn zur mündlichen Verhandlung lediglich Vertreter des Beklagten erschienen sind. Sowohl die Klagepartei als auch die Beigeladene wurden mit der Ladung darauf hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
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I. Die Klage ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 4 m.w.N.; B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20 m.w.N.). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn die Genehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen waren (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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Nach diesen Maßstäben ist die vorliegende Anfechtungsklage erfolgreich. Die Klägerin kann eine Aufhebung der Baugenehmigung wegen Verletzung des sog. Gebietserhaltungsanspruchs verlangen, da die mit der Moschee genehmigte Wohnung für den Vorbeter und seine Familie nach der Art der baulichen Nutzung bauplanungsrechtlich unzulässig ist (siehe 1.). Bauordnungsrechtlich verstößt die Baugenehmigung zwar nicht gegen die Klägerin schützende Vorschriften des Brandschutz- oder Stellplatzrechts, das genehmigte Nebengebäude hält jedoch die erforderlichen Abstandsflächen nicht ein (siehe 2.).
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1. Die erteilte Baugenehmigung wurde unter Verstoß gegen § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO erteilt und verletzt die Klägerin in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten. Zwar ist die Errichtung einer Moschee in einem Gewerbegebiet grundsätzlich bauplanungsrechtlich zulässig. Die gleichzeitig genehmigte Vorbeterwohnung ist jedoch bauplanungsrechtlich unzulässig und verletzt den Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin.
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a) Der Gebietserhaltungsanspruch gibt den Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet oder in einem „faktischen“ Baugebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB) das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben zur Wehr zu setzen. Der Anspruch beruht auf der Erwägung, dass die Grundstückseigentümer durch die Lage ihrer Anwesen in demselben Baugebiet zu einer Gemeinschaft verbunden sind, bei der jeder in derselben Weise berechtigt und verpflichtet ist. Die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat nachbarschützende Funktion zugunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet. Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Durch Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind. Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll daher jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können (BVerwG, U.v. 29.3.2022 – 4 C 6.20 – juris Rn. 8 m.w.N.; BayVGH, B.v. 18.2.2020 – 15 CS 20.57 – juris Rn. 15 m.w.N.).
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b) Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs der Klägerin scheidet nicht schon deshalb aus, weil für das verfahrensgegenständliche Vorhaben unter dem 1. September 2015 ein positiver Vorbescheid erteilt worden ist, in dessen Rahmen die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit bereits abschließend geprüft wurde. Insofern ist zu beachten, dass der genannte Vorbescheid ohne Beteiligung der Nachbarschaft ergangen ist. Der Beklagte ist damit dem Antrag der Beigeladenen gemäß Art. 71 Satz 4 Halbs. 2 BayBO gefolgt (vgl. Bl. 3 der Vorbescheidsakte). Dementsprechend entfaltet der Vorbescheid vom 1. September 2015 gegenüber der Klägerin keinerlei Rechtswirkungen. Es kommt nicht darauf an, ob die Klägerin vom Vorbescheid Kenntnis erlangt hat. Unklarheiten und Streitigkeiten im Verhältnis zum Nachbarn werden bei einem solchen Prozedere in das Baugenehmigungsverfahren verlagert (BayVGH, B.v. 2.9.2010 – 14 ZB 10.604 – juris Rn. 10; Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2022, Art. 71 Rn. 56).
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Ungeachtet dessen beträgt die Gültigkeitsdauer eines Vorbescheids nach Art. 71 Satz 2 BayBO drei Jahre. Die Verlängerungen des Vorbescheids vom 1. September 2015 wurden lediglich der Beigeladenen zugestellt, nicht jedoch der Klägerin bekannt gegeben, so dass auch vor diesem Hintergrund keine Bindungswirkung der Klägerin an die Feststellungen des Vorbescheids vom 1. September 2015 bzw. dessen Verlängerungen besteht. Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens ist daher im vorliegenden Verfahren im Verhältnis zur Klägerin vollumfassend zu prüfen.
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c) Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit richtet sich vorliegend nach § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 BauNVO. Demnach konnte die Moschee in dem mittels Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet ausnahmsweise zugelassen werden (aa). Die ebenfalls genehmigte Vorbeterwohnung ist jedoch im Gewerbegebiet unzulässig und verletzt den Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin (bb). Im Übrigen bestehen keine bauplanungsrechtlichen Abwehransprüche der Klägerin gegen das geplante Vorhaben (cc).
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aa) Die Errichtung einer Moschee ist im Gewerbegebiet als Anlage für kirchliche Zwecke ausnahmsweise zulässig nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Anlagen für kirchliche Zwecke sind beispielsweise Kirchen, Synagogen, Moscheen, Klöster und vergleichbare Andachtsräume. Daneben unterfallen diesem Begriff auch Gemeinderäume und Unterrichtsräume für die religiöse Unterweisung, mit anderen Worten Anlagen, die unmittelbar religiösen Zwecken dienen (Schmidt-Bleker in Spannowsky/Hornmann/Kämper, BeckOK BauNVO, Stand 15.1.2023, § 8 Rn. 202). Durch die Erteilung einer Ausnahme, deren tatbestandliche Voraussetzungen gegeben sind, kann der Gebietserhaltungsanspruch der Klägerin nicht verletzt werden. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Ausnahmevoraussetzungen ist bereits sichergestellt, dass das zugelassene Vorhaben den Gebietscharakter unangetastet lässt (vgl. zu einem in einem allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zugelassenen Feuerwehrgerätehaus BVerwG, U.v. 29.3.2022 – 4 C 6.20 – juris Rn. 20).
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bb) Die ebenfalls genehmigte Wohnung für den Vorbeter kann jedoch weder als Ausnahme zugelassen werden (siehe (1)), noch hat der Beklagte hierfür zulässigerweise eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans erteilt (siehe (2)). Sie ist daher bauplanungsrechtlich unzulässig und führt, da die Baugenehmigung insoweit nicht teilbar ist, insgesamt zur Aufhebung der Baugenehmigung.
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(1) Zutreffend ist der Beklagte bei der Erteilung des Vorbescheids und auch in der angefochtenen Baugenehmigung davon ausgegangen, dass die Wohnung für den Vorbeter und seine Familie nicht im Wege der Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 8 Abs. 3 BauNVO zugelassen werden kann, sondern eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB erforderlich ist. Die Tatbestände der Ausnahmen nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 oder 2 BauNVO sind vorliegend nicht erfüllt.
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Bei der Wohnung handelt es sich nicht um eine Anlage für kirchliche Zwecke i.S.d. § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO. Sie mag zwar die Arbeit des Vorbeters erleichtern, dient jedoch nicht unmittelbar religiösen Zwecken.
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Auch als eine einem Gewerbebetrieb zugeordnete Wohnung für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter i.S.d. § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO ist sie nicht ausnahmsweise zulässig. Dies scheitert bereits daran, dass eine Anlage für kirchliche Zwecke kein Gewerbebetrieb ist und § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO als Ausnahmevorschrift grundsätzlich eng auszulegen ist. Der Charakter als Ausnahmetatbestand verbietet eine extensive Auslegung, was sich schon daraus ergibt, dass nach der Zielsetzung der BauNVO Gewerbegebiete im Grundsatz zum Wohnen ungeeignet sind (Fickert/Fieseler, BauNVO, 12. Aufl. 2014, § 8 Rn. 14.12).
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Selbst wenn man zugunsten der Beigeladenen die Ausnahmevorschrift des § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO auf eine Moschee als Hauptnutzung anwenden würde, würde die ausnahmsweise Zulassung der Wohnung für den Vorbeter daran scheitern, dass die Wohnung nicht aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll wäre. Denn auch im Falle einer gewerblichen Hauptnutzung wäre für die Zulassung einer betriebsbezogenen Wohnung erforderlich, dass die dort lebenden Personen wegen der Art des Betriebes oder zur Wartung von Betriebseinrichtungen oder aus Sicherheitsgründen ständig erreichbar sein müssen, und deswegen das Wohnen solcher Personen nahe dem Betrieb erforderlich ist. Für Betriebsleiter und Betriebsinhaber können wegen ihrer engen Bindungen an den Betrieb Wohnungen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück auch dann zulässig sein, wenn der Betrieb ihre ständige Einsatzbereitschaft nicht zwingend erfordert; aber auch dann muss ihr Wohnen auf oder nahe dem Betriebsgrundstück mit Rücksicht auf Art und Größe des Betriebes aus betrieblichen Gründen objektiv sinnvoll sein (BVerwG, B.v. 22.6.1999 – 4 B 46.99 – juris Rn. 5 f.; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2022, § 8 BauNVO Rn. 37). Keine betriebsbezogenen Gründe sind z.B. die mit dem Arbeiten und Wohnen „unter einem Dach“ verbundenen Vorteile oder die günstigen Wohnkosten in Gewerbegebieten (Stock in König/Roeser/Stock, BauNVO, 5. Aufl. 2022, § 8 Rn. 45). Allein der Umstand‚ dass der Bewohner in einem arbeitsrechtlichen Verhältnis zu dem vermietenden gewerblich tätigen Unternehmen steht‚ vermag eine Wohnnutzung nicht in eine gewerbliche Nutzung zu verwandeln (BayVGH, U.v. 16.2.2015 – 1 B 13.648 – juris Rn. 25).
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Nach diesen Maßstäben kann die Wohnung des Vorbeters nicht ausnahmsweise zugelassen werden. Die ständige Anwesenheit eines Imams ist zwar gerade vor dem Hintergrund der über den Tag verteilten Gebetszeiten praktisch, geht aber letztlich nicht über die allgemeinen Vorteile des Wohnens und Arbeitens unter einem Dach hinaus. Derartige Vorteile rechtfertigen jedoch auch bei Gewerbebetrieben, in denen eine ständige Erreichbarkeit im Interesse eines guten Kundenservice wünschenswert ist, nicht die Zulassung einer betriebsbezogenen Wohnung. Für etwaige seelsorgerische Tätigkeiten außerhalb der üblichen Arbeitszeiten ist ohne weiteres eine telefonische Kontaktaufnahme möglich.
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Die Wohnung ist demnach weder nach § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO noch nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO ausnahmsweise zulässig.
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(2) Eine Zulassung der Wohnung erfordert demnach die Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans.
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Bei Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans gem. § 31 Abs. 2 BauGB hängt der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen oder nicht. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Bei einer Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung richtet sich der Nachbarschutz hingegen ausschließlich nach den Grundsätzen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, das aufgrund der gem. § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet (BayVGH, B.v. 16.3.2021 – 15 CS 21.544 – juris Rn. 52 m.w.N.).
47
Fehlt es an einer an sich erforderlichen Befreiung (auch sog. „versteckter Dispens“), so können Rechte des Nachbarn nur durch die Baugenehmigung selbst, nicht jedoch durch die – nicht existierende – Befreiung verletzt sein. Unterbleibt eine erforderliche Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung, so ergibt sich hieraus ohne weiteres wegen subjektiver Rechtsverletzung ein Abwehranspruch des in den persönlichen Schutzbereich der verletzten Festsetzung einbezogenen Nachbarn. Im Falle eines objektiv-rechtlichen Verstoßes gegen eine nicht nachbarschützende Festsetzung eines Bebauungsplans verbleibt dem Nachbarn Drittschutz in entsprechender Anwendung des § 15 Abs. 1 BauNVO unter Berücksichtigung der Interessenbewertung nach § 31 Abs. 2 BauGB nur nach Maßgabe des Rücksichtnahmegebots (BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – BeckRS 2016, 51753 Rn. 33 m.w.N.).
48
Während Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung grundsätzlich generell und unabhängig davon, ob der Nachbar durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird, schon kraft bundesrechtlicher Vorgabe als drittschützend angesehen werden (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 – 4 B 39.13 – juris Rn. 3 m.w.N.), folgt aus Art. 14 GG kein Gebot, sonstige Festsetzungen drittschutzfreundlich auszulegen.
49
Nach diesen Maßstäben verletzt die Baugenehmigung die Klägerin in ihren Rechten.
50
(a) Die Klage ist bereits deswegen erfolgreich, weil die angefochtene Baugenehmigung keine Befreiung hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung enthält (sog. versteckter Dispens, s.o.). Eine derartige Befreiung hat der Beklagte zwar im Vorbescheid, nicht jedoch in der Baugenehmigung erteilt. Auch aus den Gründen des Bescheids ist ersichtlich, dass der Beklagte im Rahmen der Baugenehmigung keine (erneute) Entscheidung über die Befreiung getroffen hat. In der Baugenehmigung findet sich unter 4.10. vielmehr nur der Hinweis, dass die Befreiung hinsichtlich der Vorbeterwohnung bereits im Vorbescheid ausgesprochen worden sei. Zwar ist der im Vorbescheid vorweg entschiedene Teil der Baugenehmigung im späteren Baugenehmigungsverfahren von der Bauaufsichtsbehörde nicht mehr zu prüfen, so dass die nachfolgende Baugenehmigung den Inhalt eines bestandskräftigen Vorbescheids nur redaktionell oder als Hinweis, aber ohne eigene, Dritte beschwerende Regelung übernimmt (vgl. Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2022, Art. 71 Rn. 115). Dies kann aber nur gelten, wenn der Vorbescheid dem Dritten gegenüber wirksam ist. Da der Vorbescheid jedoch gegenüber der Klägerin keine Bindungswirkung entfaltet (s.o.), hätte über die Befreiung im Rahmen der Baugenehmigung (erneut) entschieden werden müssen. Bereits das Fehlen der an sich erforderlichen Befreiung führt zum Erfolg der vorliegenden Anfechtungsklage.
51
(b) Darüber hinaus wäre auch in materieller Hinsicht die Erteilung einer Befreiung für die Vorbeterwohnung nicht möglich. Eine Befreiung kann nach § 31 Abs. 2 BauGB nur erfolgen, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Ein Gewerbegebiet dient nach seiner allgemeinen Zweckbestimmung jedoch vorwiegend der Unterbringung nicht erheblich belästigender Gewerbebetriebe; im Gewerbegebiet soll hingegen nicht gewohnt werden. Dies ergibt sich bestätigend aus § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO, nach dem nur gleichsam als notwendige Ergänzung der gewerblichen Nutzung Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und -leiter ausnahmsweise zugelassen werden können. Bauvorhaben‚ die außerhalb des Anwendungsbereichs von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO einer Wohnnutzung dienen sollen‚ sind mit dem Charakter eines Gewerbegebiets nicht vereinbar (BVerwG, B.v. 13.5.2002 – 4 B 86.01 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 13.2.2015 – 1 B 13.646 – Rn. 28). Befreiungen von § 8 Abs. 3 Nr. 1 BauNVO, um das allgemeine Wohnen im Gewerbegebiet zu ermöglichen, sind grundsätzlich unzulässig, weil das allgemeine Wohnen der Eigenart des Gewerbegebiets widersprechen und ein nicht vertretbares Nebeneinander von Wohnen und Gewerbe im Gewerbegebiet entstehen würde. Die Grundzüge der Planung werden hier regelmäßig berührt (Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2022, § 8 BauNVO Rn. 41c; Pützenbacher in Bönker/Bischopink, BauNVO, Stand 2018, § 8 Rn. 123). Eine Befreiung für die Vorbeterwohnung kann daher nicht erteilt werden.
52
cc) Im Übrigen hat die Klägerin keine bauplanungsrechtlichen Abwehransprüche gegen das geplante Vorhaben. Die Befreiungen hinsichtlich der Überschreitung der Baugrenze, der Grundflächenzahl sowie der Höhe betreffen Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, die nicht drittschützend sind. Anhaltspunkte dafür, dass sich das Vorhaben der Klägerin gegenüber als rücksichtslos erweisen könnte, bestehen insofern nicht.
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2. In bauordnungsrechtlicher Sicht kann sich die Klägerin nicht auf etwaige Verstöße in Bezug auf Brandschutz und Stellplatznachweis berufen (a)). Das genehmigte Nebengebäude verstößt jedoch gegen das (nachbarschützende) Abstandsflächenrecht und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (b)).
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a) Die von der Klägerin monierten Brandschutzbelange verhelfen ihrer Klage nicht zum Erfolg. Brandschutzvorschriften entfalten nicht per se nachbarschützende Wirkung, sondern nur, wenn sie „nach außen“ zielen, also nicht auf den Schutz des von der Anforderung betroffenen Gebäudes und seiner Bewohner bzw. Benutzer begrenzt sind, sondern mit Blick auf die Verhinderung der Ausbreitung von Feuer und Rauch in der Umgebung jedenfalls auch auf den Schutz des Nachbargrundstücks und der sich dort befindlichen Personen und/oder (unbeweglichen und beweglichen) Sachen ausgerichtet sind (VG München, U.v. 12.6.2020 – M 28 K 18.3517 – juris Rn. 56). Vorliegend hält das Hauptgebäude zum klägerischen Grundstück einen Abstand von 9,07 m und damit die nach Art. 28 BayBO erforderlichen Brandabstände ohne weiteres ein. Die von der Klagepartei angeführten Aspekte können damit allenfalls den Brandschutz auf dem Grundstück der Beigeladenen berühren, jedoch von vornherein keine Rechtsverletzung der Klägerin begründen.
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Weiter kann die Frage, ob für das Vorhaben der Beigeladenen eine ausreichende Anzahl an Stellplätzen nachgewiesen ist, der Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Art. 47 BayBO vermittelt grundsätzlich keinen Drittschutz (BayVGH, B.v. 9.5.2016 – 2 AS 16.420 – juris Rn. 7; Würfel in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2022, Art. 47 Rn. 227).
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b) Ein Abwehranspruch der Klägerin ergibt sich jedoch aus dem nachbarschützenden Abstandsflächenrecht, da das an der östlichen Grundstücksgrenze genehmigte Nebengebäude die erforderlichen Abstandsflächen zum klägerischen Grundstück nicht einhält. Zwar sind bestimmte Nebengebäude nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO ohne eigene Abstandsflächen zulässig. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die mittlere Wandhöhe nicht mehr als drei Meter beträgt (vgl. Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO). Dabei wird die Wandhöhe von der natürlichen, nicht von der nach Aufschüttungen oder Abgrabungen veränderten Geländeoberfläche aus gemessen (vgl. Kraus in Busse/Kraus, BayBO, Stand September 2022, Art. 6 Rn. 191). Vorliegend ist die Höhe des Nebengebäudes in der Ansicht Ost auf Blatt 21 der Akten zwar mit 2,8 m vermaßt. Dieses Maß bezieht sich jedoch nicht auf das vorhandene, sondern das geplante Gelände. Das vorhandene Gelände ist im Plan „gegriffen“ mit dem Lineal zwischen sechs und neun Millimetern unter dem geplanten Gelände dargestellt, so dass die abstandsflächenrelevante Wandhöhe des Nebengebäudes an der niedrigsten Stelle 3,4 m und an der höchsten Stelle 3,7 m beträgt. Dies hat zur Folge, dass das Nebengebäude Abstandsflächen auslöst und daher nicht unmittelbar an der Grundstücksgrenze errichtet werden darf.
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II. Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Da die Beigeladene keinen eigenen Antrag gestellt und sich damit nicht dem Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt.
58
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.