Titel:
kein Abschiebungsverbot bzgl. Irak
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung können in besonderen Ausnahmefällen, wenn sie also eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles ein Abschiebungsverbot begründen. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Gefahrenlage, Abschiebungsverbot
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 09.05.2022 – Au 5 K 21.30525
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7313
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Die allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) ist nicht ausreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag nicht.
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Der Kläger hält für klärungsbedürftig die (Tatsachen-)Frage, ob „aufgrund der schlechten humanitären Bedingungen im Irak die Rahmenbedingungen eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK führen kann“.
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Zur Begründung führt der Kläger aus, die derzeitigen Rahmenbedingungen im Irak seien so belastend, dass Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen seien. Laut Auswärtigem Amt habe sich die humanitäre Lage im Irak seit dem Vormarsch des islamischen Staates im Jahr 2014 deutlich zugespitzt. Rund 2,4 Millionen Menschen im Irak seien auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, nicht einmal die Grundversorgung der Bürger sei in allen Bereichen des Landes gewährleistet. Nach Angaben des UN-Programmes „Habitat“ glichen die Lebensbedingungen von 57% der sich in den Städten befindenden Menschen denen von „Slums“. Nach den Ermittlungen der UN-Mission schon im Jahr 2013 seien vier Millionen Iraker unterernährt. Laut Auswärtigem Amt (Lagebericht vom 18.2.2016) lebe ein Viertel der gesamten Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Das Auswärtige Amt habe derzeit einen Ausreiseaufruf für einige Regionen veröffentlicht, auch aus dem Großraum Bagdad werde die Ausreise dringend empfohlen. Die medizinische Versorgung im Irak sei weder technisch noch personell ausreichend gewährleistet. Aufgrund von Gewässerverunreinigungen komme es regelmäßig zu endemisch ausbrechenden Krankheiten. So sei im Sommer 2015 in der Region um Bagdad Cholera ausgebrochen, bei der mehrere tausend Erkrankungen verzeichnet worden seien. Mit diesen Tatsachen habe sich das Gericht nicht ausreichend auseinandergesetzt.
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Diese Ausführungen können nicht zur Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung führen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere („minimum level of severity“) erreichen, um ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu begründen. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist relativ und hängt von den Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen (U.v. 13.12.2016 – 41738/10 – Rn. 174). In sehr besonderen Ausnahmefällen („other very exceptional cases“), in denen es – wie vorliegend – an einem verantwortlichen Akteur (vgl. § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c AsylG) fehlt, können andere Umstände wie auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK begründen, sofern diese zwingend („compelling“) gegen eine Abschiebung sprechen (U.v. 27.5.2008 – 26565/05 – Rn. 42, 43). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entspricht Art. 4 der GRC dem Art. 3 der EMRK und hat gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC (bis 1.12.2009: Art. 59 Abs. 2 GRC) die gleiche Bedeutung und Reichweite, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung können daher auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverwaltungsgerichts in besonderen Ausnahmefällen („wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen“) unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles ein Abschiebungsverbot nach Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK begründen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rn. 91; BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 15; BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12).
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Die gestellte Frage ist danach einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich, weil sie einer Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls bedarf. Eine solche Würdigung hat das Verwaltungsgericht im Übrigen vorgenommen und insbesondere unter Hinweis auf seine im Irak lebenden engen Familienangehörigen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verneint.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).