Inhalt

VGH München, Beschluss v. 27.03.2023 – 12 ZB 22.1289
Titel:

Kein Ausfall der Unterhaltsleistung bei einer wirksamen Freistellungsvereinbarung der Eltern

Normenketten:
UVG § 1 Abs. 1 Nr. 2
EStG § 64 Abs. 2 S. 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 4, § 124a Abs. 4 S. 4
Leitsätze:
Stellt ein Elternteil den anderen von der Unterhaltspflicht frei, liegt kein Ausfall der Unterhaltsleistung vor. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Vorliegen des Merkmals "bei einem seiner Elternteile lebt" in § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei ist als ein wesentlicher Gesichtspunkt zu berücksichtigen, welcher Elternteil zum vorrangig Kindergeldberechtigten bestimmt wurde. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Ausfall von Unterhaltsleistungen iSv § 1 Abs. 1 Nr. 3 lit. a UVG liegt dann nicht vor, wenn die Eltern eine wirksame Freistellungsvereinbarung geschlossen haben und der das Kind betreuende Elternteil den anderen Elternteil von seiner Unterhaltspflicht freigestellt hat. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unterhaltsvorschussleistungen, Alleinerziehender, Mitbetreuungsanteil, Kindergeldbezug, Notarielle Trennungsvereinbarung, Freistellung von Unterhaltsverpflichtung, Haushaltsaufnahme, vorrangig Kindergeldberechtigte, wesentliche Mitbetreuung, Freistellungsvereinbarung, notarielle Trennungsvereinbarung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 17.03.2022 – W 3 K 21.759
Fundstellen:
FamRZ 2023, 1120
BeckRS 2023, 7298
LSK 2023, 7298

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1
Der Kläger verfolgt mit seinem Zulassungsantrag die Verpflichtung der Beklagten zur Leistung von Unterhaltsvorschuss an sein Kind C. für den Zeitraum 1. September 2020 bis 30. April 2021 weiter. Das Verwaltungsgericht hat seine hierauf gerichtete Klage mit Urteil vom 17. März 2022 abgewiesen. Den Antrag auf Zulassung der Berufung stützt der Kläger nunmehr auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, auf die Divergenz der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2021 (Az. 5 C 20.11) sowie – sinngemäß – auf die Verletzung rechtlichen Gehörs als Verfahrensmangel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Die vorgetragenen Zulassungsgründe – sofern überhaupt den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt – greifen der Sache nach jedoch nicht durch.
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1. Soweit der Kläger im vorliegenden Fall die grundsätzlich bedeutsame Frage für „betroffen“ erachtet, „ob für die Frage der überwiegenden Betreuung zusätzlich zu dem Zeitfaktor noch der wirtschaftliche Faktor hinzuzurechnen“ sei, kann er damit die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht erwirken.
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Die Darlegung der Grundsatzbedeutung einer Rechtssache erfordert, dass der Rechtsmittelführer zunächst eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, ausführt, weshalb diese Frage entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist, erläutert, weshalb die formulierte Frage klärungsbedürftig ist und schließlich vorträgt, weshalb der Frage eine über die einzelfallbezogene Rechtsanwendung hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. hierzu beispielhaft Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Klärungsbedürftig sind allein Fragen, die sich nicht ohne Weiteres aus dem Gesetz lösen lassen, die nicht bereits in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt sind oder für die bereits ergangene Entscheidungen keine ausreichenden Anhaltspunkte zur Beurteilung liefern (vgl. mit weiteren Nachweisen Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 38).
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Ungeachtet des Umstands, dass der Kläger vorliegend im Hinblick auf die konkrete Formulierung einer grundsätzlich klärungsfähigen Rechtsfrage den Darlegungsanforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht genügen dürfte, fehlt es bei seinem Zulassungsvorbringen insbesondere an der Herausarbeitung einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage.
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Zu den Voraussetzungen der Annahme einer wesentlichen Mitbetreuung des anderen Elternteils hat das Bundesverwaltungsgericht im – vom Verwaltungsgericht ausdrücklich in Bezug genommenen – Urteil vom 11. Oktober 2012 (5 C 20.11 – BVerwGE 144, 306 = BeckRS 2012, 60257 Rn. 20f.) ausgeführt, dass ein Kind nur dann im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG bei einem seiner Elternteile lebt, „wenn es mit ihm eine auf Dauer angelegte häusliche Gemeinschaft unterhält, in der es auch betreut wird. Dem Sinn und Zweck des Unterhaltsvorschussgesetzes entsprechend ist das Merkmal nur dann erfüllt, wenn der alleinstehende leibliche Elternteil wegen des Ausfalls des anderen Elternteils die doppelte Belastung mit Erziehung und Unterhaltsgewährung in seiner Person zu tragen hat. Abgrenzungsprobleme entstehen, wenn das Kind (…) regelmäßig einen Teil des Monats auch bei dem anderen Elternteil verbringt. Für die Beantwortung der Frage, ob das Kind in derartigen Fällen nur bei einem seiner Elternteile lebt, ist (…) entscheidend auf die persönliche Betreuung und Versorgung, die das Kind bei dem anderen Elternteil erfährt, und die damit einhergehende Entlastung des alleinerziehenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes abzuheben. Trägt der den Unterhaltsvorschuss beantragende Elternteil trotz der Betreuungsleistungen des anderen Elternteils tatsächlich die alleinige Verantwortung für die Sorge und Erziehung des Kindes, weil der Schwerpunkt der Betreuung und Fürsorge des Kindes ganz überwiegend bei ihm liegt, so erfordert es die Zielrichtung des Unterhaltsvorschussgesetzes, das Merkmal ‚bei einem seiner Elternteile lebt‘ als erfüllt anzusehen und Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz zu gewähren. Wird das Kind hingegen weiterhin auch durch den anderen Elternteil in einer Weise betreut, die eine wesentliche Entlastung des den Unterhaltsvorschuss beantragenden Elternteils bei der Pflege und Erziehung des Kindes zur Folge hat, ist das Merkmal zu verneinen.
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(VGH München, Beschlüsse vom 7. Februar 2006 – 12 ZB 04.2403 – juris Rn. 3, vom 16. Februar 2007 – 12 C 06.3229 – juris Rn. 2 und vom 4. Juli 2007 – 12 C 07.372 – juris Rn. 5; VGH Mannheim, Urteil vom 19. Dezember 1996 – 6 S 1668/94 – FEVS 47, 445 <446 f.>; OVG Münster, Beschluss vom 17. September 2009 – 12 E 1564/08 – juris Rn. 9 bis 12). Das Vorliegen des Merkmals ‚bei einem seiner Elternteile lebt‘ ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung des Einzelfalles zu beurteilen. Dabei ist als ein wesentlicher Gesichtspunkt zu berücksichtigen, welcher Elternteil zum vorrangig Kindergeldberechtigten bestimmt wurde. Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. Oktober 2002 (BGBl I S. 4210) wird das Kindergeld bei mehreren Berechtigten demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Der Begriff der Aufnahme in den Haushalt ist zwar (…) nicht deckungsgleich mit dem Begriff des ‚Lebens bei einem Elternteil‘; er weist jedoch erhebliche Parallelen zu Letzterem auf. Danach liegt eine Haushaltsaufnahme vor, wenn das Kind in die Familiengemeinschaft mit einem dort begründeten Betreuungs- und Erziehungsverhältnis aufgenommen worden ist. Neben dem örtlich gebundenen Zusammenleben müssen Voraussetzungen materieller (Versorgung, Unterhaltsgewährung) und immaterieller Art (Fürsorge, Betreuung) erfüllt sein (…).“
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An diese Rechtsprechung anknüpfend hat der Senat bereits entschieden (BayVGH, B.v. 22.4.2016 – 12 C 15.2382 – BeckRS 2016, 45822 Rn. 7), dass in einem Fall, in dem die Annahme einer „wesentlichen Mitbetreuung“ durch den anderen Elternteil nicht auszuschließen ist, es der Klärung im Einzelfall bedarf, „ob dem anderen Elternteil im Hinblick auf die Erziehung der Kinder, die Ausgestaltung des Umgangs und die Schaffung emotionaler Bezugspunkte eine (qualitativ) wesentlich mitbestimmende Rolle zukommt. Liegt hingegen trotz einer zeitlich weitreichenden Entlastung durch den anderen Elternteil die überwiegende Erziehungsverantwortung eindeutig bei einem Elternteil, kommt die Annahme der ‚wesentlichen Mitbetreuung‘ und damit der Wegfall des Anspruchs auf Unterhaltsvorschussleistungen nicht in Betracht (vgl. hierzu Ziffer 1.3.1 der Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Unterhaltsvorschussgesetzes [VwUVG 2016] in der ab 1.1.2016 geltenden Fassung).“
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Maßgeblich für die Annahme einer „wesentlichen Mitbetreuung“ ist demnach die Entlastung, die der das Kind überwiegend betreuende Elternteil bei der persönlichen Betreuung und Versorgung, mithin bei der Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung erfährt. Soweit das Bundesverwaltungsgericht hierbei im Kindergeldbezug ein mögliches Indiz für die alleinige Wahrnehmung der Erziehungsverantwortung durch einen Elternteil sieht, dann nur deshalb, weil der Kindergeldbezug an die „Aufnahme in den Haushalt“ des Elternteils anknüpft, was sich als weitgehend deckungsgleich mit dem Tatbestand des § 1 Abs. 1 Nr. 2 UVG – „der bei einem seiner Elternteile lebt“ – erweist. Mithin kommt es für die Frage der „wesentlichen Mitbetreuung“ auf die Kostentragung für das Kind – wie das Verwaltungsgericht zutreffend angenommen hat – nicht wesentlich an; der Kindergeldbezug erweist sich insoweit lediglich als indizieller Reflex der maßgeblichen persönlichen Betreuungssituation. Demzufolge hat der Kläger vorliegend mit seinem Vortrag, die finanzielle Lastentragung sei neben der zeitlichen Komponente ebenfalls zu berücksichtigen, bereits keine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen.
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Hinzu kommt, dass nach einhelliger Auffassung die Frage der „wesentlichen Mitbetreuung“ durch den anderen Elternteil jeweils anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen ist. Die einzelfallbezogene Anwendung von bereits grundsätzlich Geklärtem ermöglicht indes ebenso wenig die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wie die bloße (behauptete) Unrichtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 38).
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2. Ebenso wenig kommt der vom Kläger aufgeworfenen Frage, „ob eine Freistellungsvereinbarung zwischen den Eltern der UVG-Gewährung tatsächlich im Wege steht“, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu. Diesbezüglich fehlt es zunächst an substantiierten Ausführungen zum Vorliegen einer klärungsbedürftigen, entscheidungserheblichen Rechtsfrage. Insoweit hat das Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung ausführlich unter Bezugnahme auf Rechtsprechung und Kommentarliteratur dargelegt, dass ein Ausfall von Unterhaltsleistungen im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 lit. a UVG dann nicht vorliegt, wenn die Eltern eine wirksame Freistellungsvereinbarung geschlossen haben und der das Kind betreuende Elternteil den anderen Elternteil von seiner Unterhaltspflicht freigestellt hat. Gegen diese Auffassung sprechende Gesichtspunkte, die eine grundsätzlich klärungsbedürftige Rechtsfrage begründen, trägt der Kläger indes nicht vor. Soweit er im Übrigen rügt, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts unzutreffend sei, dass von der Klägerseite nicht auf den Eintritt der auflösenden Bedingung hingewiesen worden sein soll, behauptet er lediglich eine unrichtige Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht, worauf sich indes die Berufungszulassung wegen einer grundsätzlich bedeutsamen Rechtssache nicht stützen lässt (vgl. Happ a.a.O).
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3. Die Zulassung der Berufung wegen Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer einen Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung herausarbeitet, der von einem ebenfalls konkret zu benennenden Rechtssatz in einer Entscheidung des Divergenzgerichts entscheidungserheblich abweicht. Insoweit genügt das Vorbringen des Klägers in der Zulassungsgebegründung bereits den Darlegungsanforderungen nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO nicht. Im Übrigen liegt eine Abweichung der angegriffenen Entscheidung vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2012 (5 C 20.11) wie unter 1. dargelegt nicht vor. Der Kläger verkennt insoweit, dass dem alleinigen Kindergeldbezug eines Elternteils für die weit überwiegende Betreuung des Kindes nur indizielle Bedeutung zukommt; eine hiervon abweichende Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, das das angesprochene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich zitiert, ist nicht erkennbar. Die Zulassung der Berufung wegen Divergenz kommt daher offensichtlich nicht in Betracht.
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4. Soweit der Kläger schließlich die Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Annahme einer wesentlichen Mitbetreuung des Kindes C. durch die Kindsmutter rügt, bleibt dieses Vorbringen gänzlich unsubstantiiert. Die weitere Behauptung, eine Gehörsverletzung liege darin, dass das Verwaltungsgericht den Vortrag im Schriftsatz vom 5. Oktober 2021 zur „Hinfälligkeit“ der Freistellungsvereinbarung übersehen und bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt habe, trifft indes nicht zu. Hierzu hat das Verwaltungsgericht vielmehr ausdrücklich Stellung genommen (vgl. S. 16 des Entscheidungsabdrucks) und die Auffassung des Klägers, die Freistellungsvereinbarung in § 12 der Trennungsvereinbarung wäre nicht mehr wirksam, explizit zurückgewiesen. Dass das Verwaltungsgericht der Auffassung des Klägers in diesem Punkt nicht gefolgt ist, begründet indes keine Gehörsverletzung.
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Dies gilt gleichermaßen, soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 12. Juli 2022 eine E-Mail des Jugendamts zur Umgangsvereinbarung vom 5. August 2020 vorlegt. Inwieweit sich aus dieser E-Mail ergeben soll, dass das Jugendamt seine Auffassung teile, „dass mit der Beendigung der im Notarvertrag geregelten Betreuungszeiten auch die Geschäftsgrundlage für unterhaltsrechtliche Vereinbarungen entfallen ist, hier also auch die Freistellungsvereinbarung“, bleibt unerfindlich. Die übermittelte Email weist keinerlei Bezug zu einer notariellen Vereinbarung des Klägers mit der Kindsmutter über die Freistellung von Unterhaltsforderungen auf.
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Im Ergebnis liegen daher keine durchgreifenden Berufungszulassungsgründe vor, sodass der Zulassungsantrag abzulehnen war.
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5. Der Kläger trägt nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden in Angelegenheiten des Unterhaltsvorschussgesetzes nicht erhoben. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg nach § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO rechtskräftig.
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Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.