Inhalt

VGH München, Beschluss v. 17.03.2023 – 10 CE 23.489
Titel:

keine vorläufige Beseitigung der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 123 Abs. 1, Abs. 5
AufenthG § 58 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S.2, § 81 Abs. 4 S. 1, § 84 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Begehrt der Antragsteller die vorläufige Beseitigung der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht, ist aufgrund der Subsidiaritätsregelung des § 123 Abs. 5 VwGO ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Vor Ablauf einer gesetzten Ausreisefrist ist eine Abschiebung auch bei vollziehbarer Ausreisepflicht nicht zulässig. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einstweiliger Rechtsschutz, Abschiebungsschutz, Verhältnis von § 123 Abs. 1 VwGO und § 80 Abs. 5 VwGO, Rechtsschutz bei Einwand einer noch nicht abgelaufenen Ausreisefrist, Auslegung einer Ausreisefrist von „30 Tagen nach Vollziehbarkeit des Bescheids“ bei Ablehnung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis und gleichzeitiger Ausweisung, Albanien, Aufenthaltserlaubnis, Ausweisung, Fiktionswirkung, Vollzugsfolgenantrag
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 02.03.2023 – M 27 E 23.927
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7289

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. In Abänderung von Nr. III. des Beschlusses des Verwaltungsgerichts wird der Streitwert für beide Instanzen auf jeweils 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen, Antrag, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, ihn abzuschieben, weiter.
2
Der Antragsteller war zuletzt im Besitz einer bis zum 29. August 2022 gültigen Aufenthaltserlaubnis nach § 18 Abs. 4 AufenthG, deren Verlängerung er am 14. Juli 2022 beantragte. Mit Bescheid vom 14. Dezember 2022 wies der Antragsgegner ihn wegen einer strafrechtlichen Verurteilung aus (Nr. 1 des Bescheids), lehnte seinen Verlängerungsantrag ab (Nr. 2), setze eine Ausreisefrist von „30 Tagen nach Vollziehbarkeit dieses Bescheids“ (Nr. 3), drohte für den Fall nicht fristgemäßer Ausreise die Abschiebung nach Albanien an (Nr. 4) und erließ ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nr. 5).
3
Hiergegen erhob der Antragsteller am 20. Dezember 2022 Klage mit dem Ziel, den Antragsgegner unter Aufhebung des Bescheids vom 14. Dezember 2022 zu verpflichten, ihm die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen (M 27 K 22.6345). Einen Eilantrag stellte er zunächst nicht. Nachdem der Antragsteller am 27. Februar 2023 in Ausreisegewahrsam genommen wurde, beantragte er beim Verwaltungsgericht, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, bis zur Entscheidung über die Hauptsacheklage aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu unterlassen und das Datum auf der ihm ausgehändigten Grenzübertrittsbescheinigung entsprechend zu verlängern. Diesen Eilantrag lehnte das Verwaltungsgericht mit dem hier streitgegenständlichen Beschluss vom 2. März 2023 ab. Noch am 2. März 2023 (dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt am 10. März 2023) legte der Antragsteller hiergegen Beschwerde ein. Zur Begründung führte er an, die Ausreisefrist sei noch nicht abgelaufen, da nicht der gesamte Bescheid vollziehbar sei. Hierauf habe der Antragsteller jedenfalls vertraut.
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Mit gesondertem Schriftsatz vom 2. März 2023 beantragte der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung seiner Klage im Verfahren M 27 K 22.6345 anzuordnen. Diesen Antrag lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. März 2023 ab (Az. M 27 S 23.992).
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Noch am 3. März 2023 wurde der Antragsteller nach Albanien abgeschoben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
II.
7
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine Abänderung des angegriffenen Beschlusses.
8
1. Soweit der Antragsteller erreichen möchte, dass der Antragsgegner seine Abschiebung bis zur Entscheidung über seine Klage unterlässt und dabei geltend gemacht hat, dass der Antragsgegner die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nicht habe ablehnen dürfen, war der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO von Anfang an aufgrund der Subsidiaritätsregelung des § 123 Abs. 5 VwGO unzulässig. Dieser Antrag ist der Sache nach darauf gerichtet, die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht des Antragstellers (als erste Voraussetzung einer rechtmäßigen Abschiebung, vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) vorläufig zu beseitigen, was vorliegend durch einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zu verfolgen gewesen wäre.
9
Anders als der Antragsteller meint, ergab sich die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht mit Zugang des Bescheids vom 14. Dezember 2022 aus dem Umstand, dass mit dem Bescheid neben der Ausweisung zugleich auch der Antrag des Antragstellers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde. Damit entfiel die mit der rechtzeitigen Antragstellung entstandene Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG und der Antragsteller wurde vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), weil die dagegen erhobene Klage kraft gesetzlicher Anordnung keine aufschiebende Wirkung hatte (§ 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG). Zur vorläufigen Beseitigung der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht hätte der Antragsteller einstweiligen Rechtschutz durch einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 VwGO) suchen können und müssen (vgl. zum Ganzen Zimmerer in BeckOK Migrations- und IntegrationsR, Stand: 15.1.2023, § 58 Rn. 5; Pietzsch in Kluth/Hornung/Koch ZuwanderungsR-HdB, § 9 Rn. 50 ff. jew. m.w.N.; BayVGH, B.v. 19.4.2016 – 10 CS 16.746 u.a. – juris Rn. 8), was er – allerdings erst nach dem ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts im vorliegenden Verfahren – auch getan hat. Insofern war der (parallel) verfolgte Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO gem. § 123 Abs. 5 VwGO unstatthaft. Daran ändert auch der Umstand, dass der Antragsteller am 3. März 2023 abgeschoben wurde, nichts, denn in solch einer Konstellation kann ein denkbarer (hier aber nicht formulierter) Anspruch auf Rückholung ins Bundesgebiet als Antrag auf Vollzugsfolgenbeseitigung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO, nicht aber (parallel) als Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO weiterverfolgt werden (BayVGH, B.v. 30.7.2018 – 10 CE 18.769, 10 CS 18.773 – juris Rn. 15 f. m.w.N.).
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Dem Antragsteller bleibt es unbenommen, im Hinblick auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht seinen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 3. März 2023 (Az. M 27 S 23.992) abgelehnt hat, weiterzuverfolgen und gegebenenfalls mit einem Vollzugsfolgenantrag nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO zu verbinden. Der Senat weist jedoch darauf hin, dass die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Antragsgegner habe die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Recht abgelehnt, weshalb der Antragsteller abgeschoben werden könne, bei summarischer Prüfung keinen rechtlichen Bedenken begegnet.
11
2. Soweit der Antragsteller mit der Beschwerde (nur noch) geltend macht, die Ausreisefrist sei in seinem Fall noch nicht abgelaufen, weswegen eine Abschiebung noch nicht zulässig sei, kann sein Antrag dahingehend ausgelegt werden (§ 88 VwGO analog), dass er das Unterlassen der Abschiebung nur bis zum Ablauf der Ausreisefrist verlangt (etwa um freiwillig ausreisen zu können). Einem solchen Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO, der als Minus im ursprünglichen Antrag enthalten war, steht die Subsidiaritätsregel des § 123 Abs. 5 VwGO nicht entgegen, da eine Abschiebung bei gesetzter Ausreisefrist vor deren Ablauf auch bei vollziehbarer Ausreisepflicht nicht zulässig ist (vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) und dieses temporäre Abschiebungshindernis nicht mit einem Antrag auf Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO geltend gemacht werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 19.4.2016 – 10 CS 16.746 – juris Rn. 8 zur Zulässigkeit eines über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hinausgehenden Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO im Fall von Duldungsgründen).
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Gleichwohl ist auch ein in diesem Sinne ausgelegter Antrag vorliegend unzulässig (geworden). Da er (noch immer) die Unterlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zum Ziel hat, fehlt ihm nach dem Vollzug der Abschiebung das Rechtsschutzbedürfnis.
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Unabhängig davon wäre eine solcher Antrag aber auch unbegründet (gewesen). Die dem Antragsteller gesetzte Ausreisepflicht von 30 Tagen ab Vollziehbarkeit des Bescheids vom 14. Dezember 2022 war zum Zeitpunkt der Abschiebung am 3. März 2023 abgelaufen. Soweit der Antragsteller geltend macht, die Ausreisefrist habe nach der Formulierung in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids („30 Tage nach Vollziehbarkeit dieses Bescheids“) erst mit der Vollziehbarkeit auch der Ausweisung begonnen, greift dies nicht durch. Auch wenn eine eindeutigere, d.h. eine nicht der Auslegung bedürftige Formulierung wünschenswert gewesen wäre, kann die streitgegenständliche Formulierung nur so verstanden werden, dass der Beginn der Ausreisefrist an die durch die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Nr. 2 des Bescheids) begründete Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht als Handlungspflicht des Antragstellers anknüpft. Andernfalls wäre dem Antragsteller nur deswegen eine längere Ausreisefrist gewährt worden, weil er – neben der Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis – auch noch aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wurde (vgl. BayVGH, B.v. 26.10.2022 – 10 CE 22.2277 – unveröffentlicht). Die mit der Beschwerde angeführten Vertrauensschutzgesichtspunkte führen zu keinem anderen Ergebnis. Ein (hier auch noch anwaltlich vertretener) Ausländer, dessen Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt wurde, kann nicht darauf vertrauen, dass er nur deswegen eine längere Ausreisefrist zugestanden erhält, weil er auch noch aus dem Bundesgebiet ausgewiesen wird. Etwaige Unklarheiten kann und muss er insofern mit der Ausländerbehörde klären.
14
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
15
Als Streitwert war nach der ständigen Rechtsprechung des Senats in Fällen des einstweiligen Rechtsschutzes zur Verhinderung einer Abschiebung gem. § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bzw. 2, § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 und 2 GKG 1.250,- Euro festzusetzen. Dem Eilantrag im Hinblick auf die Grenzübertrittbescheinigung kommt keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung zu.
16
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).