Titel:
Asyl, Nigeria: Hinsichtlich Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot erfolgreiche Klage, da Kindeswohl und familiäre Bindungen bei Rückkehrentscheidung bei nicht abgeschlossenen Asylverfahren der Eltern nicht gebührend berücksichtigt wurden
Normenketten:
AsylG § 43 Abs. 3 S. 1
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1 Var. 1, § 113 Abs. 1 S. 1
EMRK Art. 8
Leitsatz:
Der Verweis auf ein dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagertes Verfahren – wie etwa eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde oder ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Duldung aufgrund einer sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden rechtlichen Unmöglichkeit genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 lit. a und b der Rückführungsrichtlinie nicht. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Nigeria, Männliches minderjähriges Kind ohne eigene Gründe, Kein Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen (Versorgung durch Mutter bei Erwerbsunfähigkeit des Vaters), Unionsrechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung gegen eineinhalbjähriges Kind bei Gestattung der Mutter (EuGH, B.v. 15.2.2023, C-484/22), männliches minderjähriges Kind ohne eigene Gründe, kein Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen, Unionsrechtswidrigkeit einer Abschiebungsandrohung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7261
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 1. Februar 2022 wird in den Nrn. 5 und 6 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Für den minderjährigen Kläger wird Rechtsschutz hinsichtlich einer ablehnenden Asylentscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) begehrt.
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Der Kläger, nigerianischer Staatsangehöriger vom Volk der Ishak, wurde am ... im Bundesgebiet geboren. Für ihn wurde aufgrund einer Geburtsmitteilung des Landratsamt ... am ... ein Asylverfahren eingeleitet.
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Eigene Asyl- und Verfolgungsgründe wurden gegenüber dem Bundesamt nicht geltend gemacht.
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Die Asylanträge der Mutter des Klägers, ... in ..., und eines Bruders des Klägers ..., wurden mit Bescheid des Bundesamts vom 14. November 2018 (Az. …) vollumfänglich als einfach unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und es wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Gegen den Bescheid ist ein Klageverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgericht München anhängig (M 13 K …). Im Verfahren wurde im Wesentlichen eine Ausreise aufgrund von Problemen des Kindsvaters geltend gemacht. Zudem drohe der Mutter eine Beschneidung. Der Bruder sei krank.
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Der Asylantrag des Vaters des Klägers, ..., wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 14. Dezember 2018 (Az. …) vollumfänglich als einfach unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und es wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Ein Klageverfahren wurde eingestellt (M 21a K …; 10 ZB …). Im Verfahren wurde im Wesentlichen eine Verfolgung aufgrund von Geldschulden vorgetragen. Hinsichtlich eines Asylfolgeantrags (Az....) gestützt auf gesundheitliche Gründe ist bisher kein Bescheid ergangen.
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Der Asylantrag einer Schwester des Klägers, ... im Bundesgebiet, wurde mit Bescheid des Bundesamts vom 17. Februar 2020 (Az. …) vollumfänglich als einfach unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, und es wurde die Abschiebung nach Nigeria angedroht. Hinsichtlich des Bescheides ist ein Klageverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgericht München anhängig (M 32 K...). Im Verfahren wurden im Wesentlichen eine drohende Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung sowie die Verfolgung der Eltern vorgetragen.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid des Bundesamts vom 1. Februar 2022 (Az....), zugestellt am 9. Februar 202, wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt (Nr. 1), der Antrag auf Asylanerkennung abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt (Nr. 3), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4), der Kläger – unter Aussetzung der Ausreisefrist bis zum Ablauf der Klagefrist – zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides bzw. 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit aufgefordert und die Abschiebung nach Nigeria oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet ist (Nr. 5), und das Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Asylanträge der Eltern abgelehnt und keine eigenen Gründe für den Kläger vorgetragen worden oder ersichtlich seien. Ein Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen bestehe nicht, da die Eltern zwar drei gemeinsame minderjährige Kinder hätten, aber gesund und erwerbsfähig seien. Die Abschiebungsandrohung sei entsprechend der gesetzlichen Regelung zu erlassen. Es wurde darauf hingewiesen, dass minderjährige Kinder nicht getrennt von ihren Eltern abgeschoben würden; über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise entscheide die Ausländerbehörde. Das Bundesamt habe infolge der Abschiebungsandrohung das Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen und ermessensgerecht zu befristen.
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Gegen den Bescheid ist am 22. Februar 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben worden. Zur Begründung wird eine politische Verfolgung des Vaters wegen angeblich unterschlagenen Wahlspenden sowie eine allgemein für den im Bundesgebiet geborenen Kläger schlechte Lage in Nigeria vorgetragen. Zudem sei der insbesondere an Wirbelsäulenschäden und Nervenleiden erkrankte und verfolgte Vater nicht zur Existenzsicherung der Familie fähig.
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Für den Kläger wird sinngemäß beantragt,
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I. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 2022 wird in den Nummern 1. und 3. bis 6. aufgehoben.
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II. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte beantragt
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und verweist zur Begründung auf den Bescheid.
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Der Rechtstreit ist mit Beschluss der Kammer vom 13. Januar 2023 zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen worden. In der mündlichen Verhandlung am 29. März 2023 sind klägerseitig drei Atteste hinsichtlich des Gesundheitszustands des Vaters vorgelegt worden.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29. März 2023.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte trotz des Nichterscheinens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden, da sie ordnungsgemäß geladen und dabei auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen wurde (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
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I. Die zulässige Klage ist bezüglich der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots begründet, im Übrigen unbegründet.
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG oder des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG liegt ebenfalls nicht vor. Somit ist der Bescheid in den Nrn. 1, 3 und 4 zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht rechtswidrig und rechtsverletzend (§ 113 Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
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Insoweit wird von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen: Das Gericht folgt dahingehend den Feststellungen und der Begründung im Bescheid und nimmt Bezug darauf (§ 77 Abs. 3 AsylG). Ergänzend ist auszuführen:
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Die geltend gemachten allgemein schlechten bzw. schweren Bedingungen für den Kläger in Nigeria sind nicht hinreichend konkret auf den Kläger verdichtet und erreichen auch nicht die zur Zuerkennung internationalen Schutzes oder zur Feststellung eines Abschiebungsverbots erforderliche Schwere.
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Von einer landesweit drohenden beachtlich wahrscheinlichen Verletzung des Art. 3 EMRK aufgrund der humanitären Lage in Nigeria (vgl. dazu ausführlich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, Version 6, Stand 29.7.2022, S. 53-56) ist nicht auszugehen. Somit besteht bezüglich der vorgetragenen, mittelbar von den Eltern abgeleiteten Verfolgungsgründe jedenfalls bei einem Niederlassen der Familie in den anonymen (vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Nigeria (Lagebericht Nigeria), Stand: 22.2.2022, S. 15, 23 f.; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 29.7.2022, S. 51 f.) und für die Familie erreichbaren (vgl. BFA, a.a.O., S. 50) Großstädten Lagos und Abuja ein die Zuerkennung internationalen Schutzes ausschließender interner Schutz, vgl. § 3e (i.V.m. § 4 Abs. 3) AsylG, und somit auch kein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG aus humanitären Gründen.
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Denn nach der anzustellenden hypothetischen, aber realitätsnahen Rückkehrprognose (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 49.18 – juris Rn. 15 ff.) ist aufgrund der im Bundesgebiet gelebten Familiengemeinschaft von einer Rückkehr des Klägers gemeinsam mit seinen beiden Eltern und Geschwister auszugehen. Damit kann selbst bei Annahme einer vollständigen Erwerbsunfähigkeit des Vaters des Klägers aufgrund seiner Rücken- und Nervenbeschwerden eine Existenzsicherung durch die Mutter des Klägers erfolgen. Zwar kommt es in Nigeria trotz rechtlicher Gleichstellung zu beachtlicher ökonomischer Diskriminierung von Frauen, insbesondere im Hinblick auf Erbschaft und Landbesitz (vgl. BFA, Themenbericht der Staatendokumentation, Nigeria, Zur sozioökonomischen Lage der und Gewalt gegen Frauen unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Stand 3.12.2021, S. 17). Es ist Frauen in Nigeria generell gesellschaftlich nicht zugedacht, Karriere zu machen, da Männer als Versorger der Familie gelten; dennoch finden Frauen und auch alleinerziehende Mütter – unter Berücksichtigung der allgemeinen Arbeitslosigkeit – üblicherweise Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei die Art der Arbeit von der Bildung abhängt (vgl. BFA, a.a.O., S. 20, 22 ff.). Die Mutter des Klägers ist voll erwerbsfähig und verfügt zumindest über eine grundlegende 5-jährige Schulbildung. Somit ist davon auszugehen, dass es ihr insbesondere bei einem Niederlassen der Familie in … oder … möglich und zumutbar ist, einer Erwerbstätigkeit, etwa auch im Bereich selbstbetriebener Straßenladengeschäfte als typische Verdienstmöglichkeit für Rückkehrer (vgl. BFA, a.a.O., S. 55), nachzugehen und dadurch sich und der Familie zumindest eine Lebensgrundlage am Rande des Existenzminimums zu erwirtschaften, insbesondere bei – zumutbarer (vgl. etwa BVerwG, U.v. 15.4.1997 – 9 C 38.96 – juris Rn. 27 mit Verweis auf U.v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris Rn. 12) – Inanspruchnahme der beträchtlichen Unterstützungsleistungen zur Reintegration und Existenzschaffung (vgl. im Überblick https://www.returningfromgermany.de/de/countries/nigeria). Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb der Vater des Klägers nicht in der Lage sein sollte, die Kinder zu betreuen, um der Mutter des Klägers eine Erwerbstätigkeit in Vollzeit zu ermöglichen. Zwar bestehen beim Vater des Klägers ausweislich des aktuellsten Attestes von ... nach einer Bandscheibenoperation weiterhin eine mittelschwere chronische Schmerzstörung, eine Fußheberschwäche sowie beidseitige Unterschenkelthrophikstörungen mit Ödemen und Schmerzen nach Polytrauma. Dennoch wird der Vater zumindest als körperlich gering belastbar eingeschätzt, sodass jedenfalls von einer Befähigung zur Aufsicht über und Sorge für die Kinder auszugehen ist. Daran ändert auch der attestierte Bedarf einer dauerhaften Schmerz- und Physiotherapie nichts. Einerseits ist aus den Attesten der aktuelle konkrete Behandlungsbedarf nicht ersichtlich, auch nicht aus dem Attest von ... Andererseits sind in Nigeria – zwar selbst zu finanzierende (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 29.7.2022, S. 57), unter Berücksichtigung einer möglichen Erwerbstätigkeit der Mutter des Klägers sowie der Rückkehrhilfen jedoch finanzierbare – Schmerzmittel wie etwa Diclofenac, Tramadol (vgl. European Union Agency for Asylum (EUAA), Medical Country of Origin Report: Nigeria, 04/2022, S. 108) oder auch Ibuprofen (vgl. UK Home Office, Country Information Note, Nigeria: Medical treatment and healthcare, 12/2021, S. 69) erhältlich. Insbesondere für städtische Gebiete in Nigeria ist auch davon auszugehen, dass für den Vater des Klägers zumindest eine grundlegende medizinische Versorgung möglich ist (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, Stand: 29.7.2022, S. 56). Dass diese in der Regel unter den europäischen Standards liegt (vgl. ebd.), ist nicht erheblich (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
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Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen liegen nicht vor. Solche Gründe wurden nicht hinreichend dargelegt und sind auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere genügen die Atteste von … … … … vom … … … sowie vom … … … offensichtlich nicht den Anforderungen von §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG. Denn die Attestierung ist zur Person unspezifisch und entbehrt jeder Darstellung der zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände, der Methode der Tatsachenerhebung, des Schweregrads der Erkrankung, der Klassifizierung und der ärztlichen Beurteilung der konkreten Folgen der angeführten Leiden der „Kinder der Familie“ an einer Anpassungsstörung, Entwicklungsverzögerung und Traumatisierung. Im Übrigen können gesundheitliche Beeinträchtigungen des Vaters und Bruders des Klägers im Rahmen der Prüfung eines gesundheitsbedingten Abschiebungsverbots des Klägers nicht berücksichtigt werden. Denn ein nationales Abschiebungsverbot muss stets in der Person des jeweiligen Betroffenen selbst begründet sein (so stRspr. des BVerwG, vgl. etwa U.v. 16.6.2004 – 1 C 27.03 – juris Rn. 9; U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 14).
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2. Die Abschiebungsandrohung und das Einreise- und Aufenthaltsverbot in den Nrn. 5 und 6 des Bescheides sind nach der Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung rechtswidrig und rechtsverletzend und somit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
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a. Unter Berücksichtigung des Beschlusses des Europäischen Gerichtshofs vom 15. Februar 2023 (C-484/22 – juris) über ein Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (B.v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris) ist im konkreten Fall des minderjährigen Klägers insbesondere aufgrund des sich aus der Aufenthaltsgestattung ergebenden Aufenthaltsrechts seiner Mutter § 34 Abs. 1 Satz 1 AufenthG unionsrechtskonform nicht anzuwenden, sodass die auf Grundlage von § 34 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. §§ 59, 60 Abs. 10 AufenthG ergangene Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist.
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Die Abschiebungsandrohung stellt eine Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4, Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 UAbs. 1 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über die gemeinsamen Normen und Verfahren in den Mitgliedsstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348, S. 98 ff.) – Rückführungsrichtlinie – dar (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage-B.v. 8.6.2022 – 1 C 24/21 – juris Rn. 18 unter Verweis auf U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 41, 45 und 56 m.w.N.) und hat somit unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen (vgl. Pietzsch in: BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2023, § 34 AsylG Rn. 5a).
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Nach Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie sind das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen. Diese Regelung ist dahingehend auszulegen, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen sind und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs zu erwirken (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
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Daran gemessen genügt bei einer Würdigung der konkreten familiären Verhältnisse des Klägers im Bundesgebiet der Erlass der Abschiebungsandrohung mit 30-tägiger Ausreisefrist den unionsrechtlichen Anforderungen nicht, da hierbei das Kindeswohl und die familiären Bindungen nicht in gebührender Weise berücksichtigt werden.
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Eine zur Vermeidung der Abschiebung grundsätzlich erforderliche freiwillige Ausreise binnen 30 Tagen nach Rechtskraft ist derzeit nicht zumutbar. Eine alleinige Ausreise des erst eineinhalb Jahre alten Klägers kommt von vornherein nicht in Frage. Ebenso wenig kommt eine freiwillige Ausreise gemeinsam mit seiner Mutter oder seinem Vater in Betracht. Die Mutter des Klägers verfügt aufgrund das anhängigen Klageverfahrens hinsichtlich ihres als einfach unbegründet abgelehnten Asylerstantrags nach wie vor über eine Aufenthaltsgestattung (§§ 55 Abs. 1 Satz 1, 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1, 75 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AsylG) und somit über ein, zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht (vgl. Röder in BeckOK MigR, Stand 15.1.2023, § 55 AsylG Rn. 1; Bergmann in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 55 Rn. 2 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 7.10.1975 – I C 46.69 – juris Rn. 28). Somit ist von ihr eine Rückkehr nach Nigeria zur Umsetzung einer fristgerechten Ausreise des Klägers nicht zu erwarten. Unabhängig davon, ob dem Kläger eine freiwillige Ausreise alleine mit seinem Vater und ohne seine Mutter im Hinblick auf das Kindeswohl und die dann jedenfalls deutlich beeinträchtigten Existenzsicherungsaussichten überhaupt zumutbar wäre, ist der Vater des Klägers in Anbetracht seines laufenden Asylfolgeantragsverfahrens jedenfalls offenkundig nicht ausreisewillig.
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Darüber hinaus berücksichtigt derzeit auch eine Vollstreckung der Ausreisepflicht des Klägers nach zu erwartendem fruchtlosem Ablauf der Ausreisefrist das Kindeswohl und die familiären Bindungen nicht in verhältnismäßiger Weise, sodass gleiches auch für die Androhung der Abschiebung gilt. Der eineinhalb Jahre alte Kläger lebt im Bundesgebiet in einer nach Art. 6 GG, Art. 7 GRCh bzw. Art. 8 EMRK grundrechtlich bzw. konventionsrechtlich geschützten Familiengemeinschaft mit seiner Mutter. Durch einen Vollzug der dem Kläger angedrohten Abschiebung käme es aufgrund der Aufenthaltsgestattung der Mutter des Klägers, die sie derzeit vor einer Überstellung nach Nigeria schützt, zu einer nicht zu rechtfertigenden Trennung von Mutter und Kind. Weder kann dem Kläger in Anbetracht seines Alters der Grund dafür verständlich gemacht werden noch ist absehbar, dass die zu erwartende Dauer der Trennung – insbesondere auch unter Berücksichtigung des Alters des Klägers sowie der Bedeutung der Mutter-Kind-Beziehung – verhältnismäßig kurz und damit hinnehmbar ist. Somit muss das öffentliche Interesse an einer wirksamen Vollstreckung der Ausreisepflicht (vgl. Erwägungsgrund Nr. 4 und 6 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie) im konkreten Fall des Klägers hinter dem Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindungen (Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie) zurückstehen.
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Der Verweis des Klägers auf ein dem Erlass der Abschiebungsandrohung nachgelagertes Verfahren – wie etwa eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung durch die Ausländerbehörde (§ 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG) oder ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis in Form einer Duldung aufgrund einer sich aus Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergebenden rechtlichen Unmöglichkeit (§ 60a Abs. 2 Satz 1 Var. 1 AufenthG) – genügt den unionsrechtlichen Anforderungen des Art. 5 Buchst. a) und b) der Rückführungsrichtlinie nicht (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 28).
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b. Damit sind auch der Erlass und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Bundesamt in Nr. 6 des Bescheides rechtswidrig, da hierfür nach § 75 Nr. 12 i.V.m. § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Alt. 2, Satz 3 und 4, Abs. 3 AufenthG die Abschiebungsandrohung vorausgesetzt ist.
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II. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Das Obsiegen des Klägers hinsichtlich der Aufhebung der Abschiebungsandrohung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots wiegt gegenüber dem Unterliegen bezüglich der mit dem Asylantrag und der Klage vorrangig begehrten Verpflichtungen auf eine (Abschiebungs-) Schutzgewährung verhältnismäßig gering (vgl. im Ergebnis so auch VG Sigmaringen, U.v. 7.6.2021 – A 4 K 3124/19 – juris, mit einer Kostenquote von 1/10 zu 9/10), sodass dem Kläger die Kosten ganz auferlegt werden.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.