Titel:
Glücksspielrecht, Glückspielaufsichtsrechtliche Untersagung, Zwangsgeldandrohung, Betrieb einer Vermittlungsstelle für Sportwetten, Abstand zu Schulen und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, Unionsrechtliches Kohärenzgebot, Inkohärenz in Hinblick auf Geldspielgeräte, Ermessensfehler
Normenketten:
AEUV Art. 56
GlüStV 2021 § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 3
AGGlüStV Art. 7 Abs. 2 Nr. 4
BayVwVfG Art. 40
Schlagworte:
Glücksspielrecht, Glückspielaufsichtsrechtliche Untersagung, Zwangsgeldandrohung, Betrieb einer Vermittlungsstelle für Sportwetten, Abstand zu Schulen und Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, Unionsrechtliches Kohärenzgebot, Inkohärenz in Hinblick auf Geldspielgeräte, Ermessensfehler
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7260
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Nrn. 2 bis 3.3 des Bescheids der Regierung von Oberbayern vom 16. Februar 2023 wird angeordnet.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 7.500,- EUR festgesetzt.
Gründe
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Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die unter Zwangsgeldandrohung ergangene Untersagung der Vermittlung von sowie Werbung für Sportwetten in einer Wertvermittlungsstelle in München.
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Die in Malta ansässige … … … (Sportwettenveranstalter) – Inhaber einer Konzession für die Vermittlung von Sportwetten – beantragte am 25. November 2020 bei der Regierung von Oberbayern die Erteilung einer Erlaubnis für den Betrieb einer Wettvermittlungsstelle durch die Antragstellerin.
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Das Stattfinden einer Anhörung der Antragstellerin zum beabsichtigten Bescheiderlass ist aus den Behördenakten zwar nicht ersichtlich, erfolgte jedoch nach den – antragstellerseitig unbestrittenen – Bescheidsgründen mit Schreiben vom 19. Januar 2023.
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Mit an die Antragstellerin adressiertem Bescheid der Regierung von Oberbayern vom 16. Februar 2023 wurde der Antrag auf Erteilung einer Erlaubnis zur Vermittlung von Sportwetten an den Sportwettenveranstalter in der Wettvermittlungsstelle … * … … … (Wertvermittlungsstelle) abgelehnt (Nr. 1) und die weitere dortige Vermittlung von sowie Werbung für Sportwetten untersagt (Nr. 2). Es wurde verfügt, den Abschluss und die Vermittlung neuer Wettverträge (Wettannahme) mit Bekanntgabe des Bescheids sofort zu unterlassen (Nr. 2.1), die Abwicklung bereits geschlossener und vermittelter Wettverträge nach Ablauf von 90 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids zu unterlassen (Nr. 2.2) und die für den Wettbetrieb erforderlichen Gegenstände nach Ablauf von 95 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids aus den Geschäftsräumen zu entfernen (Nr. 2.3). Für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Nr. 2 des Bescheids wurde für die Zuwiderhandlung gegen die Nrn. 2.1 bis 2.3 jeweils ein Zwangsgeld angedroht (Nrn. 3, 3.1, 3.2 und 3.3). Die Kosten habe die Antragstellerin zu tragen (Nr. 4) und es wurden Gebühren festgesetzt (Nr. 5). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund einer Unterschreitung des Mindestabstands von 250m zu einer Grundschule in der … * und der … in der … … ohne Vorliegen eines atypischen Falles ein Versagensgrund nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 4 des Bayerischen Ausführungsgesetzes zum Glückspielstaatsvertrag 2021 (AGGlüStV) für die Erlaubniserteilung vorliege und entsprechend die Untersagung verhältnismäßig und ermessensgerecht sei. Die sofortige Untersagung sei aufgrund der Kenntnis spätestens seit der Anhörung mit Schreiben vom 19. Januar 2023 zumutbar.
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Dagegen hat die Antragstellerin am 22. Februar 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben lassen (M 27 K 23.841) und beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, der Antragstellerin die Erlaubnis zur Vermittlung von Sportwetten an den Sportwettenveranstalter in der Wettvermittlungsstelle zu erteilen bzw. den Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden (Ziff. 1) und den Bescheid auch in Nrn. 2 bis 5 aufzuheben (Ziff. 2). Gleichzeitig beantragt die Antragstellerin
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die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nrn. 2 bis 5 des Bescheids.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass es in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung im Bereich des Jugendschutzes Fehlinterpretationen beim Vergleich der Suchtpotenziale von Glückspielautomaten und Sportwetten gebe. Zudem bestehe eine Ungleichbehandlung gegenüber der Betriebsform der Oddset-Annahmestellen. Der Bescheid leide wegen der Adressierung (nur) an die Antragstellerin als Wettvermittlerin statt (auch) an den Wettveranstalter an einem schwere Bekanntgabefehler. Es bestehe wegen Nichtberücksichtigung der Möglichkeit der Stellung von Anforderungen nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 GlüStV 2021 zur Erfüllung des konkret erforderlichen Jugendschutzes ein nicht heilbarer Ermessensfehler. Die Abstandsregelung und das Nebenbetriebsverbot seien wegen eines nicht zu rechtfertigenden Verstoßes gegen die – wegen des Sitzes der Wettvermittlerin in Malta anwendbaren – Dienstleistungsfreiheit unionsrechtswidrig. Nur in den Bundesländern Bayern und Niedersachsen würden – entgegen der auch gesetzgeberisch zur Grundlage gemachten wissenschaftlichen Erkenntnissen zum jeweiligen Suchtpotenzial – strengere Abstandsregelungen für Wettvermittlungsstellen als für Spielhallen gelten. Es bestehe eine fehlende objektive Vorhersehbarkeit mangels Bestimmtheit der abstandsrelevanten Einrichtungen sowie eine Unverhältnismäßigkeit aufgrund der Gleichsetzung der in der Abstandsregel benannten Einrichtungen. Die Untersagung, Zwangsgeldandrohung sowie das zugrundeliegenden Abstandsgebot und Nebenbeschäftigungsverbot seien wegen nicht gerechtfertigter Verstöße gegen die Berufsfreiheit, das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb und den Gleichbehandlungsgrundsatz auch verfassungswidrig. Hilfsweise überwiege bei einer Interessensabwägung das Suspensivinteresse der Antragstellerin: Entgegen des Allgemeinwohls werde durch den Bescheid die Wettvermittlung aus stationärem Betrieb in den suchtgefährdenderen Internetvertrieb verdrängt. Zudem seien das langjähriges Bestehen und die Legalisierungsbemühungen der Antragstellerin für ihr Angebot sowie die bisherige Duldung schon bestehender Wettvermittlungsstellen während Erlaubnisverfahren zu berücksichtigen.
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Der Antragsgegner beantragt
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Zur Begründung wird im Wesentlichen auf das überragende Interesse der Suchtprävention, das die – nicht substantiierten – wirtschaftlichen Belange der Antragstellerin überwiege, sowie die gesetzgeberische Entscheidung eines Sofortvollzugs verwiesen. Die Adressierung des Bescheids sei korrekt. Die Verwaltungsentscheidung über Erlaubnisverweigerung und Untersagung sei an Recht und Gesetz und damit an die Abstandsregelung gebunden. Da der Abstand zur Grund- bzw. Realschule ca. 200m bzw. 210m Luftlinie und damit weniger als 250m betrage, liege ein Verstoß gegen das gesetzlich normierte Abstandsgebot vor. Aufgrund der Platzierung der Wettvermittlungsstelle im unmittelbaren Wahrnehmungsbereich der Kinder und Jugendlichen komme auch eine Ausnahmeerteilung nicht in Betracht. Eine Ungleichbehandlung von nebengeschäftlich vermittelnden Wettannahmestellen und hauptgeschäftlichen Wettvermittlungsstellen liege wegen sachlicher Ungleichheit der Vertriebsformen nicht vor. Die Abstandsregelung verstoße auch nicht gegen Unionsrecht und sei verhältnismäßig. Eine Genehmigungsfähigkeit des Betriebs der Antragstellerin bestehe derzeit mangels Anschluss an das zentrale Sperrsystem OASIS nicht.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Hauptsacheverfahren (M 27 K 23.841) sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Der entsprechend auszulegende, nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 des Staatsvertrags zur Neuregulierung des Glückspielwesens in Deutschland vom 29. Oktober 2020 (Glücksspielstaatsvertrag 2021 – GlüStV 2021, GVBl. 2021. S. 97, 288) bzw. Art. 21a Satz 1 BayVwZVG statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Untersagungsverfügung und Zwangsgeldandrohung ist begründet.
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Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist bei einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Suspensivinteresse vorzunehmen. Dabei nimmt das Gericht eine eigene, originäre Interessensabwägung vor, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich sind. Im Falle einer voraussichtlich aussichtslosen Klage besteht dabei kein überwiegendes Interesse an einer Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wird dagegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Bei offenen Erfolgsaussichten ist eine Interessensabwägung vorzunehmen, etwa nach den durch § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO getroffenen Grundsatzregeln, nach der Gewichtung und Beeinträchtigungsintensität der betroffenen Rechtsgüter sowie der Reversibilität im Falle von Fehlentscheidungen.
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Daran gemessen ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Untersagungsverfügungen (Nrn. 2, 2.1, 2.2 und 2.3 des Bescheides) und die Zwangsgeldandrohungen (Nrn. 3, 3.1, 3.2 und 3.3 des Bescheides) anzuordnen, da die dagegen gerichtete Klage voraussichtlich Aussicht auf Erfolg hat. Denn die Untersagungsverfügungen und die daran anknüpfenden Zwangsgeldandrohungen dürften sich jedenfalls aufgrund einer fehlerhaften Ermessensausübung (vgl. Art. 40 BayVwVfG, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV 2021) voraussichtlich als rechtswidrig und rechtsverletzend erweisen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Ungeachtet eines Vorliegens eines Adressierungsfehlers ist davon auszugehen, dass das Stützen der glückspielrechtlichen Untersagungsverfügung gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV auf einen Verstoß gegen die Abstandsregelung in Art. 7 Abs. 2 Nr. 4 des Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrags zum Glückspielwesen in Deutschland (AGGlüStV) vom 20. Dezember 2007 (GVBl. S. 922), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. April 2022 (GVBl. S. 147), einen Ermessensfehlgebrauch darstellt, da die Abstandsregelung voraussichtlich unionsrechtswidrig ist und damit unangewendet bleiben muss.
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Nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 4 AGGlüStV ist der Betrieb einer Wettvermittlungsstelle im Hauptgeschäft unzulässig und die Erlaubnis hierfür unbeschadet der Vorschriften über das Erlaubnisverfahren auch dann zu versagen, wenn Sportwetten ohne Mindestabstand von 250m Luftlinie gemessen von Eingangstür zu Eingangstür zu bestehenden Schule für Kinde und Jugendliche, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die sich an Kinder im Alter von mindestens sechs Jahren richten, sowie Suchtberatungs- und Suchtbehandlungsstellen vermittelt werden, wobei die zuständige Erlaubnisbehörde unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Umfeld des jeweiligen Standorts und der Lage des Einzelfalls Ausnahmen von dem Mindestabstand zulassen kann.
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Dieses Mindestabstandsgebot verstößt voraussichtlich gegen das europarechtliche Kohärenzgebot für Einschränkungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV. Nach dem Kohärenzgebot dürfen Regelungen, die die Glücksspieltätigkeit einschränken, nicht durch eine gegenläufige Politik in anderen Glücksspielbereichen mit einem gleich hohen oder höheren Suchtpotenzial unterlaufen werden (vgl. EuGH, U.v. 8.9.2010 – Stoß, C-316/07 u.a. – Slg. 2010, I-8069 Rn. 106; U.v. 8.9.2010 – Carmen Media, C-46/08 – Slg. 2010, I-8149 Rn. 68; U.v. 10.3.2009 – Hartlauer, C-169/07 – Slg. 2009, I-1721 Rn. 55 ff.). Das Gefährdung- und Suchtpotenzial von Geldspielgeräten ist nach wissenschaftlichen Untersuchungen als mindestens so hoch anzusehen wie das von Sportwetten. In Bayern besteht jedoch bislang keine mit Art. 7 Abs. 2 Nr. 4 AGGlüStV vergleichbare Abstandsregelung für Spielhallen. Hinreichende Sachgründe für eine Ungleichbehandlung sind trotz vergleichbarer Außenwirkung nicht ersichtlich. Damit trägt das allein für Wettvermittlungsstellen im Hauptgeschäft geltende Abstandsgebot aller Voraussicht nach nicht systematisch und kohärent zur Bekämpfung der Glückspielsucht bei. Im Ergebnis wird deshalb wegen des Vorrangs des Unionsrechts das in Art. 7 Abs. 2 Nr. 4 AGGlüStV normierte Abstandsgebot unangewendet bleiben müssen (vgl. dazu ausführlich BayVGH, B.v. 21.3.2023 – 23 CS 22.2677 – S. 23 ff., abrufbar unter https://www.vgh.bayern.de/internet/media/bayvgh/presse/bayvgh_-_23_cs_22.2677.pdf).
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Das Stützen der Untersagungsverfügung auf die fehlende Erlaubnisfähigkeit aufgrund der Verletzung des Abstandsgebot ist somit voraussichtlich ermessensfehlerhaft. Denn aufgrund der unionsrechtlich gebotenen Unanwendbarkeit hätte der Abstandsverstoß nicht mittelbar als Begründung für die vorausgehende Erlaubnisverweigerung in die Ermessensentscheidung hinsichtlich der Untersagungsverfügung eingestellt werden dürfen. Damit sind die Untersagungsverfügungen in Nrn. 2 bis 2.3 des Bescheides sowie auch die entsprechenden Zwangsgeldandrohungen in Nrn. 3 bis 3.3 des Bescheides voraussichtlich rechtswidrig (vgl. BayVGH, a.a.O., S. 38) und rechtsverletzend, sodass auch bezüglich insoweit die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist.
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Gewichtige Gründe für ein ausnahmsweises Überwiegen des öffentlichen Sofortvollzugsinteresses bestehen nicht. Gravierende Nachteile für den Spieler- und Jugendschutz im konkreten Einzelfall sind nicht ersichtlich, zumal sich nach Aktenlage der Abstand der gegenständlichen Wettvermittlungsstelle zu den Schulen mit einer Entfernung von 200m bzw. 210m am oberen Ende des Abstandsgebots bewegt und damit jedenfalls eine vergleichsweise geringere Wahrnehmbarkeit und jugendschutzgefährdende Wirkung anzunehmen ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Ziffern 54.2.1 und 1.7.2 sowie 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.