Inhalt

VG München, Beschluss v. 30.03.2023 – M 19 S 23.50135
Titel:

Dublin-Verfahren (Litauen)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3, Art. 18 Abs. 1 lit. d
Leitsatz:
Es liegen ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass das litauische Asylsystem seit den Asylrechtsverschärfungen im Sommer 2021 mit systemischen Mängel behaftet ist. (Rn. 24 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Litauen, Systemische Mängel (bejaht), Kammerbeschluss, Abschiebungsanordnung, Litauen, systemische Mängel
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7256

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 9. Februar 2023 gegen die in Nummer 3 des Bescheids vom 31. Januar 2023 verfügte Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 31. Januar 2023 angeordnete Abschiebung nach Litauen.
2
Die am … … 1999 in Kivu geborene Antragstellerin ist ihren Angaben zufolge Staatsangehörige der demokratischen Republik Kongo und reiste am 21. Oktober 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie ein Asylgesuch äußerte, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 29. Oktober 2022 Kenntnis erlangte. Am 2. Dezember 2022 stellte sie einen förmlichen Asylantrag.
3
Die eingeleitete Eurodac-Recherche des Bundesamts vom 29. Oktober 2022 ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Litauen (LT1211060031). Die Antragstellerin hatte bereits am 30. Juli 2021 in Litauen einen Asylantrag gestellt. Daraufhin stellte das Bundesamt am 8. Dezember 2022 ein Wiederaufnahmegesuch an die litauischen Behörden, dem diese mit Schreiben vom 19. Dezember 2022 unter Verweis auf Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin-III-VO zustimmten. Hiernach wurde die Ablehnung ihres Asylantrags vom 10. Januar 2022 am 23. Februar 2022 rechtskräftig.
4
In den persönlichen Gesprächen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und zur Zulässigkeit des gestellten Asylantrags am 2. Dezember 2022 und am 12. Januar 2023 gab die Antragstellerin gegenüber dem Bundesamt an, den Kongo am 12. Januar 2021 verlassen zu haben und nach Aufenthalten in Belarus (6 Monate), Litauen (15 Monate) und Polen am 21. Oktober 2022 nach Deutschland gekommen zu sein. In Belarus habe sie sich legal mit einem Visum aufgehalten und dort studiert. In Litauen sei sie am 3. Juli 2022 eingereist. Sie sei gezwungen worden, Dokumente zu unterschreiben, habe aber nicht gewusst, was das bedeute. Bei der Antragstellung habe sie vor einem Computer gesessen, ein Dolmetscher sei nicht persönlich anwesend gewesen. Sie habe keine Kenntnis über den Ausgang ihres Verfahrens in Litauen. In Litauen habe sie zusammen mit ihrem kongolesischen Ehemann gelebt. Das Aufnahmezentrum, in dem sie in Litauen gelebt habe, sei ein Container gewesen, in dem es im Sommer sehr heiß und im Winter sehr kalt gewesen sei. Es habe sich für sie wie ein Gefängnis angefühlt. Sie habe etwas Essen und Trinken bekommen und sich um alles selber kümmern müssen. Kleidung sei ihr vor die Füße geworfen worden und sie habe sich nicht willkommen gefühlt. Sie habe das Gelände nicht verlassen dürfen und keine Möglichkeit gehabt, die litauische Sprache zu erlernen. Nach 15 Monate hätten sie und ihr Mann eine Ausweiskarte erhalten und damit das Lager verlassen und wieder betreten dürfen. Sie habe sich damit frei in Litauen bewegen dürfen und sei mit ihrem Mann nach Deutschland gekommen. Sie wolle nicht zurück nach Litauen, da dort die Lebensbedingungen, auch die gesundheitlichen Bedingungen, sehr schlecht seien. Sie sei schwanger und wolle die bestmögliche Betreuung für ihr Kind. In Deutschland kümmere man sich um sie und biete ihr viele Möglichkeiten der Integration.
5
Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 31. Januar 2023, der Antragstellerin mittels Postzustellungsurkunde am 4. Februar 2023 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Antragstellerin als unzulässig ab (Nr. 1), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG fest (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Litauen an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf zwölf Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4). In den Bescheidsgründen wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Anordnung der Abschiebung nach Litauen beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, da dieser Staat aufgrund des dort bereits gestellten und abgelehnten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin-III-VO zuständig sei, der Asylantrag bei der Antragsgegnerin daher nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig sei und somit von ihr nicht materiell geprüft werde. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor.
6
Auch der vom Ehemann der Antragstellerin, Herrn … …, geb* … … 1997 (Az. …*), in Deutschland gestellte Asylantrag wurde abgelehnt; hiergegen sind ebenfalls Rechtsmittel vor dem Verwaltungsgericht München (M 19 K 23.50130 und M 19 S 23.50133) erhoben worden, über die noch nicht entschieden ist.
7
Am 9. Februar 2023 erhob die Antragstellerin durch ihre Prozessbevollmächtigten Klage beim Verwaltungsgericht München (M 19 K 23.50134) und beantragte, den streitgegenständlichen Bescheid vom 31. Januar 2023 aufzuheben und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Litauen die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
8
Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 23. Februar 2023 im Wesentlichen vorgetragen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauern systemische Mängel aufwiesen. Verwiesen wird auf dementsprechende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, die in Abdrucken dem Gericht vorgelegt wird (VG Weimar, B.v. 25.1.2023 – 7 E 2546/22; VG Hamburg, B.v. 17.1.2023 – 9 AE 5235/22; VG Hannover, B.v. 1.11.2022 – 3 B 4452/22; VG Göttingen, B.v. 21.10.2022 – 2 B 216/22; VG Berlin, B.v. 7.10.2022 – VG 22 L 258/22 A; VG Magdeburg, B.v. 6.9.2022 – 3 B 233/22 MD; insbes. VG München, B.v. 17.6.2022 – M 10 S 22.50244 – juris; Anschluss an VG Hannover, B.v. 23.2.2022 – 12 B 6475.21 – juris). Das litauische Asylsystem sei seit 2021 erheblich verschärft worden, was im gegenständlichen Bescheid in keiner Weise berücksichtigt worden sei. Dieser beziehe sich allein auf Berichte sowie Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 2015 bis 2017 und gebe damit nicht die aktuelle Situation in Litauen wieder. Jedenfalls sei nicht auszuschließen, dass die schwangere Antragstellerin im konkreten Einzelfall einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung ausgesetzt sei. Neben der von ihr berichteten minderwertigen Versorgung mit Essen und Wasser, einer unzureichenden Heizung im Winter und Hitze im Sommer und unhygienischen Bedingungen bei den sanitären Einrichtungen sei nicht auszuschließen, dass sie während ihres Asylverfahrens sexuellen Übergriffen ausgesetzt gewesen sei. Beigelegt werden Screenshots einer Videoaufnahme, die die Antragstellerin ihren Prozessbevollmächtigten übergeben habe, die sie zusammen mit anderen Frauen eingesperrt in einem vergitterten Zimmer zeigten. Die Frauen seien hinter dem Rücken mit Bändern gefesselt, einige von ihnen mit entblößtem Oberkörper.
9
Der vorgelegten Schwangerschaftsbescheinigung des Frauenarztzentrums Penzberg vom 8. Februar 2023 zufolge befindet sich die Antragstellerin in der 19. Schwangerschaftswoche; mutmaßlicher Entbindungstermin sei der 5. Juli 2023.
10
Das Bundesamt legte die Behördenakten am 16. Februar 2023 in elektronischer Form vor und beantragte mit Schriftsatz vom 17. Februar 2023, den Antrag abzulehnen.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
12
Der Beschluss ergeht gemäß § 76 Abs. 4 Satz 2 Alt. 1 AsylG durch die Kammer, nachdem der Einzelrichter die Sache wegen grundsätzlicher Bedeutung auf diese übertragen hat.
13
Der Antrag ist erfolgreich. Er ist zulässig, insbesondere wurde er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt. Er ist auch begründet.
14
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage im Fall des hier aufgrund des § 75 Abs. 1 AsylG einschlägigen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfes. Ein gewichtiges Indiz ist dabei die Erfolgsaussicht des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, hat das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurückzutreten. Erweist sich dagegen der Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens als offen zu beurteilen, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung, bei der jedoch die gesetzgeberische Entscheidung, die aufschiebende Wirkung einer Klage auszuschließen, zu berücksichtigen ist.
15
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht die Interessenabwägung hier im Ergebnis zu Lasten der Antragsgegnerin aus. Die Klage der Antragstellerin gegen die Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts wird aller Voraussicht nach Erfolg haben.
16
An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung Zweifel. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
17
Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt u.a. dann, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind nach summarischer Überprüfung nicht gegeben. Danach ist Litauern zwar originär der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Staat (nachfolgend unter 1.); allerdings bestehen hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Litauen systemische Schwachstellen aufweisen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO (nachfolgend unter 2.).
18
1. Ausgehend von den Eurodac-Daten, dem Vortrag der Antragstellerin und der Zustimmungserklärung Litauens ist vorliegend grundsätzlich Litauen für die Prüfung des Asylantrags i.S.v. § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG zuständig. Dem Eurodac-Treffer mit der Kennzeichnung „LT1“ zufolge hatte die Antragstellerin in Litauen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, sodass es sich um ein Wiederaufnahmeverfahren handelt.
19
Das Wiederaufnahmeersuchen wurde entsprechend der Vorschriften des Kapitels VI Abschnitt III der Dublin-III-VO richtig durchgeführt. Es wurde fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Antragstellung und Eurodac-Treffermeldung (29.10.2022) am 8. Dezember 2022 an Litauen gestellt, sodass kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin-III-VO eintrat. Die litauischen Behörden haben überdies der Wiederaufnahme zugestimmt, sodass diese gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. d Dublin-III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO verpflichtet waren, die Antragstellerin wiederaufzunehmen.
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2. Die Abschiebung nach Litauen kann gemäß § 34a Abs. 1 AsylG jedoch nicht durchgeführt werden. Die Zuständigkeit für die Prüfung ist aller Voraussicht nach gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin-III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen.
21
Hiernach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung „gemäß diesem Absatz“ an einen anderen Mitgliedstaat vorgenommen werden kann. Eine Überstellung darf dann gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin-III-VO nicht vorgenommen werden, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen. Dies ist der Fall, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zu überstellenden Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) mit sich bringen. Hier liegen hinreichende Anhaltspunkte für eine solche Annahme vor.
22
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Grundrechtecharta i.S.v. Art. 6 Abs. 1 EUV entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRC ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris). Der bloße Umstand, dass der Antragsteller in dem zu überstellenden Mitgliedstaat keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten würde, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nicht die Schlussfolgerung stützen, dass die tatsächliche Gefahr einer grundrechtsverletzenden Behandlung besteht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, solange sich der jeweilige Antragsteller nicht aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 93).
23
Jedenfalls bei ernsthaften Zweifeln, ob Aufnahmebedingungen im Mitgliedstaat nach diesen Maßstäben gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßen, muss die Beurteilung auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach ausreichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. So kann es sowohl verfassungs- als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein, dass Informationen über die Verhältnisse in einem anderen Staat und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden eingeholt werden (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 – juris Rn. 15 f.).
24
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Vermutung einer gesetzeskonformen Behandlung von Asylbewerbern im konkreten Fall nach summarischer Prüfung aller Voraussicht nach erschüttert, da ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das litauische Asylsystem seit den Asylrechtsverschärfungen im Sommer 2021 mit systemischen Mängel behaftet ist.
25
Diesbezüglich wird auf die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung verwiesen, die aufgrund der derzeitigen Situation in Bezug auf Litauen davon ausgeht, dass eine Rücküberstellung aktuell nicht in Betracht kommt und der sich das entscheidende Gericht anschließt (VG Weimar, B.v. 25.1.2023 – 7 E 2546/22 – n.v.; VG Berlin, B.v. 25.1.2023 – 31 L 297/22 – juris S. 4 ff.; VG Minden, B.v. 17.1.2023 – 12 L 956/22.A – juris Rn. 36 m.w.N.; VG Hamburg, B.v. 17.1.2023 – 9 AE 5235/22 – n.v.; VG Hannover, B.v. 25.8.2022 – 12 B 6475/21 – juris Rn. 11; VG Chemnitz, B.v. 24.10.2022 – 1 L 352/22.A – juris Rn. 11; VG Göttingen, B.v. 21.10.2022 – 2 B 216/22 – n.v. S. 4 ff.; VG Magdeburg, B.v. 5.9.2022 – 3 B 262/22 MD – juris Rn. 11, 15 f.; VG München, B.v. 17.6.2022 – M 10 S 22.50244 – juris Rn. 22; Anschluss an VG Hannover, B.v. 23.2.2022 – 12 B 6475.21 – juris Rn. 9 ff.; a.A. VG Freiburg, U.v. 17.1.2023 – A 13 K 1760/22 – juris Rn. 29 ff.; VG Greifswald, B.v. 27.10.2022 – 6 B 1625/22 HGW – juris Rn. 8; Anschluss an VG Regensburg, B.v. 27.6.2022 – RN 14 S 22.50203 – juris OS).
26
Der UN-Ausschuss gegen Folter hat am 21. Dezember 2021 in seinem vierten Staatenbericht zu Litauen die aktuellen Entwicklungen seit dem Sommer 2021 kritisiert und Litauen in vielfältiger Weise zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen aufgefordert (Committee against Torture, Concluding observations on the fourth periodic report of Lithuania, UN Doc. CAT/C/LTU/CO/4, Rn. 11 f.). Gerügt werden Inhaftnahmen – auch vulnerabler Personen – ohne Rechtsschutzmöglichkeiten, unzureichende Unterbringungsbedingungen in überfüllten Aufnahmeeinrichtungen mit mangelhafter Heizung, mangelnden warmem Wasser und Trinkwasser, minderwertiger Nahrung, eingeschränktem Zugang zu medizinischem Service sowie Mängel bei der Hygiene und den sanitären Einrichtungen, Vorwürfe unverhältnismäßiger Gewalt und Folter seitens litauischer Beamten in Aufnahmeeinrichtungen sowie Kollektivausweisungen ohne Prüfung der individuellen Situation.
27
Des Weiteren hat der Europäische Gerichtshof im Juni 2022 in einem (Eil-) Vorabentscheidungsverfahren die Unvereinbarkeit der Notstandsregelungen des litauischen Ausländergesetzes mit europäischem Recht festgestellt. Hintergrund der Notstandsregelungen waren die seit Juli/August 2021 anhaltenden Massenzuströme von Flüchtlingen über die belarussisch-litauische Grenze. Sie ermöglichten, das Asylbewerbern automatisch das Recht auf internationalen Schutz verweigert und sie in Haft genommen werden konnten. Der Europäische Gerichtshof stellte klar, dass die Unterbringung eines Drittstaatsangehörigen in einer Hafteinrichtung, sei es während seines Antrags auf internationalen Schutz oder im Hinblick auf seine Abschiebung, eine freiheitsentziehende Maßnahme darstellt (EuGH, U.v. 30.6.2022 – M.A gegen Valstybės Sienos apsaugos tarnyba (litauischer Grenzschutz) C-72/22 – juris Rn. 38).
28
Der Vortrag der Antragstellerin hinsichtlich der unzureichenden Versorgung und ihrer Freiheitsentziehung – sie habe über einen Zeitraum von 15 Monaten das Unterbringungsgelände nicht verlassen dürfen – entspricht den von UN und Europäische Gerichtshof geäußerten Bedenken. Auch ohne Würdigung der darüber hinaus von der Antragstellerseite vorgelegten Fotos, die eine Vielzahl von gefesselten, teils unbekleideten Frauen in einem Raum zeigen, drängen sich an den im Staatenbericht kritisierten Missstände keine Zweifel auf.
29
Es gibt keine aktuellen Erkenntnisse dazu, dass Litauen mittlerweile nachhaltig auf die Kritik reagiert und Gegenmaßnahmen ergriffen hat. Vielmehr wurde der in Folge der Migrationskrise ausgerufene Ausnahmezustand zuletzt bis zum 2. Mai 2023 verlängert (vgl. ORF v. 14.3.2023, Litauen verlängert Ausnahmezustand an Außengrenzen; NTV v. 8.3.2023, Litauens Regierung will Ausnahmezustand entlang der Grenze zu Russland und Belarus verlängern). Selbst wenn Litauen manche der Asylrechtsänderungen vom Sommer 2021 mittlerweile wieder entschärft haben sollte und den Ausnahmezustand auf die Grenzregionen und auf andere Kontrollpunkte wie etwa Flughäfen und Bahnhöfe beschränkt hat, bleibt unklar, ob die Aufnahmebedingungen in der Praxis den Mindeststandards aus Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK genügen (vgl. VG Berlin, B.v. 7.10.2022 – VG 22 L 258/22 A – n.v. S. 7; VG Magdeburg, B.v. 6.9.2022 – 3 B 233/22 MD – juris Rn. 20 ff.; VG München, B.v. 17.6.2022 – M 10 S 22.50244 – juris Rn. 32). Eine aktuelle parlamentarische Anfrage vom Februar 2023 geht vielmehr davon aus, dass die litauische Regierung die Überführung der bislang als Notstandsdekrete ausgeführten Praxis in ein formales Gesetz, das im Juni 2023 in Kraft treten soll, billigte (vgl. Anfrage zur schriftlichen Beantwortung E-000557/2023 an die Kommission v. 22.2.2023, https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/E-9-2023-000557_DE.html, zuletzt abgerufen am 29.3.2023).
30
Auch wenn Staatenberichte, wie der oben zitierte, für das Gericht als solche nicht rechtsverbindlich sind, kommt ihnen als Erkenntnismittel erhebliches Gewicht zu (IGH, Case of Ahmadou Sadio Diallo, I.C.J. Reports 2010, S. 639 Rn. 66; BVerfG, B.v. 26.7.2016 – 1 BvL 8/15 – juris Rn. 90). Das Gericht sieht daher keinen Anlass, die an Litauen gerichtete Kritik und Aufforderungen grundsätzlich zu hinterfragen. Die Bescheidsbegründung geht auf die von der UN, dem Europäischen Gerichtshof und weiteren internationalen Gremien (vgl. dazu VG Magdeburg, B.v. 6.9.2022 – 3 B 233/22 MD – juris Rn. 17) geäußerte Kritik nicht ein; eine Darstellung, inwiefern die Missstände behoben worden seien, fehlt. Ebenso wird auf die seit Mitte 2022 von der vorherrschenden Verwaltungsrechtsprechung angenommenen systemischen Mängel nicht eingegangen. Der Bescheid verweist bezüglich der Anhaltspunkte der Nichtbeachtung des Non-Refoulement-Gebots auf eine Entscheidung des VG Hannover aus dem Jahr 2017 (VG Hannover, B.v. 6.7.2017 – 1 B 5549/17), während dieses als eines der ersten Verwaltungsgerichte im Februar 2022 die seit dem Sommer 2021 bestehenden ernstzunehmenden Anhaltspunkte für systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Litauen darstellte (VG Hannover, B.v. 23.2.2022 – 12 B 6475.21 – juris – Rn.9).
31
Auch wenn eine aktuelle obergerichtliche Entscheidung (OVG NRW, B.v. 14.3.2023 – 11 A 298/23.A – juris Rn. 3) die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache bezüglich der Frage nach systemischen Mängeln im Rahmen der Dublin-Überstellung nach Litauen nicht dargelegt sah, kann allein dessen Einschätzung die dargestellten Bedenken nicht entkräften. Im Übrigen wird in der Entscheidung in erster Linie auf die Problematik illegaler Push-Backs eingegangen und dargestellt, dass sich die Verlängerung der vom Europäischen Gerichtshof gerügten europarechtswidrigen Notstandsregelungen (EuGH, U.v. 30.6.2022 a.a.O.) allein auf das Grenzgebiet zu Belarus bezögen. Inwieweit Litauern auf all die übrigen von der UN dargestellten Missstände reagiert hat, ergibt sich auch aus dieser Entscheidung nicht.
32
Das Gericht geht somit mangels anderweitiger Erkenntnisse davon aus, dass Litauen auf die seit Sommer 2021 begonnene problematische Entwicklung seines Asylsystems nicht hinreichend reagiert hat und somit die genannten Mindeststandards, insbesondere im Unterbringungsbereich, gerade nicht gesichert erscheinen. Nach alledem kommt eine Rücküberstellung der Antragstellerin nach Litauen, die als Schwangere noch dazu besonders schutzbedürftig ist, voraussichtlich nicht in Betracht, sodass die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen war.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
34
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).