Inhalt

VG München, Urteil v. 21.03.2023 – M 1 K 22.3129
Titel:

Berücksichtigung des Rücksichtnahmegebots bei Nachbarklage

Normenketten:
BauNVO § 15 Abs. 1
BayBauO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Abs. 4, Abs. 5 S. 1, Art. 63
Leitsätze:
1. Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung hat ein Nachbar nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt ein Anspruch auf Aufhebung weiter voraus, dass der Nachbar durch die Baugenehmigung zugleich in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt wird. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Mischgebiet dient gem. § 6 Abs. 1 BauNVO dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Diese allgemeine Zweckbestimmung verlangt, dass die beiden in dem Gebiet zulässigen Hauptnutzungsarten im Sinne einer etwa gleichgewichtigen und gleichwertigen Durchmischung vorhanden sind, wobei Maßstab für die Frage einer gleichgewichtigen Durchmischung dabei naturgemäß das gesamte Mischgebiet, nicht das jeweilige Vorhaben bildet. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden, wobei die Frage, welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles abhängt. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben; vielmehr ist eine Rechtsverletzung erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Begründung eines Baugenehmigungsbescheids, Durchmischung im Mischgebiet, Gebot der Rücksichtnahme, Heranrückende Bebauung (verneint), Baugenehmigung, Nachbarklage, Einfügen, nähere Umgebung, Mischgebiet, gleichwertige Durchmischung, Rücksichtnahmegebot, unzumutbare Beeinträchtigung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 07.10.2024 – 1 ZB 23.865
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7243

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen gesamtschuldnerisch zu tragen.
III.    Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung für ein Wohn- und Geschäftshaus, welche die Beklagte der Beigeladenen erteilt hat.
2
Die Kläger sind Miteigentümer in Erbengemeinschaft des Grundstücks FlNr. 255/4 Gem. … (alle im Folgenden genannten Grundstücke/FlNrn. befinden sich in der Gemarkung …). Nördlich grenzen die Vorhabengrundstücke FlNrn. 260/24 und 260/12 an. Alle genannten Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans „Altstadtkern – Vergnügungsstätten“ der Beklagten, der für diesen Bereich ein Mischgebiet festsetzt.
3
Die Beklagte erteilte den Klägern unter dem 26. November 2018, unter dem 24. November 2022 verlängert bis zum 27. November 2024, eine Baugenehmigung für die Nutzungsänderung des bisherigen Ladens in eine Gaststätte im Rückgebäude des Anwesens auf FlNr. 255/4, für die bislang noch keine Baubeginnsanzeige vorliegt. Gemäß Ziffer 2.1 der Baugenehmigung sind die Bestimmungen der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) einzuhalten, gemäß Ziffer 2.2 darf der Beurteilungspegel der vom Betrieb des Tagescafes mit Gastgarten ausgehenden Geräusche an den maßgeblichen Immissionsorten der Wohnnutzungen auf den Nachbargrundstücken den zur Vermeidung einer Lärmaufsummierung um 3 db(A) reduzierten Immissionsrichtwert zur Tageszeit (6:00 Uhr bis 22:00 Uhr) von 57 dB(A) nicht überschreiten. Gemäß Ziffer 2.4 ist eine Beschallung des Gastgartens nicht zulässig. Gemäß Ziffer 2.5 hat der Betreiber bei berechtigten Nachbarbeschwerden über Lärmbelästigungen auf eigene Kosten Schallmessungen durchführen zu lassen, um die Einhaltung der maßgebenden Immissionsrichtwerte nachzuweisen. Weitere Immissionsschutzauflagen wurden vorbehalten (Ziffer 2.6). Die am 9. Februar 2018 bei der Beklagten eingegangene Betriebsbeschreibung ist Bestandteil der Baugenehmigung (Ziffer 1.1). In dieser haben die Kläger angegeben, eine Schank- und Speisewirtschaft mit 24 qm Gastraumfläche und 20 Gastplätzen sowie einen Gastgarten mit 30 qm und 20 Gastplätzen zu errichten, die jeweils am Werktagen von 7:00 Uhr bis 22:00 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen von 7:00 Uhr bis 22:00 Uhr geöffnet sein soll. Hinsichtlich der Lüftung eines Küchenbereichs ist weder die Lüftungsoption „Fenster“ noch die Lüftungsoption „Lüftung durch Lüftungsanlage im Sinne der VDI-Richtline 2052“ angekreuzt. Zur Anzahl der Fahrtbewegungen werktags ist angegeben: „zur Tagzeit“, „Transporter, voraussichtlich 2x.“
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Unter dem 10. Dezember 2021 erteilte die Beklagte der E.GbR, deren Gesellschafter die Kläger sind, eine Baugenehmigung zum Abbruch und Wiedererrichtung eines Kamins auf dem Rückgebäude auf FlNr. 255/4. Ausweislich des Eingabeplans handelt es sich um einen einzügigen Kamin, der direkt an der Grenze zum Vorhabengrundstück errichtet werden soll.
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Die Kläger sind außerdem Miteigentümer folgender Grundstücke, hinsichtlich derer sie ebenso Rechtsschutz im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung gesucht haben: FlNr. 255/2 (M 1 K 22.3127, M 1 SN 22.3132), FlNr. 262/2 (M 1 K 21.235, M 1 SN 21.242), FlNr. 262/2 (M 1 K 22.3125, M 1 SN 22.3130), zudem sind sie Gesellschafter der E.-GbR, die Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 262/2 ist (M 1 K 22.3126, M 1 SN 22.3131).
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Mit am 8. November 2019 eingegangenem Antrag begehrte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Abbruch der Bestandsgebäude und den Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses mit Tiefgarage auf FlNr. 260/12 und die Erweiterung des Bestandsgebäudes auf FlNr. 260/24 sowie Abweichungen, unter anderem von den Abstandsflächenvorschriften. Eine Beteiligung der Kläger im Genehmigungsverfahren erfolgte nicht. Mit Bescheid vom 15. Dezember 2020 erteilte die Beklagte die streitgegenständliche Baugenehmigung sowie die beantragten Abweichungen, insbesondere die Abweichungen hinsichtlich der Überschreitung der Abstandsflächen aufgrund der geplanten Staffelgeschosse/ Dachterrassen nach Osten, Süden und Westen. Mit Bescheid vom 23. Juni 2021, den Klägern mittels Postzustellungsurkunde zugestellt am 26. Juni 2021, erteilte die Beklagte der Beigeladenen zudem einen Tekturbescheid bezüglich der Änderung der Zufahrt und der Raumaufteilung der Ladenflächen im Erdgeschoss, statischen Änderungen im Erd- und Untergeschoss sowie neuer Anordnung der Stellplätze im Erd- und Untergeschoss.
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Hiergegen ließen die Kläger am … Januar 2021 Klage erheben. Mit am 26. Juli 2021 eingegangenem Schriftsatz wenden sie sich zudem gegen den Tekturbescheid und beantragen zuletzt,
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Die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2020 in Gestalt des Ergänzungsbescheides vom 23. Juni 2021 wird aufgehoben.
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Das Bauvorhaben füge sich weder nach Art noch nach Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Bis auf einige wenige Wohnungen, die zudem überwiegend von Betriebsinhabern bewohnt seien bzw. bewohnt gewesen seien fänden sich in der Umgebung nur Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäude, Einzelhandelsbetriebe und Anlagen für kirchliche Zwecke. Diese prägten die Umgebung. Mit dem Vorhaben werde das mischgebietstypische Verhältnis Wohnbebauung und Gewerbebetrieb nicht eingehalten, respektive sei dieses dem Mischgebiet unüblich, da es 19 Wohneinheiten und nur zwei Gewerbeeinheiten beinhalte. Dies verletzte den Gebietserhaltungsanspruch der Kläger. Ziel des Bebauungsplans sei gewesen, die Funktionalität und Attraktivität des Stadtzentrums weiter zu steigern und durch die Regelung der Art der baulichen Nutzung eine weitere Verbesserung des Stadtbildes und eine Sicherung der vorhandenen Nutzungsstrukturen zu erreichen. Funktionales Ziel sei, einen attraktiven und belebten Innenstadtbereich zu sichern, wobei auch die Wohnfunktion zu sichern sei, aber dieser käme keine höhere Bedeutung zu. Hierzu seien Flächen nutzbar gemacht worden, um insbesondere den Aufenthalt, die Gastronomie, verschiedenste Veranstaltungen und umfangreiche Marktnutzung zu optimieren. Zudem schmücke sich die Beklagte mit der Bezeichnung „Einkaufsstadt …“. Das Gebiet der Beklagten sei im Zentrum sehr kleinteilig parzelliert, ausschließlich in der M* …straße gebe es Raum für größere Verkaufsflächen, die für die notwendige Attraktivität und Funktionalität der Stadt, entsprechend den Zielen des Bebauungsplans, zwingend notwendig seien. Dieses Ziel werde mit dem streitgegenständlichen Vorhaben mit den Parkplätzen im Erdgeschoss und den zusätzlichen 19 Wohneinheiten in den weiteren Geschossen unterlaufen. Es dürfe auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass durch die Tektur anstelle einer Gewerbeeinheit drei weitere Parkplätze entstünden und in der Folge anstelle der Gewerbeeinheit die Einfahrt zu den Parkflächen errichtet werde, sodass das Vorhaben vom äußeren Erscheinungsbild, vor allem für Passanten, einen reinen Park- und Wohnhauscharakter und jedenfalls keinen Einkaufscharakter aufweise. Auch die Höhe des Vorhabens füge sich nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein, der Baukörper wirke erdrückend. Die Baugenehmigung sei auch deshalb rechtswidrig, weil es ihr als Verwaltungsakt mit Drittwirkung an einer ausreichenden Begründung fehle. Bauplanungswie bauordnungsrechtlich geschützte nachbarliche Belange seien bei der Begründung des Verwaltungsaktes weder (hinreichend) berücksichtigt noch abgewogen worden. Die insoweit einzig angestellte Erwägung, das Staffelgeschoss führe für die Nachbarn zur Verbesserung von Belichtung und Besonnung, verstoße gegen Denkgesetze, denn bisher habe es keinen Baukörper mit dieser Höhe und dieser Anzahl von Geschossen gegeben. Der Gastronomiebetrieb auf dem klägerischen Grundstück habe noch nicht aufgenommen werden können, weil die Beigeladene die Kommunwand illegal entfernt und dadurch das Gebäude der Kläger derart beschädigt habe, dass es über keine Außenwand mehr verfüge und es außerdem aufgrund von Schäden, die im Zusammenhang mit den Abbruch- und Bauarbeiten der Beigeladenen entstanden seien, nicht mehr gefahrlos betreten werden könne. Dabei stoße die streitgegenständliche Baugenehmigung im Hinblick auf den Gastronomiebetrieb auf immissionsschutzrechtliche Bedenken, weil der bisherige Abluftschornstein der Kläger künftig nicht mehr ausreichen werde. Mit Auflagen diesbezüglich sei zu rechnen. Eine Auflage, wonach die Beigeladene den Abluftschornstein der Kläger erweitern muss, fehle. Zudem sei mit Auflagen hinsichtlich der Nutzung von Lüftungsanlagen zu rechnen. Auch starke Einschränkungen der Gastronomie seien zu befürchten. Betriebseinschränkungen bestünden nicht, es sei insbesondere nicht untersagt zu kochen. Hierfür seien die Theke und der Vorbereitungsraum ausreichend.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Das Bauvorhaben füge sich nach Art der Nutzung in die Eigenart der Umgebung ein. Damit gelten auch weiterhin die für Mischgebiete maßgeblichen immissionsschutzrechtlichen Vorschriften, bereits jetzt müsse auf die bestehende Wohnnutzung Rücksicht genommen werden. Das Vorhaben füge sich auch nach dem Maß der baulichen Nutzung ein. Es sei straßenseitig eine maximale Höhe von 16,10 m, auf der Innenhofseite eine maximale Höhe von 17,09 m genehmigt. Demgegenüber weise das Gebäude auf FlNr. 262/3 eine Firsthöhe von 20,80 m auf und überrage das streitgegenständliche Vorhaben damit um 3,70 m. Eine erdrückende Wirkung und fehlende Belichtung bei geschlossener innerstädtischer Bauweise sei nicht erkennbar. Im Übrigen seien sie als Nachbarn hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung auf die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot beschränkt. Ein solcher liege nicht vor. Schon bisher müsse der geplante Gastronomiebetrieb auf Wohnnutzung in der unmittelbaren Umgebung Rücksicht nehmen, wie sie auf FlNr. 255/4 selbst, sowie auf FlNr. 255, vor allem aber auf dem nordöstlich angrenzenden Grundstück FlNr. 255/3 im Vorder- und Rückgebäude bereits vorhanden sei. Entsprechende Lärmschutzauflagen zulasten des klägerischen Gastronomiebetriebs seien im Bescheid vom 26. November 2018 getroffen worden. Gemäß Eingabeplanung sei eine Küche nicht vorgesehen. Deshalb ergebe sich durch die streitgegenständliche Baugenehmigung keine Verschlechterung der Situation.
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Die Beigeladene äußerte sich in der Sache nicht und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Den Antrag der Kläger auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (M 1 SN 22.3133) hat das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 29. Juli 2022 abgelehnt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Beschwerden gegen die Entscheidungen mit Beschluss vom 21. Oktober 2022 zurückgewiesen (1 CS 22.1921).
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Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Anfechtungsklage hat in der Sache keinen Erfolg. Die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung der Tekturgenehmigung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
18
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung hat ein Nachbar nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt ein Anspruch auf Aufhebung weiter voraus, dass der Nachbar durch die Baugenehmigung zugleich in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das ist dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutze der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – juris Rn.9). Weiterhin ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung nur dann erfolgreich angreifen kann, wenn die Rechtswidrigkeit der Genehmigung sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die gemäß Art. 59 oder Art. 60 BayBO Gegenstand der Prüfung im Baugenehmigungsverfahren waren.
19
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit vorliegender Nachbarklage gegen die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 23. Juni 2021 ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich, mithin die Bayerische Bauordnung in der Fassung vom 10. Juli 2018 (BayBO 2018). Hinsichtlich späterer Änderungen ist zu differenzieren: solche zu Lasten des Bauherrn haben außer Betracht zu bleiben. Insofern vermittelt die erteilte Baugenehmigung dem Bauherrn nämlich eine Rechtsposition, die sich gegenüber im Rechtsmittelverfahren eines Dritten eintretenden Änderungen der Sach- und Rechtslage durchsetzen kann (BVerwG, U.v. 13.12.2007 – 4 C 9.07 – juris Rn. 13). Nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten sind dagegen zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts vermittelten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40/98 – juris Rn. 3).
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1. Die Kläger sind nicht aufgrund formeller Rechtsfehler in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt. Es liegt kein Begründungsmangel vor. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 2 BayBO 2018 ist die Baugenehmigung nur insoweit zu begründen, als ohne Zustimmung des Nachbarn von nachbarschützenden Vorschriften abgewichen wird oder der Nachbar gegen das Vorhaben in Textform Einwendungen erhoben hat. Gemessen daran ist die Bescheidsbegründung nicht zu beanstanden. Der insofern vorgebrachte Einwand, die Begründung, das Staffelgeschoss führe zu einer Verbesserung von Belichtung und Besonnung, verstoße gegen Denkgesetze, betrifft vielmehr die materielle Rechtmäßigkeit der Abweichungen bzgl. der Einhaltung der Abstandsflächen hinsichtlich des Staffelgeschosses nach Süden, Osten und Westen. Im Übrigen betreffen diese Abweichungen die Grundstücke der Kläger nicht.
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2. Es liegen auch keine materiellen Rechtsfehler vor, durch die die Kläger in ihren Rechten verletzt sind.
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2.1 Die Baugenehmigung verletzt die Kläger nicht in ihren bauplanungsrechtlichen Nachbarrechten.
23
2.1.2 Das Bauvorhaben verstößt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht gegen den sogenannten, nach ständiger Rechtsprechung drittschützenden, Gebietserhaltungsanspruch der Kläger. Gemäß § 30 Abs. 1 BauGB ist im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemeinsam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält, ein Vorhaben zulässig, wenn es diesen Festsetzungen entspricht und die Erschließung gesichert ist. Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der die Voraussetzungen nicht erfüllt (einfacher Bebauungsplan) richtet sich die Zulässigkeit im Übrigen nach § 34 BauGB oder § 35 BauGB. Maßgeblich für die Frage, ob das Bauvorhaben nach der Art der Nutzung zulässig ist, ist daher vorliegend die einschlägige Festsetzung des Bebauungsplans „Altstadtkern – Vergnügungsstätten“, in dem sich der planerische Wille der Beklagten mittels einer Festsetzung u.a. dieses Abschnitts der M* …straße als Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO in rechtlich relevanter Weise manifestiert hat. Nicht maßgeblich ist, dass die Beklagte sich nach dem Vortrag der Kläger mit der Bezeichnung „Einkaufsstadt“ schmücke. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Maßnahme der Wirtschaftsförderung oder Werbung, der bauplanungsrechtlich offensichtlich keine Relevanz zuzusprechen ist. Als Wohn- und Geschäftshaus mit Läden, Büros und Praxen fügt sich das Vorhaben gemäß § 6 BauNVO in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die Kläger haben hierzu vorgetragen, dass das Vorhaben mit seinen 19 Wohneinheiten und lediglich zweier Gewerbeeinheiten ein gleichwertiges und gleichgewichtiges Verhältnis von Wohnen und Gewerbe nicht einhalte bzw. nicht mischgebietstypisch sei. Dem ist zu widersprechen. Ein Mischgebiet dient gemäß § 6 Abs. 1 BauNVO dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Diese allgemeine Zweckbestimmung verlangt, dass die beiden in dem Gebiet zulässigen Hauptnutzungsarten im Sinne einer etwa gleichgewichtigen und gleichwertigen Durchmischung vorhanden sind. Maßstab für die Frage einer gleichgewichtigen Durchmischung bildet dabei naturgemäß das gesamte Mischgebiet, nicht das jeweilige Vorhaben (so bereits BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 1 BV 05.613 – NJW 1988, 3168). Wäre dies der Fall, wäre im Übrigen auch das Vorhaben der Kläger zur Errichtung eines Geschäftshauses auf FlNrn. 262/2 und 262/4 gleichermaßen unzulässig, weil hier eine rein gewerbliche Nutzung mit Verkaufsflächen, Cafe, Büros und Praxen vorgesehen ist. Nach diesen Maßstäben ist das Vorhaben zulässig, denn es ist nicht erkennbar, dass durch das Hinzukommen der 19 Wohneinheiten der Gebietscharakter in ein allgemeines Wohngebiet kippen könnte, wie bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 21. Oktober 2021 ausgeführt hat (BayVGH, B.v. 21.10.2022 – 1 CS 22.1917, 1 CS 22.1918, 1 CS 22.1919 – Rn. 12). Die Kläger haben selbst mitgeteilt, dass in der Umgebung bislang nur vereinzelt Wohnnutzung vorhanden ist.
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2.1.2 Die Baugenehmigung verstößt schließlich nicht gegen sonstige drittschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts.
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Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) sind nicht drittschützend (BayVGH, B.v.12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – BeckRS 2013, 56189 Rn. 3; BayVGH, B.v. 20.5.2020 – 9 ZB 18.2585 – BeckRS 2020, 14735 Rn. 5), weshalb sich die Kläger auf eine subjektive Rechtsverletzung diesbezüglich nicht berufen können. Es kann daher dahinstehen, ob sich das Bauvorhaben im Hinblick auf die Zahl der Vollgeschosse, die Grundflächen und die Höhenentwicklung in die Eigenart der Umgebung einfügt.
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Die Kläger sind hinsichtlich dieser Aspekte auf das drittschützende, bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO, verwiesen. Dieses ist nicht verletzt.
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215.96 – juris Rn. 9). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 6).
28
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 31; B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12 m.w.N.). Für die Annahme der „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes, was insbesondere gilt, wenn die Gebäude im dicht bebauten innerstädtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5).
29
Unter Anwendung dieser Grundsätze geht vom streitgegenständlichen Vorhaben zulasten der Kläger weder eine rücksichtslose erdrückende Wirkung aus, noch stellt es sich als rücksichtslos dar, weil es eine abriegelnde Wirkung erzeugt. Es nimmt mit seiner rückwärtigen Bebauung die auf den Nachbargrundstücken vorhandene Hinterhofbebauung in der Höhe auf (s. Planunterlage „Lageplan, Übersicht Höhen Nachbargebäude“ vom 10. Februar 2020) und ist hinsichtlich seiner Ausführung (Erdgeschoss plus ein Obergeschoss) für sich von angemessener, nicht übergrößer Höhe.
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Auch liegt hinsichtlich des geplanten und genehmigten Gastronomiebetriebs im Rückgebäude des klägerischen Grundstücks eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots unter dem Aspekt der sog. heranrückenden Bebauung mit Aufenthaltsräumen (s. Nr. 2.3 der TA Lärm i.V.m. dem Anhang zur TA Lärm Nummer A.1.3 Buchst. a) und DIN 4109, wonach auch Büroräume zu schutzbedürftigen Räumen zu zählen sind), nicht vor. Eine heranrückende (Wohn-)Bebauung kann gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme verletzen, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb durch die hinzutretende Bebauung mit nachträglichen Auflagen rechnen muss (vgl. BayVGH, B.v. 21.1.2022 – 1 CS 21.2866 – juris Rn. 14; B.v. 9.6.2020 – 15 CS 20.901 – juris Rn. 27).
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Dies ist bezüglich etwaiger Lärmimmissionen durch den geplanten Gastronomiebetrieb bereits deshalb nicht der Fall, weil nach dem von den Klägern unbestrittenen Vortrag der Beklagten bereits bislang in unmittelbarer Umgebung, nämlich im Rückgebäude des Nachbargrundstücks FlNr. 255/3, Wohnbebauung vorhanden war, auf die die Kläger Rücksicht zu nehmen haben. Demgegenüber liegen die nächsten Fenster des streitgegenständlichen Vorhabens ca. 8 m nördlich und sind, von den Baukörpern abgeschirmt, nach Norden ausgerichtet. Zudem sind in der Baugenehmigung betreffend die Umnutzung des Rückgebäudes in einen Gastronomiebetrieb bereits umfangreiche Auflagen enthalten und die Betriebszeiten ergeben sich aus der Betriebsbeschreibung, welche Gegenstand der Baugenehmigung sind.
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Soweit die Kläger vorgetragen haben, sie fürchteten aufgrund des streitgegenständlichen Vorhabens mit Auflagen hinsichtlich Nutzung von Lüftungsanlagen, so ergeben sich auch aus diesem Aspekt keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots zulasten der Kläger. Lüftungsanlagen sind ausweislich der jeweiligen Eingabepläne weder Gegenstand der Baugenehmigung vom 26. November 2018 noch der Baugenehmigung vom 10. Dezember 2021 und stellen damit keine im Rahmen des Rücksichtnahmegebots zu berücksichtigende Nutzung dar. Dass keine Lüftungsanlagen vorhanden sind, bestätigt auch die Betriebsbeschreibung, in der die Kläger hinsichtlich der Lüftung einer Küche (die im Übrigen auch nicht Gegenstand der Baugenehmigung vom 26. November 2018 ist, wie sich aus den Eingabeplänen zwanglos ergibt) weder die Lüftungsoption „Fenster“ noch die Lüftungsoption „Lüftungsanlage“ angekreuzt haben.
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3. Damit war die Klage mit der sich aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 159 ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Hierbei entsprach es der Billigkeit, § 162 Abs. 3 VwGO, § 154 Abs. 3 VwGO, den Klägern auch die Kostentragung hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese sich durch Antragstellung ihrerseits einem Kostenrisiko ausgesetzt hatte.