Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Iran)
Normenketten:
AsylG § 3
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4
Leitsatz:
Nach aktueller Erkenntnislage können im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren, da der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Kurde, Peshmerga sowie Verbindung zu Komala in Vergangenheit, Aktivitäten für Arbeitergewerkschaft, kommunistische Arbeiterpartei WKPI bzw. AKPI, Inhaftierung wegen politischer Aktivitäten, psychische Folterung im Iran, Verurteilung im Iran, Vorlage von, nicht zweifelsfreien, iranischen Dokumenten aus SANA, Vermutung erneuter Verfolgung mangels stichhaltiger gegenteiliger Gründe, insgesamt glaubhaftes Vorbringen im Einzelfall, exilpolitische Aktivitäten, beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr, weiteres Verfolgungsinteresse des iranischen Staates, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, Gefahrerhöhung durch aktuelle landesweite Proteste und Repressionen im Iran, exilpolitische Betätigung, Peshmerga, Komala, SANA
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7231
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit, reiste nach eigenen Angaben im Juli 2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 3. August 2021 einen Asylantrag. Zur Begründung seines Asylantrages gab der Kläger im Wesentlichen an: Er sei Arbeiteraktivist und Mitglied des Freien iranischen Arbeitervereins gewesen. Am 7. Juni 2020 habe der Geheimdienst seine Wohnung durchsucht, Sachen beschlagnahmt und ihn verhaftet. Nach 23 Tagen sei er auf Kaution freigelassen worden. In einem Gerichtsverfahren habe man ihn zu elf Jahren Haft verurteilt. Zu seinem Vorbringen legte der Kläger verschiedene Unterlagen vor.
2
Mit Bescheid vom ... erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einem anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe eine Vorverfolgung nicht glaubhaft darlegen können. Seine Schilderungen erschienen wenig plausibel. Es erschließe sich nicht, weshalb die iranische Justiz den Kläger einerseits festgenommen habe, um ihn im Gefängnis „sterben und verwesen“ lassen zu wollen, ihn andererseits aber gegen Kaution freigelassen habe. Nach der Inhaftierung und Freilassung im Juni 2020 erschließe sich kein zeitlicher und kausaler Zusammenhang, wenn der Kläger erst am 15. März 2021 den Iran verlassen habe. Die vorgelegten Dokumente in persischer Sprache vermögen den Sachvortrag nicht in überzeugender Weise zu untermauern. Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes sei es für iranische Staatsangehörige relativ leicht, an gefälschte Dokumente zu gelangen. Die vorgelegten Dokumente wiesen nach Erfahrungswerten des Bundesamtes sowohl formale als auch inhaltliche Mängel auf, die auf eine Fälschung hinwiesen. Das vorgelegte Bestätigungsschreiben der Kommunistischen Arbeiterpartei Iran sei nicht schlüssig. Das kommunistische Ideal entspreche nicht dem unternehmerischen auf gewinnorientierenden Handeln zu Lasten von Arbeitern. Tatsächlich sei die Bedeutung der Kommunistischen Arbeiterpartei Iran ausschließlich auf iranische Diaspora beschränkt. Die Partei verfüge innerhalb Irans über keinerlei Bedeutung. Gegen die Verfolgungswahrscheinlichkeit spreche auch, dass die Aktivitäten des Klägers im Vergleich zu anderen eher dürftig seien.
3
Am 4. Oktober 2022 ließ der Kläger Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Zur Klagebegrünung ließ der Kläger diverse Links auch mit Bezug zum Kläger sowie die Übersetzungen vorlegen und im Wesentlichen ausführen: Die vom Kläger genannte Partei sei nicht die die CPI, sondern die WKPI gewesen. Er sei auch nicht in der Zelle 209 sondern in Trakt 209 im Ev.-Gefängnis untergebracht gewesen. Bei dem „Verein“ handele es sich um die freie Arbeitergewerkschaft im Iran. Die in der Anhörung eingereichten Dokumente habe der Kläger über das sogenannte SANA-System erhalten.
4
Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2022 ließ der Kläger anfragen, ob die Beklagte abhelfe und weiter vorbringen: Auf das außergerichtliche Schreiben vom 25. Juli 2022 werde Bezug genommen. Im Hinblick auf die Schilderungen zur Meldeauflage und Gerichtsterminen nach der geschilderten Untersuchungshaft sei das Verfolgungsgeschehen eben gerade nicht ein ¾ Jahr vor der Flucht des Klägers abgeschlossen gewesen. Im Hinblick auf die Nachweise zur Inhaftierung dürfte diese eigentlich sogar unstreitig sein.
5
Mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2022 ließ der Kläger im Wesentlichen weiter vorbringen: Das Urteil des VG Würzburg vom 31. Januar 2022 verhalte sich nicht zur Vorverfolgung. Bereits durch die – unstreitige (?), da über Berichte im Internet nachgewiesene – Inhaftierung bestehe doch eine Vorbefassung der iranischen Behörden mit dem Kläger, der dadurch doch aus der breiten Masse der politisch tätigen Kurden herausgetreten sei. Zudem: Wie werde der iranische Geheimdienst reagieren, wenn der bereits einmal inhaftierte, politisch tätige Kläger ohne Reisepass in den Iran nach Asylantragstellung zurückkehre, wenn dort z.B. die Stadt Sanandaj einem Kriegsgebiet gleiche, die Kurden dort zeitweise die Kontrolle übernommen hätten? Werde nicht jeder nachweislich politisch tätige Kurde aktuell als Gefahr und Unruhestifter angesehen? Mit Schriftsätzen vom 6. und 13. März 2023 ließ der Kläger weitere Unterlagen zur Vorverfolgung des Klägers sowie Fotos des Klägers als Peshmerga bei der Komala vorlegen.
6
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2022,
7
Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2022 ließ die Beklagte in ihrer Klageerwiderung im Wesentlichen ausführen: Auch nach nochmaliger Prüfung des Sachverhalts unter Berücksichtigung der Klagebegründung und des weiteren Vorgehens der Gegenseite werde nach Rücksprache mit dem zuständigen Entscheider am streitgegenständlichen Bescheid festgehalten. Auf die ausführliche Bescheidbegründung werde vollumfänglich verwiesen. Die maßgeblichen Punkte, die gegen eine drohende Verfolgung bei Rückkehr ins Heimatland sprächen, hätten nicht ausgeräumt werden können. Es werde nochmals ausdrücklich auf das bereits im streitgegenständlichen Bescheid angeführte Urteil des VG Würzburg vom 31. Oktober 2022 hingewiesen.
8
Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 5. Oktober 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
9
Das Gericht bewilligte dem Kläger mit Beschluss vom 2. Januar 2023 unter Beiordnung seines Bevollmächtigten Prozesskostenhilfe, soweit dadurch keine weiteren Kosten als durch die Bevollmächtigung eines im Gerichtsbezirk ansässigen Rechtsanwalts entstehen.
10
In der mündlichen Verhandlung am 20. März 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom ... zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
11
Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Akten seiner Ehefrau) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
13
Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
14
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom … … … ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
15
Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
16
Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
17
Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
18
Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 23).
19
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
20
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seines Vorfluchtschicksals und seiner persönlichen Situation sowie seiner exilpolitischen Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die Aktivitäten des Klägers als regimefeindlich angesehen wurden und auch noch werden und der Kläger selbst als Regimegegner gilt und der iranische Staat bezogen auf den Kläger schon in der Vergangenheit sein Verfolgungsinteresse bekundet hat. Ins Gewicht fällt, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise verfolgt wurde, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Vermutung dafürspricht, dass dem Kläger bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass stichhaltige Gründe dagegensprechen.
21
Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers sowohl zu den Umständen und den Folgen seiner Inhaftierung im Iran und seiner deswegen erlittenen staatlichen Repressionen im Iran glaubhaft ist. Gerade in Bezug auf den Kläger spricht nicht nur der Inhalt seiner Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben.
22
Hinzu kommt, dass die später ausgereiste und anderweitig untergebrachte Ehefrau des Klägers in ihrem Asylverfahren unabhängig vom Kläger bei ihrer Anhörung am 20. Dezember 2022 die Aktivitäten ihres Mannes und seine Inhaftierung bestätigt hat.
23
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen und religionskritischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit einer Verfolgung aus politischen bzw. religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
24
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren. Nicht nur exponierte Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
25
Die vorstehend skizzierte Gefährdungslage gilt gerade bei Kurden, zumal wenn sie – insbesondere in den Augen des iranischen Staates – mit exilpolitischen Parteien bzw. Organisationen oder deren Medien in Verbindung stehen (vgl. Nachweise zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung ausführlich VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff., 39). Im Einzelfall müssen auch nicht radikale bzw. nicht exponierte Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien im Iran flüchtlingsrelevant mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen; für sie kann der Grad der Gefährdung höher sein als womöglich bei anderen Oppositionellen (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 39). Aus der Rechtsprechung des VG Würzburg zur AKPI (siehe VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris) folgt nichts anderes, weil letztlich auf den Einzelfall abzustellen ist (vgl. auch VG Saarland, U.v. 28.7.2022 -- juris Rn. 31 ff. zur Komalah; VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 11 f. zur DPK-I; VG Bayreuth, U.v. 13.7.2022 – B 2 K 20.30315, 7993388 – juris, UA S. 12 f zur DPK-I).
26
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (Mahsa „Dschina“ Amini) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
27
Nach den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amt für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger. Seit dem 18. September 2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, es gibt Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es zu willkürlichen Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Es sind weitgehende Einschränkungen der Kommunikationsdienste sind regelmäßig weitgehend eingeschränkt (insbesondere mobiles Internet, Instagram, WhatsApp, VBNs). Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 20.3.2023, unverändert gültig seit 8.2.2023).
28
Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
29
Mittlerweile bis in den Dezember 2022 hinein ziehen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
30
Die Protestaktionen und Repressionen gehen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; TAZ, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
31
Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023).
32
Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von Mahsa Jina Amini, einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „Jin Jiyan Azadi“ – Frau Leben Freiheit – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 20.3.2023 und 13.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
33
Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regime-Gegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien regieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verändern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen knacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -Organisationen, Behandlung durch iranische Behörden vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
34
Nach dieser Erkenntnislage wirken die aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
35
Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalles, die er glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
36
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft seine Aktivitäten, insbesondere im Zusammenhang mit der Arbeitergewerkschaft geschildert, die zu seiner Verhaftung und Inhaftierung sowie nachfolgend zur Verurteilung geführt haben. Der Kläger schilderte im Einzelnen und detailliert nicht nur die erlittenen staatlichen Repressionen, insbesondere im Zusammenhang mit Verhaftung und Verhör, sondern er verwies dabei zusätzlich auf verschiedene Gesichtspunkte, die ihm der iranische Staat vorgeworfen habe und vorwerfe.
37
Der Kläger schilderte sowohl bei seiner Anhörung gegenüber dem Bundesamt als auch in der mündlichen Verhandlung, dass er Kommunist sei und so gesehen auch in Wirklichkeit gar kein Moslem. Er sei früher bei der Peshmerga und damit Partisan gewesen. In dem Zeitraum sei er bei der Partei Komala gewesen. In der Folgezeit habe er sich dann in der Vereinigung Freie Iranische Arbeiter engagiert, so eine Art Gewerkschaft, die aber nicht anerkannt sei. Er sei zuständig für die Homepage, auch heute noch. Er sei verantwortlich für die Kommunikation zwischen den Mitgliedern über die verschiedenen Kanäle wie Twitter, Facebook und YouTube. In dem Zusammenhang seien auch kritische Artikel über den iranischen Staat veröffentlicht worden. Er sei verantwortlich für die Verknüpfung der anderen Seiten. Außerdem sei er seit 20 Jahren in der Arbeiterkommunistischen Partei. Zuvor sei er kurz bei der Komala gewesen. Diese habe sich jedoch aufgespalten. Auf Parteiebene hätten sie auch Aktivitäten entwickelt, sich etwa versammelt und protestiert.
38
Der Kläger schilderte dann eindringlich, wie seine Verhaftung im Iran erfolgt sei. Vor ca. zwei Jahren seien zwischen 07:00 Uhr und 08:00 Uhr vier Personen gekommen und hätten geklingelt. Sie hätten ihn umgeworfen und ihm Handschellen angelegt sowie Dokumente, Laptop, Handy und dergleichen mitgenommen. Außerdem hätten sie anlässlich dieser Durchsuchung illegalen Alkohol bei ihm gefunden.
39
Er sei zu einem Wagen gebracht und in ein Haus des Geheimdienstes mitgenommen worden. Dort sei er das erste Mal verhört worden. Sie hätten fünf bis sechs Stunden mit ihm gesprochen und alles dokumentiert. Er sei insbesondere nach den Passwörtern gefragt worden, die er aber nicht preisgegeben habe. Die Passwörter hätten sie in ihrer Vereinigung gebraucht, um miteinander zu kommunizieren. Es sei ein Kreuzverhör gewesen. Sie hätten psychischen Terror verbreitet. Sie hätten einerseits gesagt, dass er, wenn er alles sage, heute freigelassen werde bzw. umgekehrt, dass sie ihn foltern würden, wenn er dies nicht mache. Er sei dann ins Ev.-Gefängnis gekommen. Dort sei er von den insgesamt 23 Tagen 20 Tage in einer Einzelzelle gewesen.
40
Der Kläger beschrieb bildhaft und detailliert und auch gestenreich die Verhältnisse im Gefängnis, etwa konkret die Zelle. Sie sei etwa so groß wie der Tisch im Gerichtssaal gewesen, an dem er gesessen habe, etwa 2,5 m bis 3 m lang und nicht ganz so breit wie die Entfernung des Tisches zum Fenster, so 1,5 m. Es habe zwei Decken gegeben; eine zum Draufliegen, eine zum Zudecken. Er habe auf dem Boden schlafen müssen. Die Zelle sei ca. 2,5 m hoch gewesen. Es habe ein kleines Fenster gegeben, das wie ein Loch gewesen sei, und kleine Löcher zum Lüften. Er habe sie ausgestreckt mit den Händen nicht erreichen können. Des Weiteren habe sich in der Zelle ein kleines Waschbecken mit fließendem Wasser befunden. Er habe dies trinken können, aber es sei kein sauberes Wasser gewesen. Außerdem habe sich in einer Ecke eine sehr kleine Toilette befunden. Zum Frühstück habe er Tee zu trinken bekommen sowie zum Essen Käse oder Honig mit Brot. Zum Mittagessen habe es entweder Fisch oder Reis oder Hühnchen geben und abends Marmelade oder Käse mit Brot. Für Normale reiche das Essen nicht, aber er sei in Haft gewesen, und es habe gereicht zum Überleben.
41
Der Kläger beschrieb weiter anschaulich die Verhörsituation und die Räumlichkeiten. In den 20 Tagen sei er 13 Mal zum Verhör mitgenommen worden. Dies habe zwölf bis acht Stunden gedauert, manchmal auch unterbrochen durch eine Mittagspause. Ihm seien die Augen verbunden worden. Er habe erst zu einem anderen Raum laufen müssen. Er habe das Gefühl gehabt, er habe durch einen Saal laufen müssen. Ihm sei die Augenbinde wieder abgenommen worden, aber nicht richtig. Er habe unter der Augenbinde dann hervorschauen können, aber nur nach unten auf den Boden. Sie sei wie ein Schirm über seine Augen gewesen. Der Verhörraum sei etwa 3 m groß gewesen. Er habe mit dem Gesicht zur Wand auf einem Stuhl sitzen müssen. Der Stuhl habe eine Klappe gehabt. Diese sei zum Zweck des Schreibens gewesen. Er habe manche Fragen schriftlich beantworten müssen. Dafür habe er auch einen Kugelschreiber bekommen. Die Fragen seien teilweise schon vorbereitet gewesen. So sei er z.B. gefragt worden, ob er seine politische Tätigkeit deshalb ausübe, um Unruhe zu stiften, was er verneint habe. Sie hätten seine Akte gekannt und die Fragen wären daraufhin ausgerichtet gewesen. Er habe jede Seite unterschreiben müssen. Es habe auch mündliche Fragen gegeben, auf die er schriftlich habe antworten sollen. Die Fragen seien teils recht komplex gewesen. Er habe die Verhörpersonen nicht gesehen. Er habe aber an den Stimmen gemerkt, dass es zwei Personen gewesen seien, die teilweise gleichzeitig, teilweise einzeln anwesend gewesen seien.
42
Des Weiteren hob der Kläger die psychische Ausnahmesituation bei dem Verhör hervor. Beim Verhör habe es psychischen Terror gegeben, etwa durch Fragen, was dem Kind etwa passiere, wenn es vergewaltigt werden würde oder wenn die Frau vom Auto überfahren würde, was dann sei. Er, der Kläger, müsse dann die Verantwortung tragen, wenn ihm oder seiner Familie etwas zustoße, weil er es verursacht habe. Dies sei psychische Folter gewesen. Der Kläger gab weiter an, dass er nicht körperlich gefoltert worden sei bzw. pauschte nicht auf, sondern er gab nur an, er sei ein bisschen körperlich misshandelt worden. Sie hätten ihn gestoßen bzw. mit der Faust geschlagen. Etwa beim Hinsetzen hätten sie ihm einen Stoß versetzt.
43
Der Kläger gab weiter an, dass es in der Zeit danach bei ihm immer wieder zu Angstzuständen gekommen sei, er Depressionen bekommen habe und bis vor zwei Monaten auch Alpträume. Er sei nachts aufgewacht und habe Schweißausbrüche gehabt. Er sei aber nicht in entsprechende psychiatrische Behandlung gegangen.
44
Der Kläger schilderte weiter nachvollziehbar, wie es infolge der Kaution zur Freilassung gekommen sei. Eine Kaution in Form eines Hauses sei gefordert gewesen. Bis zur Gerichtsverhandlung sei er auf freiem Fuß gewesen.
45
Der Kläger legte weiter plausibel dar, dass es eine Gerichtsverhandlung für die Tat mit dem Alkohol gegeben habe und andernorts die andere Gerichtsverhandlung wegen seiner politischen Aktivitäten.
46
Dr Kläger beschrieb weiter, dass von den vorgelegten Dokumenten das eine ausgehändigt worden sei, aber dass er die meisten über das System SANA, bekommen habe. Auch sein Anwalt sei informiert worden, dass das Urteil gekommen sei. Er sei erst untergetaucht und dann geflohen, nachdem er erfahren gehabt habe, dass er zu einer elfjährigen Haftstrafe verurteilt worden sei, die er binnen fünf Tagen hätte antreten sollen.
47
Auf Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten angesprochen, insbesondere betreffend die vorgelegten Dokumente, die vom Bundesamt aufgrund verschiedener Merkmale als nicht authentisch bewertet worden seien (wie fehlendes Emblem bzw. fehlende Schriftzeichen, Abweichungen von vorliegenden Mustern usw.), erklärte der Kläger, er habe die Dokumente so bekommen und habe sie auf einen USB-Stick gespeichert, den er dem Gericht geben könne.
48
Das Gericht verkennt dabei einerseits nicht, dass aufgrund des Vorbringens des Bundesamtes und der dort aufgelisteten Merkmale durchaus erhebliche Zweifel an der Authentizität der Unterlagen bestehen können. Andererseits hat der Klägerbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass die aus dem neuen elektronischen System SANA vorgelegten Dokumente anders aussehen könnten als die – als Muster dienenden – ursprünglichen gedruckten Dokumente und dass dem Bundesamt womöglich kein brauchbares Vergleichsmaterial vorliegen könnte. Zudem ist es durchaus denkbar, dass die früheren einheitlichen Drucke der Formularmuster im Iran auch deshalb abweichend sein könnten, weil der Betreffende die Dokumente nun jeweils selbst auf seinem Drucker ausdruckt und drucktechnisch entsprechende Unterschiede auftreten könnten. Möglicherweise ließen sich auch gewisse formalen Mängel auf behördeninterne Fehler oder Nachlässigkeiten zurückführen. Eine abschließende Überprüfung und Klärung ist anhand der vorgelegten Dokumente nicht möglich (vgl. auch VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19.A – juris Rn. 14) und letztlich auch nicht erforderlich.
49
Denn aufgrund des glaubhaften Vorbringens des Klägers, an dem – zumindest betreffend das Kerngeschehen des Geschilderten Verfolgungsschicksals – nach Überzeugung des Gerichts (§ 108 VwGO) aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung nicht zu zweifeln ist, ist jedenfalls festzuhalten, da die vom Bundesamt ins Feld geführten Aspekte nicht geeignet sind, die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU, dass eine bereits vorverfolgte Person bei einer Rückkehr erneuter Verfolgung droht, nicht widerlegt ist. Nach Überzeugung des Gerichts liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die eine solche Verfolgung bzw. den Eintritt eines Schadens entkräften würden.
50
Denn ins Gewicht fällt auch, dass die Ehefrau des Klägers in ihrem Asylverfahren örtlich und zeitlich unabhängig vom Kläger bei ihrer Anhörung am 20. Dezember 2022 angegeben hat, dass die iranischen Behörden immer noch nach dem Kläger suchten und Interesse daran hätten, ihm habhaft zu werden. Die Ehefrau, die mittlerweile auch in Deutschland weilt, bestätigte des Weiteren bei ihrer Anhörung von sich aus ungefragt die Verhaftung ihres Ehemannes, die Beschlagnahme auch ihres Handys und die Inhaftierung des Klägers für 23 Tage. Ebenso bestätigte sie die Verurteilung ihres Ehemannes zu elf Jahren Freiheitsstrafe. Sie gab weiter an, dass sie ihre Informationen veröffentlicht hat. In der Tat lassen sich im Internet entsprechende Informationen über die Inhaftierung und die Verurteilung des Ehemannes finden. Der Klägerbevollmächtigte hat im Rahmen des Klageverfahrens entsprechende Links fürs Internet übermittelt. Die betreffenden Internetseiten weisen übereinstimmende Informationen zum Vorfluchtschicksal des Klägers auf. Die Ehefrau des Klägers gab dazu weiter an, jeden Tag über Instagram über den Kläger und über dessen Inhaftierung berichtet zu haben. Sie erklärte zudem, dass ihr Ehemann Mitglied der Freien Gewerkschaft der iranischen Arbeiter gewesen sei und dass die Gewerkschaft eine eigene Seite auch auf Instagram gehabt habe. Auch große Fernsehsender hätten sich für ihren Mann interessiert.
51
Gefahrerhöhend treten für den Kläger seine exilpolitischen Aktivitäten hinzu, die auch im Zusammenhang mit den aktuellen Vorkommnissen im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte stehen. Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierten Oppositionellen bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland, nicht zuletzt aus Deutschland, kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt werden. Dies gilt erst recht für Personen, die schon vor der Ausreise im Fokus des iranischen Staates standen bzw. die sich während ihres Auslandsaufenthaltes regimekritisch öffentlich geäußert haben, wie der Kläger bei den von ihm genannten Demonstrationen sowie in den sozialen Medien. Hinzu kommt der Umstand, dass der Kläger Kurde und aufgrund seiner kommunistischen Prägung kein Moslem mehr ist.
52
Der Kläger gab an, dass er weiterhin Mitglied der Arbeiterkommunistischen Partei sei und in Deutschland an Veranstaltungen teilnehme. Sie würden sich regelmäßig treffen, etwa persönlich in Köln oder in einem Internetforum. Zudem würden auch die Kontakte in den Iran gepflegt. Der Kläger hat seine regimekritischen Aktivitäten fortgesetzt. Im letzten halben Jahr sei er drei bis vier Mal in Köln bei Demonstrationen gewesen, wie er auch mit Fotos belegte. Der Kläger hat als Zuständiger für Homepage seiner Organisation weiter seine Aktivitäten im Internet und in den sozialen Medien fortgesetzt, verbunden auch mit Veröffentlichungen von kritischen Artikeln über den iranischen Staat.
53
Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass der Kläger aus politischen Gründen bereits im Iran in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien erlitten hat, weil er aus Sicht der iranischen Behörden als Regimegegner eingestuft wurde und wird.
54
Insoweit ist anzumerken, dass – wie auch den oben zitierten Auskünften und Erkenntnissen zur Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern zu entnehmen ist – nicht darauf abzustellen ist, dass der Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein mögliches Verfolgungsinteresse wegen des Hineinwirkens des Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist beim Kläger aufgrund seiner glaubhaften Angaben zu bejahen. Der Vorwurf der iranischen Sicherheitskräfte bezog sich darauf, dass sich der Kläger bei einem aus iranischer Sicht oppositionell betätigt und regimefeindlich geäußert hat. Der Kläger hat seine Aktivitäten in Deutschland fortgesetzt.
55
Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 9). Solche Aktivitäten wurden und werden dem Kläger gerade vorgeworfen. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht dem Kläger sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund seines aktuellen Aufenthalts in Deutschland der Vorwurf, ein Regimegegner zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen, zumal er sich mit den aktuellen Protesten im Iran solidarisiert und diesbezüglich sowohl bei Demonstrationen als auch im Internet exilpolitisch engagiert hat. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer erneuten Rückkehr in den Iran.
56
Schon allein das Vorfluchtschicksal ist unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Situation im Iran ausreichend für die Annahme einer mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden politischen Verfolgung. Hinzu kommen die exilpolitischen regimefeindlichen Aktivitäten des Klägers.
57
Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste der Kläger unter Gesamtwürdigung aller Umstände erneut mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es schon in der Vergangenheit im Iran zu Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger gekommen ist und dass seitens des iranischen Staates weiterhin ein Verfolgungsinteresse gegen den Kläger besteht. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen weiter eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, der Kläger werde sich weiter regimekritisch verhalten, und dass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen würden.
58
Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der ihn betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
59
Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
60
Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
61
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
62
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.