Titel:
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Iran)
Normenketten:
VwGO § 86 Abs. 1 Hs. 2
AsylG § 3, § 4, § 25
AufenthG § 60
Anerkennungs-RL Art. 4 Abs. 4
Leitsätze:
1. Allgemein ist mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Klägerin mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wegen einer identitätsprägenden Verwestlichung oder aus religiösen Gründen ist eine Rückkehr für eine Iranerin in ihr Heimatland unzumutbar, wenn die begründete Annahme getroffen werden kann, dass sie tatsächlich etwas aus einem inneren Zwang heraus gegen die Bekleidungsvorschriften verstoßen müsste und ihr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen würden. (Rn. 64) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Frau, westliche Prägung, Ablehnung des Islams und des Kopftuchs, Mujahedin-e Khalg, MEK, Inhaftierung und Verhör zu MEK nach Rückkehr von einer Reise nach Europa, ausführliche und detaillierte Angaben zum Verfolgungsschicksal, Vermutung erneuter Verfolgung mangels stichhaltiger gegenteiliger Gründe, Vorlage einer nicht authentischen Vorladung, eingeholte Auskunft des Auswärtigen, exilpolitische Aktivitäten mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse im Iran, Teilnahme an Demonstrationen in Deutschland, Gefahrerhöhung durch landesweite Proteste und Repressionen im Iran, Reisewarnung des Auswärtigen Amtes
Fundstelle:
BeckRS 2023, 7226
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2020 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin, iranische Staatsangehörige, reiste am 28. August 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 6. September 2018 einen Asylantrag. Zur Begründung ihres Asylantrages brachte sie im Wesentlichen vor: Bei der Rückkehr von einer Reise nach Europa sei sie am Flughafen vom Geheimdienst Etelaat festgenommen und befragt worden, welche Beziehung zu einer Gruppe namens Mudschahedin (Mujahedin-e Khalg – MEK) habe. Sie sei etwa sieben oder acht Tage festgehalten und jeden Tag ein oder zwei Stunden vernommen worden. Nach ihrer Freilassung habe sie die Auflage gehabt, sich beim Geheimdienst zu melden. Sie sei aber ausgereist. Weiter legte sie eine Kopie einer Vorladung aus dem Iran vor.
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Mit Bescheid vom 22. Juni 2020 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Klägerin wurde aufgefordert die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die bloße Unzufriedenheit mit Verhältnissen im Herkunftsland könne sich nicht asylrechtlich auswirken. Tatsächlich sei die Klägerin nicht politisch aktiv gewesen und habe keiner oppositionellen Gruppierung angehört. Die Klägerin habe problemlos und unbehelligt mit ihrem echten Reisepass über den Flughafen Teheran aus dem Iran nach Italien ausreisen können. Ihr Vorbringen, dass sie nach ihrer Rückkehr verhaftet, befragt und geschlagen worden sei, könne nicht geglaubt werden. Es bestünden Zweifel, dass die Klägerin nach ihrem Aufenthalt in Europa tatsächlich in den Iran zurückgekehrt sei. Selbst wenn sie zurückgekehrt sei, bestünden Zweifel an ihrer angeblichen Festnahme auf dem Flughafen. Die Klägerin habe keine schlüssigen, zusammenhängenden und hinreichend nachvollziehbaren Angaben vorgetragen. Wenn tatsächlich ein Verfolgungsinteresse bestanden hätte, hätte kaum eine Möglichkeit bestanden, durch verwandtschaftliche Beziehungen freizukommen. Auch die vorgelegte Kopie einer angeblichen Vorladung könne nicht zu einer positiven Entscheidung führen. Die Erklärung der Klägerin habe nicht überzeugen können, dass sie die Vorladung von 2018 erst im Sommer 2019 erhalten habe.
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1. Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2020, bei Gericht eingegangen am 26. Juni 2020, ließ die Klägerin Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und beantragen:
Die Beklagte wird verpflichtet, unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2020, Gesch.-Z.: …, zugestellt am 25. Juni 2020, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 Halbs. 1 AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise, dieser den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung der Klage ließ die Klägerin mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2020 im Wesentlichen ausführen: Der Klägerin drohe Anwendung psychischer Gewalt in Form von Folter und Entzug der persönlichen Freiheit durch den iranischen Geheimdienst Etelaat. Vor ihrer Flucht sei sie bei Rückkehr von einer Reise aus Europa inhaftiert worden. Sie sei verdächtigt worden, gegen den Iran zu spionieren. Um Informationen zu erhalten, sei sie mit Faust und Stockschlägen gefoltert worden. Sie sei vorverfolgt ausgereist. Nach ihrer Ausreise sei ihre Mutter festgenommen, verhört und als Druckmittel für ihre Rückkehr eingesetzt worden. Der Verdacht werde belegt durch die Vorladung der Klägerin als Angeklagte vor die 15. Kammer des Revolutionsgerichts zu Teheran vom 4. November 2018. Grund der Vorladung sei die „Mitgliedschaft in der Gruppierung der Regierungsgegner im Ausland und Informationsaustausch mit dem Ziel der Sicherheit des Landes zu stören“. Die Ausstellung des Reisepasses könne auch daran liegen, dass der iranische Geheimdienst so Informationen über eine vermutete Spionagetätigkeit habe erhalten oder die Klägerin in Italien habe verfolgen wollen. Die Reisegeschichte der Klägerin sei sehr detailliert und schlüssig. Bis zu ihrer Festnahme durch den iranischen Geheimdienst habe es keine schwerwiegenden Probleme gegeben. Sie habe auch eine enge Beziehung zu ihrer Mutter und ihrer Familie im Iran. Außerdem sei davon auszugehen gewesen, dass sie nach ihrer Urlaubsreise zurückkehre. Das Telefon der Familie der Klägerin sei mehrmals abgehört worden und es sei auch davon auszugehen, dass der iranische Geheimdienst Zugriff auf Flugdaten bzw. Flüge gehabt habe. Der Großcousin sei seit 40 Jahren im iranischen Geheimdienst tätig und arbeite nun in einer Führungsposition. Die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Aussage nicht gewusst, warum ihr das Vorladungsschreiben nicht vorher mitgeteilt worden sei. Die abstrakte Fälschungsmöglichkeit ohne Bezugnahme auf konkrete Fälschungsanhaltspunkte könne die Glaubwürdigkeit des Dokuments nicht beeinflussen. Den Reisepass habe sie aus Angst vernichtet. Bei einer Rückkehr drohe der Klägerin ernsthafter Schaden in Form von Folter.
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Mit Schriftsatz vom 4. März 2021 ließ die Klägerin die PDF-Datei des Fotos der Vorladung dem Gericht übermitteln, welche die Nichte der Klägerin im Iran fotografiert und per E-Mail an die Klägerin übersandt gehabt habe, und fügte hinzu, die Klägerin habe das Foto einer Bildbearbeitung unterzogen, so dass an den Rändern der Teppich nicht mehr zu sehen sei.
6
Mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2022 ließ die Klägerin unter Beifügung verschiedener Unterlagen zur eingeholten Auskunft im Wesentlichen ausführen: Entgegen den durch den vom Auswärtigen Amt konsultierten iranischen Rechtsanwalt getätigten Einschätzungen halte die Klägerin die vorgelegte Vorladung nach wie vor für echt. Dies deshalb, weil bereits die Ausführungen zu den Öffnungszeiten des Gerichts in Teheran unzutreffend seien. Ausweislich der beigefügten Screenshots habe das Gericht am Donnerstag bis Mittag geöffnet. Damit werde bewirkt, dass Festgenommene mindestens bis Samstag festsäßen. Auch seien die Ausführungen zum unzuständigen Gericht unzutreffend. Die Klägerin sei in Teheran inhaftiert worden, weshalb auch das Gericht ungeachtet des gewöhnlichen Orts des Betroffenen zuständig sei. Sicherheitskräfte und Sittenpolizei dürften aus eigener Kompetenz Personen festnehmen. Zuständig sei das Gericht am Ort der Inhaftierung und nicht am Wohnort der Person. Es möge zutreffend sein, dass die iranische Gesetzeslage vorsehe, dass Zustellungen von Vorladungen des Revolutionsgerichts direkt an die betroffene Person oder an einen Haushaltsangehörigen zu bewirken seien. Die Realität im Iran sei jedoch eine andere. Nachdem der Vertrauensanwalt viel über die Klägerin wisse, er selbst aber nicht in Erscheinung trete, könne nicht darauf vertraut werden, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr unbehelligt bleibe. Beachtlich sei weiter, dass sich die Kläger exilpolitisch betätige. Sie habe beispielsweise an einer Demonstration am 8. Oktober 2022 gegen das islamische Regime und die Unterdrückungen von Frauen teilgenommen. Weiter sei beachtlich, dass die Klägerin bereits im Iran keine überzeugte Muslimin gewesen sei, sondern die verlangen Riten und Praktiken nur notgedrungen mitgemacht habe, um Repressalien zu entgehen. Nachdem sie nun mittlerweile seit 2018 in der Bundesrepublik Deutschland lebe und das hiesige Leben in einer westlichen Demokratie kennengelernt habe, sei sie zu der inneren Überzeugung gelangt, dass sie keine Muslimin mehr sein möchte. Sie praktiziere den Glauben nicht mehr. Sie möchte auch nicht mehr dazu gezwungen werden, die islamischen Riten zu praktizieren. Insbesondere lehne sie den Kopftuchzwang ab. Die Klägerin sei mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass sie keiner Religion mehr angehöre. Sie betrachte sich selbst nicht mehr als Muslimin. Aufgrund des traumatischen Erlebnisses bei der Inhaftierung habe die Klägerin erhebliche Schlafstörungen und psychische Probleme. Sie habe in der Folgezeit einem Psychiater im Iran konsultiert und Online therapeutischen Sitzungen wahrgenommen. Der iranische Psychiater habe ihr Medikamente verschrieben. Die Verordnungen seien im Einvernehmen mit der Hausärztin in Würzburg ausgestellt worden. Aktuell seien weitere ärztliche bzw. psychotherapeutische Einzeltherapiegespräche aufgrund der Sperrung digitaler Medien in Iran durch die dortige Staatsgewalt nicht mehr möglich.
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Mit Schriftsatz vom 13. Februar ließ die Klägerin noch vorbringen, sie könne mangels finanzieller Mittel doch keine Stellungnahme eines iranischen Rechtsgelehrten oder Rechtsanwalts vorlegen. Außerdem ließ sie eine fachärztliche Bescheinigung vom 30. Oktober 2022 zu ihrer psychiatrischen Behandlung vom 16. Mai 2021 bis 30. Oktober 2022 (online) wegen stressbedingter Angststörungen sowie eine hausärztliche Bescheinigung vom 13. Februar 2023 zur ihrer medikamentösen Behandlung wegen Depression mit Angstsymptomatik übermitteln.
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2. Die Beklagte beantragt im Schriftsatz vom 1. Juli 2020,
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Mit Schriftsatz vom 19. Februar 2021 brachte die Beklagte auf gerichtliche Nachfrage weiter vor: Anhand vorliegender Vergleichsunterlagen liege zumindest der Anfangsverdacht für eine Fälschung vor. So seien verschiedene Merkmale auf dem Dokument wie z.B. das Emblem der Justiz nicht korrekt wiedergegeben. Bei der zentralen iranischen Druckerei für behördliche Vordrucke und Formulare könnten solche Fehler grundsätzlich nicht vorkommen. Bei Aushändigung des Originaldokuments könnte eine Überprüfung beim Auswärtigen Amt erfolgen.
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Mit Schriftsatz vom 21. September 2022 nahm die Beklagte zur eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19. September 2022 im Wesentlichen wie folgt Stellung: Am streitgegenständlichen Bescheid werde weiterhin festgehalten. Die dort getroffenen Ausführungen würden durch eingeholte Auskunft voll umfänglich bestätigt. Nachdem das vorgelegte Dokument nun zweifelsfrei als Fälschung eingeschätzt worden sei, komme es auf eventuelle Folgen des unterlassenen Folgeleistens auf eine angebliche Vorladung oder die Umstände ihrer Zustellung nicht mehr an. Im Ergebnis sei der Vortrag der Klägerin als unglaubhaft bestätigt. Die Tatsache, dass es sich beim angeblich zugestellten Dokument um eine Fälschung handele, identifiziere zudem die Erklärung der Klägerin für die verspätete Übermittlung der „Vorladung“ oder den Widerspruch zwischen den von ihr aufgeführten Schreibfähigkeit der Mutter und der Empfangsunterschrift unter dem Dokument als Schutzbehauptungen. Die Auskunft zur Einstellung des iranischen Staates gegenüber der MEK und dessen Vorgehen gegen deren (vermeintliche) Anhänger bekräftige die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid, dass die vorgetragene Freilassung dank des Wirkens eines Großcousins, selbst wenn man diesem einen hohen Einfluss unterstelle, sehr unwahrscheinlich erscheine. Es sei angemerkt, dass die Klägerin selbst nicht für die Organisation tätig sei oder gewesen sei.
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3. Die Kammer übertrug den Rechtstreit mit Beschluss vom 29. Juni 2020 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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In der mündlichen Verhandlung am 8. März 2021 wiederholte die Klägerbevollmächtigte den Klageantrag aus dem Klageschriftsatz vom 25. Juni 2020. Das Gericht hörte die Klägerin informatisch an und erließ einen Beweisbeschluss zur Einholung einer Auskunft des Auswärtigen Amtes.
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Mit Beschluss vom 22. März 2021 ordnete das Gericht das Ruhen des Verfahrens an.
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Mit Datum vom 19. September 2022 erteilte das Auswärtige Amt die erbetene Auskunft, nach der ein beigezogener Vertrauensanwalt das Dokument zweifelsfrei als Fälschung einschätze. Im Übrigen führte es aus, dass Mitgliedern oder vermeintlichen Anhängern der MEK im Iran erhebliche Strafverfolgung drohe.
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Mit Beschluss vom 13. Dezember 2022 nahm das Gericht das ruhende Verfahrens W 8 K 20.30749 wieder auf und führte es unter dem neuen Aktenzeichen W 8 K 22.30881 fort.
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In der weiteren mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2023 nahm die Klägerin die Klage auf Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2020 und auf Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte zurück. Das Gericht trennte diesen Klageteil ab, führte ihn unter dem Aktenzeichen W 8 K 23.30133 fort und stellte ihn in Folge der Klagerücknahme auf Kosten der Klägerin ein.
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Das Gericht hörte die Klägerin ergänzend informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten (einschließlich der Akten des Verfahrens W 8 K 23.30133, W 8 K 18.50562 und W 8 S 18.50563) sowie die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22. Juni 2020 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
21
Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat die Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
22
Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
23
Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
24
Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 23).
25
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
26
Nach Überzeugung des Gerichts besteht für die Klägerin aufgrund ihres Vorfluchtschicksals und ihrer persönlichen Situation sowie ihrer exilpolitischen Aktivitäten, einschließlich ihrer westlichen Prägung, eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die Aktivitäten der Klägerin als regimefeindlich angesehen wurden und auch noch werden und die Klägerin selbst als Regimegegnerin gilt und der iranische Staat bezogen auf die Klägerin schon in der Vergangenheit ihre Verfolgungsinteresse bekundet hat. Ins Gewicht fällt, dass die Klägerin schon vor ihrer Ausreise verfolgt wurde, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Vermutung dafürspricht, dass die Klägerin bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass stichhaltige Gründe dagegensprechen.
27
Der Klägerin ist es gelungen, die für ihre Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben der Klägerin ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks von der Klägerin, davon überzeugt, dass das Vorbringen der Klägerin sowohl zu den Umständen und den Folgen ihrer Inhaftierung im Iran und ihren deswegen erlittenen staatlichen Repressionen im Iran glaubhaft ist. Gerade in Bezug auf die Klägerin spricht nicht nur der Inhalt ihrer Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit der Klägerin und für den wahren Inhalt ihrer Angaben.
28
Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist bei der Klägerin wegen der von ihr vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen und islamkritischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit einer Verfolgung aus politischen bzw. religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
29
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Klägerin mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
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Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (M… „D…“ A…) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
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Nach den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amt für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger. Seit dem 18. September 2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, es gibt Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es zu willkürlichen Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Die Kommunikationsdienste sind regelmäßig weitgehend eingeschränkt (insbesondere mobiles Internet, Instagram, WhatsApp, VBNs). Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 27.2.2023, unverändert gültig seit 8.2.2023).
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Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de., Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
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Mittlerweile ziehen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert (vgl. etwa zuletzt Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023).
34
Die Protestaktionen und Repressionen gehen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen, inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; TAZ, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing-Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
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Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung überwacht seit Jahren aber gleichzeitig die sozialen Medien um Regimegegner zu identifizieren und geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Der Überwachung von Inhalt in den sozialen Medien regieren die iranischen Behörden auf die Proteste u.a. mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Sie überwachen auch die Mobilfunknetze. Sie erstellen Metadaten, wer mit ihm wann und wo gesprochen hat. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweile aus den jeweiligen Botschaften heraus (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023; vgl. auch schon BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr gefahrbegründend bzw. gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss die Klägerin nach den Umständen ihres Einzelfalles diese letztlich im Wesentlichen glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
38
Die Klägerin hat in dem zweiten Termin zur mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2023 im Einzelnen konkret detailliert geschildert, dass ihre Probleme schon zur Schulzeit begonnen hätten. Sie habe sich da schon vom Islam abgewandt gehabt. Sie habe etwa nicht an Demonstrationen zum Jahrestag der iranischen Revolution teilgenommen. Deshalb sei auch ihre Mutter wiederholt hinzitiert worden.
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Die Klägerin verdeutlichte ihre Gefühlslage und machte glaubhaft, dass sie psychische Probleme aufgrund der Vorkommnisse im Iran habe. Sie beschrieb, dass sie im Iran das Kopftuch habe zwangsweise tragen müssen, aber nicht entsprechend der Vorstellung der islamischen Republik getragen habe. Es habe an der Uni immer wieder religiöse Vorträge zu allen möglichen Themen gegeben und sie habe auch da die Probleme bekommen, da sie nicht habe daran teilnehmen wollen. Sie habe Probleme wegen ihres Kopftuchs und im Zusammenhang mit ihrer Bekleidung bekommen. Sie sei nicht in Teheran gewesen, sondern an der Universität in Rasht, während im Iran die großen Demonstrationen stattgefunden hätten. Sie hätten sich in kleine Gruppen zusammengefunden und ab und zu kritische Schreiben verfasst. Sie sei zusammen mit anderen Studentinnen gewesen, die Probleme wegen der Bekleidungsvorschriften bekommen hätten. Einmal habe sie im Jahr 2009 an einer Demonstration teilgenommen zusammen mit ihrem Bruder. Sie seien auch von den Sicherheitskräften abgedrängt worden. Die Scheibe des Autos des Bruders sei eingeschlagen worden. Damals habe es nicht so viele Demonstrationen gegeben wie in den letzten Monaten. Daher seien sie darauf angewiesen gewesen, sich in kleinen Gruppen an der Uni zusammenzutun und zu protestieren.
40
Sie sei gezwungen gewesen, seit ihrer Einschulung ein Kopftuch zu tragen. Sie habe aber auch über Satellitenfernsehen und sonstigen Informationen gesehen, wie es in anderen Ländern sei. Ihre Mutter sei zunächst streng mit ihr gewesen, aber ihre Brüder seien gegen das Regime gewesen und hätten sie motiviert, ihr eigenes Leben selbstbestimmt zu führen. Sie habe nicht an religiösen Veranstaltungen teilgenommen. Ihre Mutter habe die Befürchtung gehegt, dass sie für ungläubig gehalten würden. Sie habe sich schon im Iran vom Islam gelöst, etwa mit 14 Jahren. Grund auch dafür sei ihr Bruder gewesen, der Probleme mit der iranischen Regierung gehabt habt und habe fliehen müssen.
41
Sie habe damals in der Vergangenheit notgedrungen das Kopftuch getragen. Es sei aber eine andere Situation als heute gewesen, damals wäre sie allein gewesen, aber jetzt würde sie kein Kopftuch mehr tragen und ihr würden viele folgen. Sie wolle sich nicht mehr dem Regime beugen. Seit sie in Deutschland sei, seit August 2018, habe sie kein Kopftuch mehr getragen. Sie habe sich des Weiteren den Verhältnissen in Deutschland und dem hiesigen Lebensstil angepasst. Es sei ganz anders als im Iran. Sie wolle nicht in den Iran zurück. Sie wolle dort auch kein Kopftuch mehr tragen. Bei einer Rückkehr würde sie sterben. Sie frage sich, wie sie 43 Jahre lang das iranische Regime habe ertragen können.
42
In Deutschland habe sie auch in den letzten vier bis fünf Monaten dreimal in Würzburg an Demonstrationen teilgenommen und einmal letztes Wochenende in München anlässlich der Sicherheitskonferenz und der Anwesenheit des Sohnes des Schahs. Die Demonstration in München habe am G.platz stattgefunden. Bei der Demonstration in München sei es um die Unterstützung des Kronprinzen gegangen und gegen das terroristische Regime im Iran.
43
Sie sei immer noch in sozialen Medien aktiv, etwa auf Twitter. Dort gebe es verschiedene Gruppen. Dort würde über den Terror des iranischen Regimes diskutiert. Verschiedene „Posts“ würden reingesetzt und es würde über ihre Verhältnisse im Iran diskutiert.
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Schon in dem vorhergegangenen ersten Verhandlungstermin am 8. März 2021 beschrieb die Klägerin bildhaft und detailliert und anschaulich die Umstände ihrer Inhaftierung. Ausgangspunkt sei ihrerseits ihr Besuch in Europa gewesen, in Italien und dann schließlich in Deutschland und Griechenland. Sie habe ihre Brüder besucht gehabt. Beim Rückflug in den Iran sei sie von Leuten abgeholt worden. Sie sei am Flughafen angekommen und durch die Passkontrolle. Sie habe ihr Gepäck abgeholt und das Flughafengebäude verlassen wollen, dann seien die Personen erschienen. Sie hätten keine Uniform getragen. Eine sei eine verschleierte Frau gewesen. Man habe ihr die Sachen weggenommen und ihr gesagt: „Du wirst es schon erleben.“. Die Frau habe ihr die Hände gebunden. Sie habe Handschellen angelegt bekommen. Dann habe sie eine Augenbinde angelegt bekommen.
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Eine Straße weiter sei sie in ein Auto gezerrt worden. Auf ihre Fragen habe man nicht geantwortet. Sie sei sehr gestresst gewesen. Man habe sie nicht auf die Toilette gehen lassen. Aufgrund des Stresses und ihrer dringenden Notdurft habe sie die Kontrolle verloren. Die Klägerin sagte laut Dolmetscher wörtlich: „Ich habe in die Hose gemacht.“.
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Die Erwähnung solcher Details und Nebensächlichkeiten sprechen gewichtig dafür, dass die Klägerin ein tatsächlich persönlich erlebtes Ereignis schildert.
47
Die Klägerin fuhr fort, ihr sei ein Telefonat nicht gewährt worden, sie habe Angst gehabt. Die Fahrt habe vier bis sechs Stunden gedauert. Dort im Gebäude habe es immer wieder, wenn man gesprochen habe, ein Echo gegeben. Als sie endlich die Toilette habe aufsuchen dürfen, habe sie ein indirektes Licht wahrnehmen können.
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Auch im Weiteren machte die Klägerin detaillierte Angaben. Man habe ihr – ironisch gemeint – eine „köstliche Mahlzeit“ gegeben und ihr gesagt, wenn sie der Verhörperson die Informationen, gebe die sie wollte, dann würde die Klägerin jeden Tag gut essen bekommen und es würde alles in Ordnung gehen.
49
Sie sei beim Verhör nach Leuten gefragt worden sowie, was sie in Italien gemacht habe und wo die Gegenstände mit CDs und USB-Sticks seien, weil sie diese bei ihr nicht gefunden hätten. Beim Verhör seien es meist Männer gewesen, teilweise sei aber auch eine Frau dabei gewesen. Aufgrund der Augenbinde habe sie sie aber nicht gesehen. Die Verhörsituation sei äußerst unangenehm gewesen. Die Männer hätten sie auch an ihr Bein gefasst. Sie sei nicht vergewaltigt worden. Man habe es nur angedroht, falls sie nicht mit ihnen zusammenarbeite. Man habe sie aber einige Male unmoralisch am Oberschenkel angefasst. Sie habe versucht, auf dem Stuhl sitzend zurückzuweichen. Die Anderen seien zum Verhör in den Raum gekommen. Sie habe praktisch die ganze Zeit auf dem Stuhl gesessen. Sie sei auch schon einmal vom Stuhl gefallen. Dies sei die Art der Folter gewesen.
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Sie habe in dieser Zeit unter diesen Umständen auch nicht schlafen können. Sie habe vor den Männern Angst gehabt. Sie habe wiederholt die Frau angefleht und habe auch geheult. Die Frau habe offensichtlich auch Angst vor den Männern gehabt. Die Klägerin räumt weiter ein, ihr seien auch einmal die Fesseln an den Füßen gelockert worden. Sie habe deshalb auch die Füße schütteln können und genauso den Körper lockern können, als sie gebeten habe, zur Toilette gehen zu dürfen. Deshalb habe sie auch gebeten, zur Toilette gehen zu dürfen.
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Sie sei beschimpft und beleidigt worden. Man habe ihr mit dem Schlagstock auf den Kopf geschlagen und sie sie kurz bewusstlos geworden. Man habe versucht, ein Geständnis aus ihr herauszupressen, was sie im Ausland gemacht habe und mit wem sie Kontakt gehabt habe. Auch hier gab die Klägerin konkret und detailliert an, dass sie rechts auf dem Hinterkopf geschlagen worden sei. Sie habe ihr Kopftuch getragen und eine Spange gehabt. Sie habe nicht geblutet, sie habe Schmerzen gehabt und sei bewusstlos geworden. Es sei ein Gefühl, wie mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen zu sein. Sie sei benebelt gewesen. Auch bei dieser Schilderung ging die Klägerin ins Detail, ohne aber aufzubauschen oder zu übertreiben. Sie führte weiter aus, dass sie nur einmal mit dem Schlagstock geschlagen worden sei und ansonsten immer mit den Händen und den Füßen taktiert worden sei. Sie sei mehrfach auf die Oberarme und auf den Oberkörper geschlagen worden. Die Tritte habe sie auf die Füße bekommen. Die Tritte seien nicht so stark gewesen. Die Schläge auf dem Oberkörper seien stark gewesen. Sie habe starke Schmerzen gehabt. Sie habe ihre Arme nicht mehr bewegen können. Es habe auch Blutergüsse gegeben. Zu Hause habe sie die blauen Flecken festgestellt.
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Die Umstände seien so schlecht gewesen, dass sie gar nicht gemerkt habe, ob Tag oder Nacht gewesen sei. Nachdem sie zu Hause gewesen sei, habe sie versucht abzuschätzen, wie lange es gewesen sei. Ihr sei es natürlich wie ein Jahr vorgekommen.
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Die Klägerin legte weiter offen ihr Gefühlsleben und die psychische Ausnahmesituation dar. Am meisten habe sie Angst gehabt, von den Männern vergewaltigt zu werden. Die Männer hätten einen gewissen Sarkasmus gehabt und entsprechende Witze gemacht. Sie habe lieber sterben wollen. Sie habe Angst gehabt, dass sie an irgendwelche Organisationen verkauft würde. Die Männer hätten immer zu ihr gesagt: „Du wirst es sehen.“. Sie sei immer wieder nach Italien und nach ihrem Bruder gefragt worden. Sie habe die Hoffnung schon aufgegeben gehabt und sich auf den Tod vorbereitet.
54
Man habe sie gewaltig psychisch unter Druck gesetzt. Man habe ihr mehrfach angedroht, ihrer Familie und ihren Geschwistern etwas anzutun. Man habe sie psychisch fertigmachen wollen. Man habe ihr gesagt: „Woher willst du wissen, dass nicht deine Mutter im Nebenzimmer sitzt?“. Sie leide bis heute immer noch unter diesem Vorfall und der Inhaftierung und nehme auch Medikamente.
55
Weiter gab die Klägerin an, was ebenfalls für ein wirkliches Erlebnis spricht, dass sie während der Haft ein Kanalisationsgeruch wahrgenommen habe.
56
Ein weiteres Indiz für die Tatsachenbasiertheit der geschilderten Ereignisse und dem Vorliegen eines wirklichen Erlebnisses sind die attestierten gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin infolge des erlittenen Schicksals, unter anderem über eine psychiatrische Behandlung vom 16. Mai 2021 bis 30. Oktober 2022 (online) wegen stressbedingter Angststörungen sowie medikamentöse Behandlung wegen Depression und Angstsymptomatik. Die Klägerin erklärte, sie habe auch in Deutschland sie noch Panik vor der Polizei.
57
Gefahrerhöhend für die Klägerin sind ihre exilpolitischen Aktivitäten wie die Teilnahme an Demonstrationen in Deutschland, die sich gegen das islamische Regime und Unterdrückung von Frauen richten sowie ihre Aktivitäten in den sozialen Medien. Sie sei in den sozialen Medien über Twitter unterwegs und dort gebe es auch regimekritische Inhalte.
58
Nicht zuletzt die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierte Oppositionelle bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Das gilt erst recht für Personen, die – wie die Klägerin – schon vor der Ausreise im Fokus des iranischen Staates standen bzw. die sich während ihres Auslandsaufenthalts regimekritisch geäußert haben.
59
Das Gericht merkt ausdrücklich an, dass es infolge der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes ernsthafte Zweifel an der Authentizität der vorgelegten Vorladung hat. Gleichwohl ist dieser Umstand mit Blick auf Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU nicht geeignet, die Vermutung, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran erneut ein ernsthafter Schaden droht, zu entkräften. Gesamtbetrachtet fehlt es aufgrund des glaubhaften detaillierten Vorbringens der Klägerin zur ihrem Verfolgungsschicksal an derartigen stichhaltigen Gründen.
60
Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass die Klägerin schon im Iran aus politischen Gründen in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien erlitten hat, weil sie in den Augen der iranischen Behörden als Regimegegner – gerade auch mit Blick auf die Aktivitäten der Brüder – eingestuft wurde und wird. Insoweit ist anzumerken, dass nach der Auskunftslage nicht darauf abzustellen ist, dass die Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein mögliches Verfolgungsinteresse wegen des Hineinwirkens des Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist bei der Klägerin aufgrund ihrer Angaben zu bejahen. Der Vorwurf der Sicherheitskräfte bezog sich gerade auf die vermeintliche Verbindung zur Mujahedin-e Khalg (MEK), denen Terroranschläge im Iran zugeschrieben werden und die eine der größten iranischen Exiloppositionsbewegungen ist. Klares Ziel ist die Destabilisierung des jetzigen politischen Systems im Iran und ein Systemwandel durch das iranische Volk. Mitgliedern oder vermeintlichen Anhänger der MEK droht im Iran erhebliche Strafverfolgung wegen Terrorbeteiligung bis hin zur Todesstrafe (so Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 19.9.2022, S. 3).
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Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 9). Solche Aktivitäten wurden und werden der Klägerin gerade vorgeworfen. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht der Klägerin sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund ihres aktuellen Aufenthalts in Deutschland der Vorwurf, eine Regimegegnerin zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen, zumal sie sich mit den aktuellen Protesten im Iran solidarisiert und diesbezüglich sowohl bei Demonstrationen als auch im Internet exilpolitisch engagiert hat. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer erneuten Rückkehr in den Iran.
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Demnach begründet schon allein das Vorfluchtschicksal der Klägerin unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Situation im Iran ausreichend die Gefahr einer Verfolgung mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden politischen Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran. Hinzu kommen schon die erwähnten regimefeindlichen Aktivitäten.
63
Abgesehen davon und für sich selbsttragend begründet sich eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr zudem aufgrund der islamkritischen Haltung der Klägerin, versinnbildlicht durch die Ablehnung der iranischen Bekleidungsvorschriften, insbesondere des Kopftuchs bzw. Verschleierungszwangs, und aufgrund der Verwestlichung der Klägerin infolge ihres langjährigen Aufenthalts in Deutschland.
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Denn wegen einer identitätsprägenden Verwestlichung oder aus religiösen Gründen ist eine Rückkehr für eine Iranerin in ihr Heimatland unzumutbar, wenn die begründete Annahme getroffen werden kann, dass sie tatsächlich etwas aus einem inneren Zwang heraus gegen die Bekleidungsvorschriften verstoßen müsste und ihr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen drohen würden (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30737 – juris Rn. 50 mit Bezug auf OVG LSA, U.v. 2.3.2022 – 4 LB 785/20 OVG – juris Rn. 55; VG Trier, U.v. 21.1.2022 – 11 K 3538/20.TR, 8036505 – juris S. 7 f.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2021 – 10 A 5156/18 – juris Rn. 34; U.v. 7.7.2021 – 10 A 2109/19 – juris Rn. 43; VG Gießen, U.v. 4.6.2021 – 5 K 513/20.GI.A, 7758789- juris S. 9 f.). Davon ist bei der Klägerin auszugehen.
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Denn die Klägerin hat in den beiden Terminen zur mündlichen Verhandlung die Fragen zur ihrer religiösen Identität beantwortet und sich dabei offen und authentisch verhalten. Sie hat ihren Abfall vom Islam glaubhaft dargelegt.
66
Insbesondere, wenn sie sich als Nicht-Muslima zu erkennen geben, laufen Iranerinnen Gefahr, strafrechtlich belangt zu werden. Es ist verboten zu konvertieren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 15). Dabei genügt auch für ein Todesurteil allein der bloße Abfall vom Islam unabhängig vom Wechsel in eine andere Religion. Infolgedessen ist auch dann wegen Apostasie mit Repressionen und strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen, wenn keine Konversion zu einer anderen Religion erfolgt, sondern die Betreffende nur Atheistin ist. Hinzu kommt, dass die politische Situation im Iran dazu führt, dass westlich geprägte Frauen, zu einer ihn in diesem Sinne unzumutbaren Anpassung an religiöse Vorschriften gezwungen werden. Die im Iran geltenden Verhaltens- und Bekleidungsvorschriften bewirken bei Frauen deutlich stärkere Einschränkungen als für Männer und tragen zu einer niedrigen sozialen Stellung und schlechteren Entfaltungsmöglichkeiten bei. Wenn Frauen – wie die Klägerin – sich dem nicht unterwerfen und deshalb bestraft werden, erhält das diese Bedingungen aufrecht. Derartige Strafen haben politischen Charakter. Sie gelten zwar für alle Frauen. Strafen für die Durchbrechung den islamischen Vorschriften treffen jedoch nur die Frauen, die sich nicht daran halten. Tun sie das aus politischer Überzeugung oder wird ihnen deshalb eine solche Überzeugung unterstellt, liegt darin eine Verfolgung im Sinnen von § 3 Abs. 1 AsylG. Frauen, die in Folge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt sind, dass sie bei einer Rückkehr in eine islamische Republik entweder nicht mehr in der Lage wären, ihren Lebensstil im dort erwarteten Verhaltensweisen und Tradition anzupassen, oder denen dies in Folge des erlangten Grade ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, können eine soziale Gruppe darstellen. Abzustellen ist auf die Umstände des Einzelfalles (siehe nur VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 30 ff.; m.w.N.).
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Hintergrund ist die rechtliche und tatsächliche Situation von Frauen im Iran. Nach der Erkenntnislage (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 12 f.) sind Frauen im Iran erheblichen vielfältigen Diskriminierungen unterworfen. Frauen werden im Iran wegen ihres Geschlechts in wesentliche Lebensbereiche im Vergleich zu Männern rechtlich und tatsächlich systematisch und kategorisch benachteiligt. Die Frauen sind den Männern untergeordnet. Da insoweit alle einfachgesetzlichen Normen mit der Scharia vereinbar sein müssen und im Iran einer traditionellen Rechtsauslegung der Scharia erfolgt, kommt es vor allem in den Bereichen zum Ehe- und Scheidungsrecht, dem Sorgerecht und in Erbschaftsangelegenheiten zu erheblichen Benachteiligungen für Frauen. Es kommt zu häuslicher Gewalt, zu Zwangsverheiratung und Kinderehen. Frauen werden durch die islamische Rechts- und Werteordnung diskriminiert. Es gibt Diskriminierungen im Ehe- und Scheidungsrecht, im Sorgerecht und in Erbschaftsangelegenheiten, weiter Diskriminierungen im Selbstbestimmungsrecht, im Vertragsrecht, beim Zugang zum Arbeitsmarkt, beim Zugang zu politischen und öffentlichen Ämtern, im Strafrecht, auch im Arbeitsbereich in öffentlichen Institutionen und im gesellschaftlichen Leben. Die Bekleidungsvorschriften, insbesondere der Kopftuchzwang haben Symbolkraft. Es geht dabei auch vor allem um die Frage, ob sich die Frauen der Herrschaft der islamischen Regierung und der nationalen Sicherheit unterwerfen oder eine moderne Auslegung des Islams begehren und Reformen einfordern. Alleinstehende bzw. geschiedene Frauen sind Benachteiligungen durch kulturelle und traditionelle Gewohnheiten ausgesetzt. Inflation und Frauenfeindlichkeit treffe sie härter. Unabhängige, ledige Frauen haben aufgrund der wirtschaftlichen sozialen Unsicherheit häufig Schwierigkeiten Mietverträge zu erhalten und bekommen stattdessen in einigen Fällen bei der Suche nach Mietwohnungen unmoralische, sexuelle Angebote. Im Strafrecht zeigt sich die Benachteiligung von Frauen besonders bei Zeugenaussagen. Opfer sexueller Gewalt könne nicht auf den Schutz von Behörden vertrauen (vgl. ausführlich Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport Iran – Länderreport 56, Rechtliche Situation der Frauen, Stand: Januar 2023; vgl. auch VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832- juris S. 9 ff.; siehe auch VG Würzburg, U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30758 – juris Rn. 26.ff.; jeweils m.w.N.).
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Aufgrund der dargestellten Erkenntnislage ist im Falle einer weiblichen Schutzsuchenden ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben, wenn der geschlechtsspezifische Aspekt für sie bedeutsam für ihre Identität oder das Gewissen ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf ihn zu verzichten. Es darf hier – ausnahmsweise und einzelfallbezogen – nicht zumutbar erscheinen, sich im Iran den dortigen rechtlichen und gesellschaftlichen iranisch-islamischen und Frauen im Vergleich zu Männern benachteiligenden Regeln zu unterwerfen. Es muss für die betroffene Frau unzumutbar sein, sich künftig regelkonform zu verhalten. Dies gilt gerade dann, wenn eine weiblich Schutzsuchende in Folge des längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität aufgrund der hiesigen Wertevorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Frauen und Männern geprägt worden ist, dass sie entweder nicht mehr in der Lage wäre oder es ihr nicht zugemutet werden kann, bei einer Rückkehr in den Iran ihren Lebensstil den dort erwartenden Verhaltensweisen und Tradition anzupassen (VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832 – juris S. 12 ff.).
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Auch Art. 28 Abs. 1 AsylG ist kein rechtliches Hindernis. Denn die Klägerin hat überzeugend ausgeführt, dass sie die Verpflichtung zur Verschleierung bereits im Iran als Zwang empfunden hat. Ihre Haltung ist als Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehende Überzeugung, selbst wenn sich die Klägerin erst im Ausland entsprechend ausleben konnte. Überdies verletzt eine Verfolgung, die an einem während des Asylverfahrens westlich geprägtes Selbstbild als Frau anknüpft, die Menschenwürde und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen in besonderer Weise (siehe zum Ganzen VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 32 ff.; U.v. 21.12.2022 – 1 K 1535/20 – juris Rn. 25. ff.; U.v. 30.11.2022 – 1 K 1527/20, 7867276 – juris S. 6 ff.; vgl. auch VG Düsseldorf, U.v.6.2.2023 – 2 K 4255/20.A – juris).
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Das Gericht hat nach Würdigung aller Gesamtumstände unter Beachtung des schriftlichen Vorbringens und aufgrund des persönlichen Eindruck von der Klägerin in den zwei beiden mündlichen Verhandlungsterminen keine Zweifel, dass es für sie einen sehr hohen Stellenwert hat, ihr Leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu führen, ohne den im Iran üblichen Benachteiligung ausgeliefert zu sein. Die Klägerin hat die Fragen des Gerichts klar und ausführlich bis ins Detail beantwortet und sich authentisch verhalten. Sie ist seit fast fünf Jahren in Deutschland. Sie hat auch mit Bezug auf ihren Lebenslauf glaubhaft dargelegt, dass sie sich dem Islam nicht mehr zugehörig fühlt und nicht mehr bereit ist, den im Iran geltenden Bekleidungsvorschriften für Frauen zu unterwerfen, insbesondere ihre Haare zu verschleiern. Die Klägerin hat in Deutschland eine Ausbildung als Krankenschwester aufgenommen und sich als durchaus selbständig und eigenständige Person gezeigt und seit ihrem Aufenthalt in Deutschland im Jahr 2018 sichtbar ihren Bekleidungsstil dem westlicher Frauen angepasst. Sie hat des Weiteren aufgrund ihres Abfalls vom islamischen Glauben überzeugend dargetan, dass sie sich nicht vorstellen könnte, im Falle einer Rückkehr im Iran wieder ein Kopftuch zu tragen und sich erneut den im Iran herrschenden vom Islam geprägten Regeln zu unterwerfen Aufgrund dessen ist nicht anzunehmen, dass sie sich im Fall einer Rückkehr in den Iran ohne umfangreiches Verleugnen ihrer Persönlichkeit den dort herrschenden Regeln und Gepflogenheiten hinsichtlich der benachteiligenden Behandlung von Frauen im Vergleich zu Männern noch in zumutbarer Weise widerspruchslos unterordnen kann. Das Gericht ist überzeugt, dass ihre Persönlichkeit im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in einem Maße nachhaltig vom westlichen Lebensstil geprägt ist, dass es ihr nicht mehr zugemutet werden kann, sich erneut den vom iranischen Regime für Frauen statuierten Verhaltensvorschriften zu unterwerfen. Diese Prägung ist Ausdruck ihrer heutigen Persönlichkeit und nicht asyltaktisch motiviert. In dem Zusammenhang kommt es nicht entscheidungserheblich darauf an, aus welchen Gründen die Klägerin den Iran verlassen hat, weil sie nunmehr aufgrund ihrer aktuellen Einstellung und ihrer Erscheinung im Iran absehbar einer realen Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre. Bereits bei der Ankunft im Iran erwüchsen daraus ersichtlich Probleme. Als Iranerin, die mehrere Jahre im westlichen Ausland gelebt hat, wäre die Klägerin für die iranischen Sicherheitskräfte absehbar verdächtig, sich nicht an die vom iranischen Regime islamischen Verhaltensregeln zu halten. Würde sie sich schon bei der Einreise nicht an die dort geltenden Bekleidungsvorschriften halten, unterläge sie bei der Rückkehr schon unmittelbar am Flughafen Repressionen. Wenn die Klägerin sich bei einer zwangsweisen Rückführung aus Angst unmittelbar drohender Verfolgung gleichwohl den Bekleidungsvorschriften unterwerfen würde, könnte ihr das nicht angelastet werden und stünde einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegen (VG Hamburg, U.v. 8.11.2022 – 10 A 2821/20, 7472832 – juris; siehe auch VG Düsseldorf, U.v. 6.2.2023 – 2 K 4255/20.A – juris).
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Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste die Klägerin unter Gesamtwürdigung aller Umstände erneut mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es schon in der Vergangenheit im Iran zu Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin gekommen ist und dass seitens des iranischen Staates nicht nur weiterhin ein Verfolgungsinteresse gegen die Klägerin besteht, sondern dass sich dieses aufgrund der oben dargestellten Ereignisse im Iran im letzten halben Jahr als auch aufgrund der sich verfestigten islamkritischen Haltung der Klägerin und ihrer Prägung vom westlichen Lebensstil verbunden mit der Ablehnung des Verschleierungszwangs sogar noch verstärkt hat. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen weiter erst recht eine regime- und islamfeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, die Klägerin werde sich weiter regimekritisch verhalten sowie als „Ungläubige“ äußern, sodass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen zwangsläufig hieran anknüpfen würden.
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Nach alledem ist der Klägerin unter Aufhebung der sie betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG „oder“ und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
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Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.