Titel:
Arzneimitteleigenschaft von 5-HTP + Safran
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4
VwGO § 80 Abs. 5
AMG § 69 Abs. 1
AMG § 2 Abs. 1 Nr. 2a
VO – EU – 2015/2283 Art. 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Entscheidung, ob ein Produkt unter die Definition eines Arzneimittels fällt, ist von Fall zu Fall zu treffen. Hierbei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken seiner Verwendung. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Entscheidung über die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel sind bei der Gesamtbetrachtung auch die möglichen Gesundheitsrisiken bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung zu berücksichtigen. Liegen die Auswirkungen eines Produktes auf die physiologischen Funktionen im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimitteleigenschaft, kommt den möglichen Gesundheitsrisiken besonderes Gewicht für die Beurteilung zu. Eine Einstufung als Arzneimittel ist hier nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der Gesundheit erforderlich ist. Nach dem unionsrechtlichen Vorsorgegrundsatz ist es gerechtfertigt, Schutzmaßnahmen auch gegen potentielle Gesundheitsgefahren zu ergreifen. Vernünftige Zweifel an der Unbedenklichkeit eines Erzeugnisses rechtfertigen daher die Einstufung als Arzneimittel. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein auf dem Produkt angebrachter Warnhinweis ersetzt nicht die erforderliche Zulassung nach § 21 Abs. 1 AMG. (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sofortverfahren, Anordnung des Sofortvollzugs, Inverkehrbringungsverbot, 5-HTP + Safran, Arzneimitteleigenschaft offengelassen, Interessenabwägung, Neuartigkeit, Novel Food, Lebensmitteleigenschaft, Novel-Food Katalog, Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel, Funktionsarzneimittel
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6686
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin, die unter anderem das Produkt „5-HTP … … …“ als Nahrungsergänzungsmittel vertreibt, begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners (vertreten durch die Regierung von O.) vom 31. Januar 2023, mit dem ihr das Inverkehrbringen des genannten Produkts untersagt wurde, der Rückruf der noch im Handel befindlichen Produkte angeordnet wurde und ein Zwangsgeld angedroht wurde.
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1. Durch das Landratsamt W., Verbraucherschutz – Veterinärwesen und Lebensmittelüberwachung fand eine Probennahme des Produkts „5-HTP … … …“ statt. Nach dem Befund/Gutachten des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) vom 2. November 2022 zu dem Produkt „5-HTP … … …“ enthält das Präparat laut Deklaration 202 mg Griffonia-Extrakt (entsprechend 200 mg 5-HTP) und 15 mg Safran-Extrakt pro Kapsel. Als Verzehrempfehlung sei eine Kapsel/Tag (200 mg 5-HTP) angegeben. 5-HTP werde für eine kommerzielle Verwendung hauptsächlich aus Griffonia simplicifolia isoliert, in der es in größeren Mengen vorkomme. Bei der afrikanischen Schwarzbohne handele es sich nicht um ein üblicherweise verzehrtes Lebensmittel. 5-HTP werde nach oraler Aufnahme zu 47% bis 84% in den systemischen Kreislauf aufgenommen und dort nahezu vollständig zu Serotonin umgesetzt. Tatsächlich gebe es eine Vielzahl an wissenschaftlichen Studien zur pharmakologischen Wirkung von 5-HTP am Menschen. Da Serotonin maßgeblich an der Ausprägung der Stimmungslage beteiligt sei, liege ein Einsatz des Precursors 5-HTP bei Depressionen nahe. Der Behandlungserfolg bei Depressionen sei bisher nicht abschließend geklärt. Nach einem Review, in dem 15 klinische Studien zur Wirksamkeit von 5-HTP bei Depressionen ausgewertet worden seien, könne 5-HTP für einige signifikante Effekte im Zusammenhang mit Serotoninabhängigen Vorgängen verantwortlich gemacht werden. Weiter zeige die Auswertung der 15 Studien bei 56% der Studienteilnehmer eine signifikante Verbesserung der Symptome bei Depressionen. Die Dosierungen lägen dabei zwischen 50 mg und 800 mg pro Tag. Auch wenn die Studienlage zum Einsatz von 5-HTP bei Depressionen nicht ganz eindeutig sei, so sei dennoch die pharmakologische Wirkung des Stoffes, nämlich eine Beeinflussung des Serotoninspiegels definitiv nachgewiesen. Die Erhöhung des Blutspiegels eines wichtigen Neurotransmitters und die daraus folgende erhebliche Beeinflussung der physiologischen Funktionen durch die Aufnahme von 5-HTP sei als pharmakologische Wirkung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG anzusehen. Ein Überschuss des Neurotransmitters Serotonin an Synapsen des zentralen und peripheren Nervensystems (Serotonin-Syndrom) könne zu diversen Nebenwirkungen wie z. B. Erbrechen, Durchfall, Bluthochdruck, Tachykardie, Fieber, Schwindel, Verwirrung, Krämpfe, Rhabdomyolyse oder Hyperthermie führen. Ein Serotonin-Syndrom sei potenziell lebensbedrohlich. Das Serotonin-Syndrom werde auch oft durch eine Kombination von Substanzen ausgelöst, die die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt erhöhen würden. Zusätzlich zählten z. B. auch bestimmte Antibiotika, stimmungsaufhellende Präparate mit Johanniskraut, Erkältungs- und Hustenmittel mit Dextromethorphan oder Chlorphenamin sowie Tryptophanhaltige Produkte zu den serotonergen Substanzen, die in Kombination mit 5-HTP ein Serotonin-Syndrom auslösen könnten. Aufgrund der wissenschaftlich belegbaren pharmakologischen Wirkung von 5-HTP (Erhöhung des Serotoninspiegels) in einer der Verzehrempfehlung entsprechenden Dosis (hier ca. 200 mg) werde das in Rede stehende Produkt als Funktionsarzneimittel gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG eingestuft. Da es in für den Endverbraucher abgabefertiger Form in den Verkehr gebracht werde, sei es als Fertigarzneimittel nach § 21 AMG zulassungspflichtig. Wegen der Gefahr eines Serotonin-Syndroms werde das Präparat zudem als bedenklich nach § 5 AMG angesehen, da bei gleichzeitiger Einnahme bestimmter Antidepressiva gravierende Nebenwirkungen zu erwarten seien.
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Das Landratsamt W. übergab den Vorgang sodann an die Regierung von O. Mit Schreiben vom 10. November 2022 hat die Regierung von O. die Antragstellerin zu einer beabsichtigten Untersagungsverfügung und der Anordnung eines Rückrufs des Produkts „5-HTP … … …“ angehört.
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Mit Schreiben vom 23. November 2022 nahm der Bevollmächtigte der Antragstellerin zu den beabsichtigten Maßnahmen Stellung, die die Regierung von O. dem LGL zur fachlichen Stellungnahme weitergeleitet hat. Das LGL nahm dazu mit Schreiben vom 19. Dezember 2022 Stellung.
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Mit Bescheid vom 31. Januar 2023 untersagte die Regierung von O. der Antragstellerin mit sofortiger Wirkung, das Arzneimittel „5-HTP … … …“ in den Verkehr zu bringen, indem sie dieses an Dritte abgibt (Nr. 1). Weiter wurde die Antragstellerin verpflichtet, das sich derzeit noch im Handel befindliche nicht zugelassene Fertigarzneimittel „5-HTP … … …“ unter Beachtung der nachstehend genannten Anforderungen zurückzurufen (Nr. 2). Für die Umsetzung der Nr. 2 dieses Bescheides wurden folgende Nebenbestimmungen getroffen (Nr. 3): Die Rücknahme der Packungen des Fertigarzneimittels „5-HTP … … …“ habe unter entsprechender Kenntlichmachung, Aussonderung und Dokumentation zu erfolgen (Nr. 3.1). Der Rückruf noch im Handel befindlicher Produkte habe durch die Firma … GmbH mittels Kundenanschreiben anhand der Vertriebslisten zu erfolgen. Ein entsprechender Entwurf des Anschreibens nebst Vertriebslisten sei vor Bekanntgabe der Regierung von O. zur Abstimmung vorzulegen (Nr. 3.2). Weiterhin seien der Regierung von O. der Nachweis der ordnungsgemäßen Bekanntgabe des Rückrufes und nach vollständig abgeschlossenem Rückruf folgende weitere Unterlagen vorzulegen: Eine genaue Aufstellung, welche Mengen „5-HTP … … …“ insgesamt ausgeliefert und aufgrund des Rückrufes von welchem Kunden an Sie zurückgeschickt worden seien (Nr. 3.3). Die sofortige Vollziehbarkeit der Nr. 1 des Bescheides wurde angeordnet (Nr. 4). Bei Zuwiderhandlung gegen das in Nr. 1 des Bescheides angeordnete Vertriebsverbot werde ein Zwangsgeld in Höhe von 3.000,00 Euro fällig (Nr. 5). Die Antragstellerin wurde zur Tragung der Kosten des Verfahrens verpflichtet (Nr. 6). Für den Bescheid wurde eine Gebühr von 1.000,00 Euro festgesetzt (Nr. 7). In den Gründen des Bescheids ist im Wesentlichen ausgeführt: Rechtsgrundlage für die Untersagung des Inverkehrbringens des Arzneimittels „5-HTP … … …“ sei § 69 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG. Bei dem verfahrensgegenständlichen Produkt handle es sich ausweislich des Gutachtens des LGL vom 2. November 2022 um ein Funktionsarzneimittel im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 2a AMG. Seien sowohl die Bedingungen der Definitionen des Lebensmittels als auch der des Arzneimittels erfüllt, so gälten entsprechende Produkte nach § 2 Abs. 3a AMG ausdrücklich als Arzneimittel. Die pharmakologische Wirkung sei definitiv nicht umstritten. Nach der neuesten Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. November 2021 (Az. 20 CS 21.2521) bestehe kein über die allgemeine pharmakologische Wirksamkeit hinausgehendes Erfordernis einer therapeutischen Wirksamkeit, um ein Erzeugnis als Funktionsarzneimittel einzuordnen. Weiterhin seien zusätzlich auch mögliche Gesundheitsrisiken als eigenständiger Faktor zu berücksichtigen. Den möglichen Gesundheitsrisiken komme besonderes Gewicht dann zu, wenn die Auswirkungen eines Erzeugnisses auf die physiologischen Funktionen im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungsmittel- und Arzneimitteleigenschaft lägen (EuGH, U.v. 9.6.2005 – C 211/03). Da das streitgegenständliche Produkt die Gefahr der Erzeugung eines Serotoninsyndroms in sich berge, sei das Gesundheitsrisiko hier zusätzlich in die Entscheidung, ob es sich um ein Funktionsarzneimittel handele, mit einzubeziehen. Inwiefern Griffonia-Extrakt in anderen EU-Ländern in Nahrungsergänzungsmitteln enthalten sein dürfe, sei für die Einstufung von Produkten im Geltungsbereich des AMG nicht maßgeblich. Es bleibe den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union freigestellt, zum Schutz ihrer Bürger strengere Regelungen anzuwenden. Richtig sei, dass die Samen und andere Pflanzenteile von Griffonia simplicifolia in der Positivliste Italiens als zulässige Bestandteile von Nahrungsergänzungsmitteln aufgeführt seien. Ausdrücklich nicht aufgeführt seien aber (und um solche handele es sich hier) Extrakte aus den Samen von Griffonia simplicifolia. 5-HTP werde dagegen im Novel-Food Katalog der Europäischen Gemeinschaft als neuartiges Lebensmittel aufgeführt, und zwar ausdrücklich unabhängig davon, ob es sich um synthetisch hergestelltes 5-HTP handele, oder ob es aus Griffonia Samen isoliert worden sei. In der aktuellen Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel sei 5-HTP dagegen noch nicht aufgeführt. Dadurch verbiete sich bereits lebensmittelrechtlich der Einsatz von 5-HTPreichen Extrakten aus Griffoniasamen in Nahrungsergänzungsmitteln. Die Nennung von Griffoniasamen in der zitierten Liste könne schon aus diesem Grund kein Argument gegen eine Einstufung von Produkten mit Griffonia-Samenextrakten als Arzneimittel sein. Eine Einstufung als nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel durch die EU könne auch nicht dahingehend interpretiert werden, dass es sich bei dem entsprechenden Stoff zwangsläufig um ein Lebensmittel handeln müsse. Das Produkt „5-HTP … … …“ erfülle die Voraussetzungen eines Fertigarzneimittels. Zur Durchsetzung des Normzwecks nach § 1 AMG sei hier ein behördliches Einschreiten dringend geboten und erforderlich. Gem. § 95 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 5 AMG stelle das Inverkehrbringen eines bedenklichen Arzneimittels sowie gem. § 96 Nr. 5 AMG i.V.m. § 21 Abs. 1 AMG das Inverkehrbringen eines zulassungsbedürftigen Arzneimittels ohne Zulassung eine Straftat dar. Die Verhinderung einer Straftat wirke ebenfalls ermessensbestimmend. Die Untersagung beeinträchtige die Antragstellerin auch nicht unverhältnismäßig in ihrer Berufs- und Gewerbefreiheit. Es könne nicht hingenommen werden, dass die Antragstellerin durch Umgehung des Zulassungsverfahrens für die vertriebenen Arzneimittel bessergestellt sei als pharmazeutische Unternehmen, die sich gesetzeskonform verhielten. Sie habe die Möglichkeit, bei der zuständigen Behörde (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) eine arzneimittelrechtliche Zulassung für „5 HTP + Safran für Menschen“ zu beantragen. Ihr werde folglich nur der wirtschaftliche Vorteil genommen, der in der Ausnutzung des regelmäßig weniger kostenintensiven Inverkehrbringens als Nahrungsergänzungsmittel liege. Die sofortige Vollziehung des Verbotes des Inverkehrbringens des gegenständlichen Produkts sei anzuordnen gewesen, da das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Anordnung das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung einer möglichen Klage überwiege. Die wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin müssten gegenüber den Interessen der Allgemeinheit insbesondere an einer körperlichen Unversehrtheit zurückstehen. Bei dem Produkt handele es sich um ein als Nahrungsergänzungsmittel in Verkehr gebrachtes nicht zugelassenes Arzneimittel, bei dem ausweislich des Gutachtens des LGL insbesondere ein bedenkliches Arzneimittel nach § 5 AMG vorliege. Es entspreche der Zielsetzung des Arzneimittelgesetzes, dass das generell mit dem Inverkehrbringen eines nicht zugelassenen Arzneimittels verbundene gesundheitliche Risiko bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Eingriffsmaßnahme unterbunden werden dürfe, ohne das Ergebnis eines meist langwierigen Rechtsmittelverfahrens abzuwarten. Dies werde im konkreten Einzelfall dadurch verstärkt, dass das Produkt eine nicht unerhebliche Menge des Wirkstoffs 5-Hydroxytryptophan enthalte. Da auf dem Präparat gerade keine Nebenwirkungen angeführt würden, sei der Verbraucher in der Regel nicht hinreichend gegenüber den potenziellen Gefahren – gerade im Hinblick auf Wechselwirkungen mit anderen Präparaten – sensibilisiert. Für das Produkt bestehe damit nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht, dass es bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen habe, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgingen. Würde die sofortige Vollziehung nicht angeordnet, würde eines der maßgeblichen Ziele des AMG von der Antragstellerin über einen größeren Zeitraum vereitelt und eine unbestimmte Vielzahl von Personen in absolut geschützten Rechtsgütern gefährdet. Die Anordnung des Sofortvollzuges sei daher zum Schutz der Gesundheit und des Lebens der Verbraucher als höherrangige Rechtsgüter geboten gewesen. Das Inverkehrbringen des nicht zugelassenen Arzneimittels sei vor diesem Hintergrund damit ab sofort zu untersagen. Rechtsgrundlage für die Zwangsgeldandrohung sei Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Art. 31 und Art. 36 VwZVG. Die Kostenentscheidung beruhe auf Art. 1, 2, 5 und 6 Abs. 1 KG in der derzeit gültigen Fassung i.V.m. Tarifnummer 7.IX.8 Tarifstelle 3 des Kostenverzeichnisses.
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2. Am 20. Februar 2023 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 23.244 Klage gegen den Bescheid vom 31. Januar 2023 erheben und im vorliegenden Sofortverfahren beantragen,
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nr. 1 des vorbezeichneten Bescheids nach dessen Nr. 4 wird aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Nr. 1 des Bescheids wird wiederhergestellt.
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Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Anordnungsbescheid sei rechtswidrig. Das Anhörungsschreiben der Regierung von O. sei ermessensfehlerhaft. Es werde schlicht das Ergebnis einer rechtlichen Prüfung eines Apothekers ohne eigene rechtliche Überprüfung und ohne abschließender Sachverhaltsaufklärung als gegeben betrachtet. Dem streitgegenständlichen Anordnungsbescheid könne zwar entnommen werden, dass die Regierung von O. nun die Behauptungen des LGL – erstmals – selbst juristisch überprüft und den Bescheid entsprechend argumentativ begründet habe, hierbei setze sich allerdings das ermessensfehlerhafte Verhalten fort. Das Produkt werde auch von sehr großen Anbietern mit langer Firmenhistorie vertrieben. Bei dem vorliegenden Produkt handele es sich um ein zulassungsfreies Nahrungsergänzungsmittel. Mit dem vorliegend zugrundeliegenden Gutachten des LGL werde die Eigenschaft des beanstandenden Produktes als Funktionsarzneimittel wissenschaftlich nicht nachgewiesen. Es fehle an dem konkreten Nachweis einer Wirkung des in Rede stehenden Produktes in seiner konkreten Zusammensetzung, wobei sogar die Wirkung von isoliertem 5-HTP wissenschaftlich umstritten sei. Mit einer Leitentscheidung, dem berühmten „Knoblauch-Urteil“ vom 15. November 2007 (C-319/05), habe der EuGH deutlich gemacht, dass entscheidend für die Annahme einer pharmakologischen Wirkung eines Arzneimittels sei, dass bei der Wirkung eine Erheblichkeitsschwelle überschritten sein müsse. Der EuGH habe die Anwendbarkeit der Erheblichkeitsschwelle gerade nicht auf Abgrenzungsfälle zu Lebensmitteln beschränkt, sondern in aller Deutlichkeit zur Einstufung als Funktionsarzneimittel das Erfordernis der positiven Feststellung der erheblichen Einwirkung auf die Körperfunktionen festgehalten, was umso mehr für Erzeugnisse gelte, die zusätzlich Lebensmitteleigenschaft besäßen. Das LGL verkenne in seinem Gutachten bereits, dass der Beschuldigte mit dem Produkt nicht 5-HTP-Isolat vertrieben habe, sondern einen Griffonia-Extrakt, der seinerseits 5-HTP als Bestandteil enthalte. Darüber hinaus enthalte das Produkt die weitere Zutat 15mg Safran-Extrakt pro Kapsel. Für diese Zutatenzusammensetzung gebe es keine wissenschaftlichen Untersuchungen, geschweige denn einen Nachweis einer pharmakologischen und einer therapeutischen Wirkung des Produktes. Vor allem da ein Wirksamkeitsnachweis der Kombination ohne Erkenntnis der Wechselwirkungen der kombinierten Stoffe nicht möglich sei, könne auf die Untersuchung solcher Wechselwirkungen nicht verzichtet werden. Es bestünden Anhaltspunkte dafür, dass die behauptete Wirkung durch Safran herabgesetzt werden könnte. Bei vorliegendem Produkt würden die Stoffe 5-HTP-Extrakt und Safran zugeführt, wobei die Vorteile dieser Stoffe kombiniert würden. So gehe es bei dem Produkt um die Vorteile von 5-HTP geistige Entspannung und Schlaf sowie Kontrolle des Hungergefühls und die Vorteile von Safran wie z.B. eine antioxidative, antientzündliche, organprotektive, antidepressive und angstlösende Wirkung. Insbesondere habe Safran eine antagonistische Wirkung am Serotonin-Typ 2-Rezeptor. Der Antragsgegner habe den erforderlichen Nachweis, dass es sich vorliegend um ein Funktionsarzneimittel handele – wobei auf die konkrete Zusammensetzung und Dosierung des Präparates und nicht auf Zusammensetzungen und andere Dosierungen anderer Produkte abgestellt werden müsse – nicht geführt. Auf die zudem erforderliche therapeutische Wirksamkeit komme es damit nicht an. Die beanstandende Behörde habe eine solche therapeutische Wirkung ebenfalls positiv nachzuweisen, wenn sie der Meinung sei, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt um ein Funktionsarzneimittel handele. Es komme hinzu, dass die Wirkung von isoliertem 5-HTP sogar generell wissenschaftlich umstritten sei. Bemerkenswert sei, dass zu der gegenläufigen Publikationsangabe des LGL … festgestellt werde, dass sich diese auf junge Probanden „mit einem erhöhten Level von romantischem Stress“ beziehe. Es solle sich um Probanden handeln, die unter einem „romantischen kürzlichen Beziehungsende leiden“ würden, was nicht näher konkretisiert werde und für sich unverständlich sei. Der Untersuchung werde in der beigefügten Begutachtung in aller Deutlichkeit ihre wissenschaftliche Validität auch deshalb abgesprochen, weil es sich um eine Open Label-Untersuchung mit fehlender Placebokontrolle handele. Auch der weiteren durch das LGL thematisierten Publikation … werde vom Gutachter mit nachvollziehbarer Begründung die wissenschaftliche Validität abgesprochen. Auch dort seien gerade einmal 25 Probanden untersucht worden, bei denen es sich allerdings um kranke Patienten mit Parkinson handle. Das hier streitige Präparat richte sich aber nicht an kranke Patienten mit Parkinson. Nicht zuletzt komme hinzu, dass die Studienautoren in ihrer Publikation selbst mitteilen würden, dass die Untersuchung für sich noch keinerlei Nachweise mit sich bringe, da deren quantitativer und zeitlicher Umfang hierfür ungenügend sei. Im Ergebnis spreche auch die vorzunehmende Abwägung gegen das angeordnete Vertriebsverbot. Als Rechtsgrundlage werde § 69 Abs. 1 Nr. 1 AMG angeführt. Die Behörde stelle bei der Gesamtabwägung auf eine Bedenklichkeit des Arzneimittels nach § 5 AMG ab. Eine angebliche Bedenklichkeit des Arzneimittels sei bei der Abwägung im Rahmen des § 69 Abs. 1 Nr. 1 AMG fehl am Platz. Angesichts der aufgezeigten Faktenlage könne obendrein nicht der begründete Verdacht begründet werden, dass das Arzneimittel schädliche Wirkungen habe, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgingen. Darüber hinaus sei die Heranziehung des Themas der möglichen Verhinderung einer Straftat als Abwägungsmaterial grob ermessensfehlerhaft. Schließlich werde zu der Nebenbestimmung, dass der Rückruftext genehmigt werden müsste, ausgeführt, dass eine solche Pflicht zur Vorabvorlage und Absegnung schon nicht mit dem Zweck des Rückrufs in Einklang zu bringen sei. Es gehe schlicht darum, das Produkt aus den Vertriebskanälen zu bekommen und nicht darum, wie die Klägerin hierbei mit den Abnehmern kommuniziere. Im Übrigen werde auf die Stellungnahme vom 24. (richtig: 23.) November 2022 verwiesen.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 24. Februar 2023 ließ die Antragstellerin ergänzend zur alternativen Zuführbarkeit von 5-HTP durch bestimmte Mengen an traditionellen Speisepilzen ausführen.
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Mit Schriftsatz vom 6. März 2023 wurde ergänzend angemerkt, dass exakt derselbe Fall vor Kurzem bereits mit – anschließend auszugsweise zusammengefassten – Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 23. Februar 2021 entschieden und im Eilverfahren die aufschiebende Wirkung wiederhergestellt worden sei. Die Antragstellerin biete dem Antragsgegner zur einvernehmlichen Beilegung der Angelegenheit an, den im Beschluss des Verwaltungsgerichts München festgehaltenen (erweiterten) Warnhinweis auf den Produkten anzubringen. Es sei Aufgabe des Antragsgegners darzulegen und zu beweisen, weshalb bei dem hier streitigen Produkt der Serotoninspiegel höher erhöht werde, als dies durch die Aufnahme von Lebensmitteln der Fall sein könne und ab welcher Höhe wissenschaftlich belegt sicher von einer nennenswerten pharmakologischen Wirkung auszugehen ist. Auf die weiteren ergänzenden Ausführungen zur Sach- und Rechtslage wird Bezug genommen.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 8. März 2023 ließ die Antragstellerin ergänzend ausführen, dass eine Vielzahl von ihren Mitbewerbern ebenfalls 5-HTPhaltige Produkte vertreibe. Mithin sei davon auszugehen, dass es der Auffassung der Lebensmittelindustrie entspreche, dass 5-HTPhaltige Produkte nicht als Funktionsarzneimittel bewertet würden.
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Mit Schriftsatz des neu bestellten Prozessbevollmächtigten vom 15. März 2023 ließ die Antragstellerin vortragen, die Sofortvollzugsanordnung sei mangels ordnungsgemäßer Begründung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO auch schon formell rechtswidrig, da der Antragsgegner gerade nicht auf die im Einzelfall vorliegende Dosis abgestellt habe. Der Antragsgegner berufe sich auf eine – nicht rechtskräftige – Entscheidung des VG Bayreuth vom 25. Januar 2023, die in keiner Weise überzeuge. Weder der Antragsgegner noch das Gericht hätten alle Merkmale des Erzeugnisses tatsächlich geprüft. Sie würden sich nicht mit den Modalitäten des Gebrauchs, dem Umfang seiner Verbreitung und der Bekanntheit bei den Verbrauchern befassen. Eine pharmakologische Wirkung als Funktionsarzneimittel sei nicht nachgewiesen. Selbst wenn entgegen der Rechtsprechung des EuGH keine therapeutische Wirkung vorausgesetzt werde, müsse aber jedenfalls eine positive Beeinflussung der Gesundheit nachweisbar sein. Ein solcher Nachweis sei hier nicht erbracht. Eine bloße Erhöhung des Serotoninspiegels sei nicht gleichzusetzen mit einer positiven Beeinflussung der Gesundheit. Eine Auseinandersetzung damit, wie hoch die Erhöhung des Serotoninspiegels durch die Einnahme des Produkts ausfalle, finde nicht statt. Soweit das Gericht ferner davon ausgehe, dass potentielle Gesundheitsgefahren für das Produkt nach den Ausführungen des LGL vorlägen, heiße es hierzu bei dem Gericht „sehr hohe Gaben von 5-HTP“ oder eine zusätzliche Einnahme von Arzneimitteln, die den Serotoninspiegel beeinflussen, könnten ein sog. Serotonin-Syndrom auslösen. Hierzu sei festzustellen, dass nicht dargelegt sei, dass die mit dem Produkt zugeführten Dosierungen tatsächlich ein Serotonin-Syndrom auslösen könnten, so auch aktuell das Verwaltungsgericht München vom 23. Februar 2023 zu 5-HTP. Nicht nachvollziehbar sei ebenfalls die Ansicht des Verwaltungsgerichts Bayreuth, die Anordnung sei verhältnismäßig. Es hätte völlig ausgereicht, der Antragstellerin aufzuerlegen, dass das Produkt zukünftig nur noch mit einem entsprechenden Warnhinweis in Verkehr gebracht werden dürfe. Zumindest müsse der Ausgang des Verfahrens als offen im Hauptsacheverfahren angesehen werden. Es fehle an einem Nachweis, dass das Produkt in seiner streitgegenständlichen Dosis ein Wechselwirkungsrisiko aufweise. Die zitierten Studien bezögen sich auf deutlich höhere Dosierungen. Nach der Rechtsprechung sei auf den bestimmungsgemäßen Gebrauch abzustellen. Das Bayerische Landesamt räume in seiner Stellungnahme vom 27. Februar 2023 nunmehr selbst ein, dass es gerade über keine abschließenden wissenschaftlich validen Erkenntnisse verfüge, wie das Produkt in der Kombination „5-HTP + Safran“ tatsächlich auf den Menschen wirke. Der europäische Gesetzgeber habe L-Tryptophan – ein Wirkstoff, der ein Serotonin-Syndrom auslösen könne – in der VO (EU) Nr. 609/2013 ausdrücklich für die Verwendung in Lebensmitteln zugelassen gemäß Art. 15 i. V. m. dem Anhang, wonach L-Tryptophan ohne Höchstmengenbegrenzung für die Verwendung in Lebensmitteln für eine besondere Ernährung zugelassen worden sei. Der Umstand, dass mit L-Tryptophan der Serotoninspiegel erhöht werden könne und damit nach Lesart des Antragsgegners auch das Risiko eines Serotonin-Syndroms begründet wäre, führe nach dem ausdrücklichen Willen des europäischen Gesetzgebers somit gerade nicht zu einer Einstufung als Funktionsarzneimittel. Nach der italienischen Verordnung über die Verwendung von anderen Stoffen als Vitamine und Mineralstoffen in Nahrungsergänzungsmitteln sei ebenfalls der Stoff L-Tryptophan ausdrücklich für die Verwendung in Lebensmitteln in einer Positivliste vorgesehen. Auch hier erfolge keine Beschränkung der zulässigen Höchstdosierung. Zusammenfassend sei somit festzustellen, dass der europäische und nationale Gesetzgeber sowie der europäische Mitgliedsstaat Italien und das deutsche BVL von einer diätetischen bzw. ernährungsphysiologischen Wirkung von L-Tryptophan ausgehen würden.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 22. März 2023 ließ die Antragstellerin ihr bisheriges Vorbringen vertiefen und ergänzend ausführen, dass mittlerweile eine entsprechende Umdeklarierung der Produktaufmachung vorliege, so dass hier ebenfalls erklärt werde, dass ein Vertrieb des Produktes nur noch mit entsprechendem Warnhinweis erfolge. Wenn der Antragsgegner nun der Auffassung sei, dass ein solcher Warnhinweis für die Abgrenzung zum Arzneimittel rechtlich irrelevant sei, sei dies schlicht falsch und widerspreche der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welches es für zwingend erforderlich halte zu prüfen, ob die Einstufung als Arzneimittel auch deshalb vermieden werden könne, wenn Warnhinweise bezüglich bestimmter Verbrauchergruppen als milderes Mittel gegenüber einem Zulassungsverfahren verwendet werden könnten. Wie das VG München zu Recht festgestellt habe, sei bei Vorhandensein eines solchen Warnhinweises von einem überwiegenden Suspensivinteresse auszugehen. Zudem sei den Ausführungen des VG München zu folgen, dass sich aus den vom Antragsgegner zitierten Publikationen gerade keine Gesundheitsschädlichkeit im Hinblick auf die hier streitige Tagesdosis von 5-HTP ableiten lasse.
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Mit Schriftsatz vom 29. März 2023 ließ die Antragstellerin ausführen, dass im Hinblick auf den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2023 – 20 CS 23.219 –, in dem die Beschwerde gegen den Beschluss des VG Bayreuth vom 25. Januar 2023 – B 7 S 23.5 – zurückgewiesen worden sei, der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO aufrecht erhalten bleibe. Dies ergebe sich daraus, dass bereits die Verfahren unterschiedliche Sachverhalte beträfen. In dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2023 – 20 CS 23.219 – befasse sich das Gericht in den Entscheidungsgründen lediglich mit der Untersagung des Inverkehrbringens. In dem hier vorliegenden Bescheid gehe es aber allein um die Anordnung eines Rückrufs. Nach der einschlägigen Rechtsprechung setze jedoch die Anordnung eines Rückrufs voraus, dass das Produkt tatsächlich in seiner spezifischen Zusammensetzung und Dosierung eine Gesundheitsschädlichkeit aufweise. Weder der Umstand, dass es sich bei dem Produkt um ein angeblich zulassungspflichtiges Arzneimittel handeln solle, noch um ein angeblich neuartiges Lebensmittel, sei damit gleichzusetzen. Die Rechtsprechung lasse bloße Spekulationen hierfür nicht ausreichen. Weder das Verwaltungsgericht München, das Verwaltungsgericht Bayreuth, noch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hätten jedoch für die konkrete Dosierung des Produktes eine Gesundheitsschädlichkeit feststellen können. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof verweise jedoch bezüglich des Inverkehrbringens darauf, dass bei der Abwägung der betroffenen schutzwürdigen Interessen sich das öffentliche Sofortvollzugsinteresse gegen das Interesse der Antragstellerin an einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durchsetze. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass bei 5-HTP für den Fall, dass eine Arzneimitteleigenschaft zu verneinen wäre, es sich „aller Voraussicht“ nach um Novel Food handeln würde, das einer Zulassung bedürfe. Hierzu sei festzustellen, dass der Antragsgegner selbst nicht davon ausgegangen sei, dass es sich bei dem Produkt überhaupt um ein Lebensmittel handele, geschweige denn um ein neuartiges Lebensmittel. Entsprechender Vortrag durch den Antragsgegner sei nicht einmal gehalten. Der vom Verwaltungsgerichshof zitierte Novel Food Catalogue sei zudem allgemein anerkannt ohnehin rechtlich unverbindlich. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber in § 39 Abs. 7 LFGB eine klare Entscheidung getroffen, dass gerade auch im Fall von angeblich neuartigen Lebensmitteln von dem Grundsatz einer aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels auszugehen ist. Selbst wenn sich somit bestätigen sollte, dass es sich bei dem Produkt um ein neuartiges Lebensmittel ohne Novel Food-Genehmigung handeln würde, greife dann dennoch nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers das Grundprinzip der aufschiebenden Wirkung gemäß § 39 Abs. 7 LFGB ein. Selbst wenn man somit auf der Grundlage der Abwägung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs davon ausgehe, dass ein weiteres Inverkehrbringen bei Abwägung der Interessen nicht hinzunehmen sei, sei jedoch festzustellen, dass sich der hier streitgegenständliche Bescheid nicht auf das Inverkehrbringen, sondern vielmehr nur auf den Rückruf der Produkte aus dem Handel beziehe. Naturgemäß müsse zwischen bloßem Verbot des Inverkehrbringens und dem Rückruf der Ware aus dem Handel unterschieden werden und sei für die Verhältnismäßigkeit eines angeordneten Rückrufs deutlich mehr erforderlich als die bloße Feststellung, dass ein Produkt – angeblich – nicht verkehrsfähig sein solle. Für das behauptete Vorliegen eines neuartigen Lebensmittels sei der Antragsgegner schon nicht die zuständige Behörde und der Bescheid basiere auf den falschen Rechtsgrundlagen. Das Verwaltungsgericht Bayreuth habe die zugrundeliegenden Studien offensichtlich nicht gelesen, das Verwaltungsgericht München habe im Einzelfall dargelegt, weshalb die Studien die vom Antragsgegner behaupteten Effekte und Risiken gerade nicht bestätigten, sondern im Gegenteil widerlegen würden und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe lediglich mit einer „möglichen“ Einstufung als neuartiges Lebensmittel argumentiert, wofür der Antragsgegner weder zuständig sei, noch in dem Bescheid die zugrundeliegenden Rechtsgrundlagen überhaupt heranziehe. Das selbst unterstellte – mögliche – Vorliegen eines neuartigen Lebensmittels vermöge jedoch allenfalls ein Untersagen des Inverkehrbringens zu rechtefertigen, nicht aber die hier ausgesprochene Anordnung des Rückrufs aus dem Handel. Dies gelte erst recht vor dem Hintergrund, da der Antragsgegner den Rückruf ja nicht etwa mit der Einstufung als Novel Food begründet habe, sondern mit dem Vorliegen eines angeblich bedenklichen Arzneimittels.
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Die Regierung von O. beantragte für den Antragsgegner mit Schriftsatz vom 7. März 2023, den Antrag abzulehnen.
15
Zur Begründung der Antragserwiderung wird unter Bezugnahme auf die Begründung des Bescheids sowie das Gutachten des LGL vom 2. November 2022 und die ergänzende Stellungnahme des LGL vom 27. Februar 2023 im Wesentlichen ausgeführt: Die Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges der Nr. 1 des Bescheides vom 31. Januar 2023 (Nr. 4) entspreche den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO sowie den Vorgaben der Rechtsprechung. Es sei insbesondere einzelfallbezogen hinreichend dargestellt worden, dass von dem hier in Rede stehenden Präparat, welches ein arzneimittelrechtlich nicht zugelassenes, bedenkliches Funktionsarzneimittel darstelle, im Hinblick auf Wechselwirkungen mit anderen Präparaten die Gefahr eines Serotonin-Syndroms und damit ein nicht unerhebliches gesundheitliche Risiko ausgehe, aufgrund dessen vorliegend ein über das reine öffentliche Erlassinteresse an der arzneimittelrechtlichen Ordnungsverfügung hinausgehendes öffentlichen Vollzugsinteresse bestehe, welchem in der Abwägung mit dem partikulären Suspensivinteresse der Antragstellerin der Vorrang gebühre. Die Sofortvollzugsanordnung werde eben nicht allein damit begründet, dass es sich bei dem in Rede stehenden Präparat um ein i.S.d. § 21 AMG nicht zugelassenes Arzneimittel handele, was vorliegend den Erlass der eigentlichen Maßnahme, die Untersagung des Inverkehrbringens gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AMG, zunächst als solche rechtfertige. Es seien vielmehr die von dem in Rede stehenden Präparat ausgehenden Gefahren für Leben und Gesundheit hinreichend konkretisiert und plausibilisiert worden. Der angegriffene Bescheid erweise sich als rechtmäßig. Eine Anhörung zum beabsichtigten Erlass eines Verwaltungsaktes habe auch die Ankündigung zu enthalten, dass der Erlass des konkreten Verwaltungsakts, zu dem die Anhörung erfolge, auch seitens der Behörde konkret in Aussicht stehe. Vor diesem Hintergrund sei es nicht zu beanstanden, wenn die Behörde im Anhörungsschreiben die aus ihrer Sicht notwendigen Maßnahmen durch den Betroffenen benenne und diesem zunächst Gelegenheit gebe, die Maßnahmen zur Vermeidung einer Verwaltungsmaßnahme freiwillig vorzunehmen. Anders als die Antragstellerseite meine, handle es sich vorliegend gerade nicht um ein ambivalentes Produkt im Grenzbereich zwischen Arznei- und Lebensmittel. Bezüglich einer möglichen Herabsetzung der pharmakologischen Wirkung durch das im Produkt enthaltene Safran komme das LGL nach eingehendem Studium der wissenschaftlichen Literatur zu 5-HTP, Serotonin, synthetischen Antidepressiva, Safran selbst sowie dessen Inhaltsstoffen und Serotoninrezeptoren zu der Annahme, dass eine negative Beeinflussung der antidepressiven Wirkung von 5-HTP durch Safran-Extrakt fachlich als unwahrscheinlich einzustufen sei. Im Gegenteil sei eher eine Unterstützung der pharmakologischen Wirkung von 5-HTP zu erwarten als eine Reduktion. Hinsichtlich der Beanstandung der bei Bescheidserlass angenommenen Abwägung als ermessensfehlerhaft sei es richtig, dass das Bestehen einer Gesundheitsgefahr kein Tatbestandsmerkmal des § 69 Abs. 1 Nr. 1 AMG sei. Dass bereits das Fehlen einer (erforderlichen) Zulassung allein aufsichtsbehördliche Anordnungen auf dieser Grundlage rechtfertigen und auch erforderlich machen, führe jedoch gerade nicht dazu, dass bei Hinzutreten einer Gesundheitsgefahr durch ein bedenkliches Arzneimittel, dem es an einer erforderlichen Zulassung mangele, Anordnungen auf dieser Rechtsgrundlage nicht ergehen könnten. Vielmehr sei es so, dass in diesen Fällen aufsichtsbehördliche Anordnungen zusätzlich auch auf § 69 Abs. 1 Nr. 4 AMG gestützt werden könnten. Im Rahmen der Schädlichkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 AMG seien die Wirkungen sonstiger und in diesem Sinne unerwünschter Nebenwirkungen oder unerwünschter Wechselwirkungen mit anderen Mitteln zu prüfen. Mithin sei es insoweit gerade nicht ausschließlich von Bedeutung, ob das Arzneimittel schon nur für sich isoliert betrachtet schädlich sein kann. Ausreichend seien vielmehr auch unerwünschte Wechselwirkungen bei Kombination mit anderen Präparaten. Ausweislich der Feststellungen des LGL könne es infolge von Wechselwirkungen zu einem Serotonin-Syndrom kommen, zu dem das Produkt keinen Warnhinweis enthalte. Diese Anordnung bezwecke die effektive Umsetzung des Produktrückrufes und diene damit letzten Endes der Gefahrenabwehr. Eine vorherige Abstimmung des Rückruftextes mit der Aufsichtsbehörde solle gewährleisten, dass die zu informierenden Kunden von vornherein klar, präzise und ordnungsgemäß über den Rückruf und die zu veranlassenden Schritte in Kenntnis gesetzt würden und vermeide etwaige erforderlich werdende weitere Anschreiben in gleicher Sache. Im Übrigen handele es sich entgegen der Auffassung der Antragstellerseite bei dieser Nebenbestimmung schon ihrem Wortlaut nach nicht um ein Genehmigungserfordernis des Rückruftextes, sondern um ein schlichtes Abstimmungsgebot.
16
Mit weiterem Schriftsatz vom 15. März 2023 führte die Regierung von O. für den Antragsgegner unter Bezugnahme auf eine ergänzende Stellungnahme des LGL vom 13. März 2023 aus, dem Einigungsvorschlag könne nicht beigetreten werden. Stehe die Einordnung eines konkreten Produkts in Streit, dann könne dem von einem möglicherweise als Arzneimittel einzustufenden Produkt ausgehenden Gesundheitsrisiko nicht durch Anbringung eines Warnhinweises auf lebensmittelrechtlicher Grundlage begegnet werden. Es bestünden nach Auffassung des LGL unter genauer Betrachtung der zitierten Quellen und der einschlägigen Primärliteratur keinerlei schlüssige Zweifel daran, dass eine kombinierte Einnahme von 5-HTP-Präparaten wie dem Vorliegenden gemeinsam mit Antidepressiva gesundheitlich bedenklich sei. Die gezielte Zufuhr eines Stoffes, um eine aus der Wissenschaft bekannte Reaktion des Organismus auf die zugeführte Substanz zu erreichen, sei nicht gleichzusetzen mit der physiologischen Reaktion des Organismus auf tryptophanhaltige zugeführte Lebensmittel. Es könne daher im vorliegenden Fall, sofern man dies bzgl. der sog. Erheblichkeitsschwelle vorliegend überhaupt als entscheidungserheblich ansehen wollte, wenn überhaupt nur auf einen Vergleich mit solchen Lebensmitteln ankommen, die natürlicherweise den Wirkstoff 5-HTP enthielten. Derzeit würden 5-HTP-Produkte massiv angeboten und beworben. Verwendungszweck sei einzig die Behandlung von Depressionen und verwandten Zuständen. Ein Ernährungsnutzen sei nicht ersichtlich und werde auch nirgendwo erwähnt.
17
Mit Schriftsatz vom 22. März 2023 verwies die Regierung von O. für den Antragsgegner auf die Ausführungen des LGL in dessen, anlässlich eines Parallelverfahrens eingeholten, Stellungnahme vom 8. März 2023, insbesondere zur Auseinandersetzung mit der Dosierung des streitigen Produkts, zum Nachweis hinsichtlich einer (positiven) Beeinflussung der menschlichen Gesundheit und zum Gutachten des Sachverständigen … Mit weiterem Schriftsatz vom 24. März 2023 übermittelte der Antragsgegner den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2023 – 20 CS 23.219, mit dem die Beschwerde gegen den Beschluss des VG Bayreuth vom 25. Januar 2023 – B 7 S 23.5 – zu einem vergleichbaren 5-HTPhaltigen Produkt zurückgewiesen worden sei.
18
3. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Hauptsacheverfahrens W 8 K 23.244) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
19
Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
20
Der Antrag ist zulässig.
21
Die anwaltlich vertretene Antragstellerin beantragt ausdrücklich die Aufhebung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids nach dessen Nr. 4 und die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen Nr. 1 des Bescheids. Die Nr. 1 des Bescheids vom 31. Januar 2023 beinhaltet bezüglich des Produkts „5-HTP … … …“ ein Inverkehrbringungsverbot.
22
Soweit mit Schriftsatz der Antragstellerseite vom 29. März 2023 vorgetragen wird, in dem hier vorliegenden Bescheid gehe es aber allein um die Anordnung eines Rückrufs, ist darauf hinzuweisen, dass der Rückruf in Nr. 2 des Bescheids angeordnet wird. Ein Antrag im einstweiligen Rechtsschutz wurde insoweit nicht gestellt und wäre insofern bereits mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil insoweit die sofortige Vollziehung nicht angeordnet wurde (gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) und die auf Aufhebung des Bescheids vom 31. Januar 2023 insgesamt gerichtete Klage (W 8 K 23.244) schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung hat (§ 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht geht deshalb bei verständiger Würdigung (vgl. §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) nicht davon aus, dass mit dem Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 29. März 2023 eine Änderung des Antrags auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage dahingehend, dass er sich nur bzw. auch auf den in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids angeordneten Rückruf bezieht, erfolgen sollte. Denn in diesem Fall wäre der Antrag schon unzulässig.
23
Vorliegend ist ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Alt. 2 VwGO statthaft. Die von der Antragstellerin am 20. Februar 2023 im Verfahren W 8 K 23.244 erhobene Klage gegen den Anordnungsbescheid vom 31. Januar 2023 hat in Bezug auf dessen Nr. 1 aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO keine aufschiebende Wirkung.
24
Der Antrag ist unbegründet, da die Erfolgsaussichten der im Verfahren W 8 K 23.244 erhobenen Klage offen sind und die danach erforderliche Interessenabwägung zu Lasten der Antragstellerin ausfällt, da das öffentliche Interesse am Vollzug des Bescheides ihr privates Interesse an der Aussetzung der Vollziehung überwiegt.
25
Nach § 80 Abs. 5 Alt. 2 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Falle des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen. Das Gericht prüft, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind und trifft im Übrigen eine eigene Abwägungsentscheidung. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung der Antragstellerin auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
26
Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Dabei sind an den Inhalt der Begründung keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Erforderlich ist gleichwohl eine auf den konkreten Einzelfall abstellende, nicht lediglich formelhafte Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit (Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 85 m.w.N.).
27
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist im vorliegenden Fall im ausreichenden Maße schriftlich begründet worden. Maßgebend ist, dass der Antragsgegner mit seiner Begründung in hinreichender Weise zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Anordnung des Sofortvollzugs wegen der besonderen Situation im Einzelfall für unverzichtbar hält. Ausreichend ist jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die Behörde aus Gründen des zu entscheidenden Einzelfalles eine sofortige Vollziehung ausnahmsweise für geboten hält. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die zur Begründung der Vollziehungsanordnung angeführten Gründe den Sofortvollzug tatsächlich rechtfertigen und ob die für die sofortige Vollziehung angeführten Gründe erschöpfend und zutreffend dargelegt sind. Je nach Fallgestaltung können die Gründe für die sofortige Vollziehung auch ganz oder teilweise mit den Gründen für den Erlass des Verwaltungsaktes identisch sein und sich hierdurch das Begründungserfordernis reduzieren. Aus der arzneimittelrechtlichen Befugnisnorm des § 69 AMG ergibt sich jedoch gerade nicht für jede Fallkonstellation, dass den betroffenen und geschützten Rechtsgütern ein so hoher Rang zukäme, dass das besondere Sofortvollzugsstets mit dem Erlassinteresse identisch wäre. Der Gesetzgeber des Arzneimittelgesetzes hat davon abgesehen, die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Verwaltungsakte auf der Grundlage von § 69 AMG nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO allgemein auszuschließen, nutzt diese Möglichkeit aber seit der Änderung des § 69 AMG im Jahr 2012 selektiv für bestimmte Anordnungen (vgl. Art. 1 Nr. 56 Buchst. a Doppelbuchst. cc des „Zweiten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ vom 19. Oktober 2012, BGBl. 2012 I S. 2192). Hintergrund der Einführung eines gesetzlichen Sofortvollzugs war für den Gesetzgeber ausdrücklich die – offenbar nur – bei bestimmten Tatbeständen generell angenommene „Gefährdung für die Gesundheit“ (vgl. BT-Drucks 17/9341 S. 65). Für Anordnungen der Landesbehörde in Bezug auf Arzneimittel, die nicht im Zusammenhang mit Maßnahmen nach den §§ 28, 30, 31 Abs. 4 Satz 2 oder nach § 32 Abs. 5 AMG erlassen wurden, haben Rechtsbehelfe gegen behördliche Anordnungen damit regelhaft aufschiebende Wirkung (vgl. BayVGH, B.v. 4.10.2021 – 20 CS 20.341 – juris Rn. 6 – 8). Aus dieser Grundentscheidung des Gesetzgebers folgt aus der Sicht des Gerichts, dass es in den Fällen einer behördlichen Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO einer konkret-individuellen Darlegung eines besonderen, über das allgemeine Erlassinteresse hinausgehenden Vollzugsinteresses bedarf.
28
Der Antragsgegner hat im streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt, dass eines der maßgeblichen Ziele des AMG über einen größeren Zeitraum vereitelt und eine unbestimmte Vielzahl von Personen in absolut geschützten Rechtsgütern gefährdet würde, würde die sofortige Vollziehung nicht angeordnet. Die Anordnung des Sofortvollzuges sei daher zum Schutz der Gesundheit und des Lebens der Verbraucher als höherrangige Rechtsgüter geboten gewesen. Das Produkt enthalte eine nicht unerhebliche Menge des Wirkstoffs 5-Hydroxytryptophan. Ein Überschuss des Neurotransmitters Serotonin an Synapsen des zentralen und peripheren Nervensystems (Serotonin-Syndrom) könne zu diversen Nebenwirkungen führen. Ein Serotonin-Syndrom sei potenziell lebensbedrohlich und werde oft auch durch eine Kombination von Substanzen ausgelöst, die die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt erhöhen. Da auf dem Präparat gerade keine Nebenwirkungen angeführt würden, sei der Verbraucher in der Regel nicht hinreichend gegenüber den potenziellen Gefahren – gerade im Hinblick auf Wechselwirkungen mit anderen Präparaten – sensibilisiert. Für das Produkt bestehe damit nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der begründete Verdacht, dass es bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen habe, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgingen. Der Antragsgegner hat entgegen der Ansicht der Antragstellerin hierdurch ausreichend auf den Einzelfall Bezug genommen und den Sofortvollzug nicht lediglich als automatische Folge einer fehlenden Zulassung des Produkts begründet. Weiterhin hat er dem auch die Interessen der Antragstellerin gegenübergestellt und sie nicht als gleichwertig oder gar überwiegend bewertet, so dass sie im Falle einer mit aufschiebender Wirkung versehener Anfechtungsklage ein Zuwarten bis zum zeitlich noch nicht absehbaren Eintritt der Unanfechtbarkeit rechtfertigen könnten. Daraus wird deutlich, dass sich der Antragsgegner die besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit des Sofortvollzugs bewusstgemacht hat. Damit ist der Forderung, die besonderen auf den konkreten Fall bezogenen Gründe für die Anordnung des Sofortvollzugs anzugeben, Rechnung getragen. Die weitere Frage, ob die vom Antragsgegner angeführte Begründung die Anordnung des Sofortvollzugs in der Sache trägt, ist eine Frage der inhaltlichen Richtigkeit und damit des materiellen Rechts (ebenso in einem vergleichbaren Fall BayVHG, B.v. 23.3.2023 – 20 CS 23.219; vgl. im Übrigen BayVGH, B.v. 25.9.2020 – 23 CS 20.1928, 23 CS 20.1931, 23 CS 20.1935 – jeweils juris; OVG SH, B.v. 5.6.2019 – 4 MB 42/19 – juris; NdsOVG, B.v. 29.11.2017 – 11 ME 268/17 – RdL 2018, 80; OVG LSA, B.v. 27.10.2017 – 3 M 240/17 – LKV 2018, 80).
29
2. Eine summarische Prüfung, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO geboten, aber auch ausreichend ist, ergibt, dass die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt als offen anzusehen sind.
30
Rechtsgrundlage des arzneimittelrechtlichen Inverkehrbringungsverbots in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG. Danach können die zuständigen Behörden zur Beseitigung festgestellter Verstöße und zur Verhütung künftiger Verstöße insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln untersagen, wenn die erforderliche Zulassung für das Arzneimittel nicht vorliegt.
31
Soweit die Antragstellerseite einen Anhörungsmangel geltend macht, ist anzumerken, dass eine Anhörung gemäß Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG noch bis zum Schluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens und damit zum Abschluss des gegenwärtig noch anhängigen Hauptsacheverfahrens nachgeholt werden könnte (vgl. BayVGH, B.v. 6.7.2020 – 23 CS 20.383 – juris). Abgesehen davon hat die Antragstellerseite schon im Behördenverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Der Antragsgegner hat sich sowohl im Verwaltungs- als auch im gerichtlichen Sofortverfahren mit dem Vorbringen der Antragstellerin auseinandergesetzt. Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Anhörung sind nicht ersichtlich. Dass die Behörde im Rahmen der Anhörung auch die beabsichtigte Entscheidung mitteilt führt nicht zur Fehlerhaftigkeit der Anhörung, sondern ist vielfach sogar zweckmäßig (Ramsauer in Kopp/Ramsauer, VwVfG, 23. Auflage 2022, § 28 Rn. 15).
32
Maßgeblich ist vorliegend, ob es sich bei dem Produkt „5-HTP … … …“ um ein Funktionsarzneimittel im Sinn des § 2 Abs. 1 Nr. 2a AMG und entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht um ein Nahrungsergänzungsmittel handelt. Diese Frage kann jedoch erst im Hauptsacheverfahren ist abschließend geklärt werden.
33
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 AMG sind Arzneimittel im Sinne dieses Gesetzes Arzneimittel, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind. Gem. § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a AMG sind dies u.a. Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die im oder am menschlichen Körper angewendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.
34
Die Entscheidung, ob ein Produkt unter diese Definition fällt, ist nach der Rechtsprechung von Fall zu Fall zu treffen. Hierbei sind alle Merkmale des Erzeugnisses zu berücksichtigen (vgl. § 2 Abs. 3a AMG, Art. 2 Abs. 2 der RL 2001/83/EG), insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken seiner Verwendung (EuGH, U.v. 3.10.2013 – C-109/12 – juris Rn. 42; U.v. 15.1.2009 – C-140/07 – juris Rn. 31 ff.; BVerwG, U.v. 20.11.2014 – 3 C 27/13 – juris Rn. 24 je m.w.N. zur ständigen Rechtsprechung). Kann ein Erzeugnis bei bestimmungsgemäßer Anwendung die physiologischen Funktionen nicht nachweisbar und in nennenswerter Weise durch eine pharmakologische (oder immunologische oder metabolische) Wirkung wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen, kommt eine Einstufung als Funktionsarzneimittel nicht in Betracht (BVerwG, U.v. 26.5.2009 – 3 C 5.09 – Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 13 ff. m.w.N.). Die pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Funktionsarzneimittels fällt (BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19/18 – juris Rn. 19; U.v. 17.8.2017 – 3 C 18/15 – juris Rn. 12, je m.w.N.).
35
Für die Annahme einer positiven Beeinflussung der physiologischen Funktionen genügt, dass die betreffenden Stoffe eine positive Wirkung für das Funktionieren des menschlichen Organismus und folglich für die menschliche Gesundheit haben, und zwar auch ohne dass eine Krankheit vorliegt (EuGH, U.v. 10.7.2014 – C-358/13 – juris; BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19/18 – juris Rn. 23). Nicht erfasst vom Begriff des Funktionsarzneimittels sind dagegen Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein (EuGH, Ue.v. 10.7.2014 – C-358/13 und C-181/14 – juris Rn. 38; BVerwG, U.v. 20.11.2014 – 3 C 25/13 – juris Rn. 19).
36
Zudem können nicht alle Erzeugnisse, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, als Funktionsarzneimittel im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der RL 2001/83/EG eingestuft werden. Da die physiologische Wirkung nicht für Arzneimittel spezifisch ist, sondern auch zu den in Art. 2 Buchst. a der RL 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Juni 2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften über Nahrungsergänzungsmittel (ABl. L 183 v. 12.7.2002, S. 51) verwendeten Kriterien für die Definition des Nahrungsergänzungsmittels gehört, scheidet die Annahme eines Funktionsarzneimittels aus, wenn die Auswirkungen des Erzeugnisses auf die physiologischen Funktionen nicht über die Wirkungen hinausgehen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben kann (EuGH, U.v. 15.11.2007 – C-319/05 – juris Rn. 68; BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19/18 – juris Rn. 20). Vielmehr ist eine nennenswerte Einwirkung auf den Stoffwechsel und eine wirkliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des Körpers, folglich das Überschreiten einer Erheblichkeitsschwelle erforderlich (BVerwG, U.v. 16.5.2007 – 3 C 34/06 – juris Rn. 29; EuGH, U.v. 15.1.2009 – C-140/07 – juris Rn. 40).
37
Für die erhebliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers und das Vorliegen erheblicher pharmakologischer Wirkungen ist ein Beleg durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse erforderlich (BVerwG, U.v. 25.7.2007 – 3 C 23/06 – juris Rn. 22).
38
Bei der Entscheidung über die Einstufung eines Produkts als Arzneimittel sind bei der Gesamtbetrachtung auch die möglichen Gesundheitsrisiken bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung zu berücksichtigen. Liegen die Auswirkungen eines Produktes auf die physiologischen Funktionen im Grenzbereich zwischen Nahrungsergänzungs- und Arzneimitteleigenschaft, kommt den möglichen Gesundheitsrisiken besonderes Gewicht für die Beurteilung zu. Eine Einstufung als Arzneimittel ist hier nur gerechtfertigt, wenn dies zum Schutz der Gesundheit erforderlich ist. Nach dem unionsrechtlichen Vorsorgegrundsatz ist es gerechtfertigt, Schutzmaßnahmen auch gegen potentielle Gesundheitsgefahren zu ergreifen. Vernünftige Zweifel an der Unbedenklichkeit eines Erzeugnisses rechtfertigen daher die Einstufung als Arzneimittel (BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19/18 – juris Rn. 31 ff. m.w.N.).
39
Des Weiteren ist anzumerken, dass die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Arzneimittels beim Antragsgegner liegt (BVerwG, U.v. 26.5.2021 – 3 C .090 – juris Rn. 15 ff.; OVG NW, U.v. 28.10.2021 – 13 A 1376/17 – juris Rn. 59).
40
Im Rahmen der summarischen Prüfung im Sofortverfahren kann die Frage, ob es sich bei dem streitgegenständlichen Produkt um ein Arzneimittel handelt, nicht beantwortet werden, sondern bedarf vielmehr der Durchführung des Hauptsacheverfahrens. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind daher als offen anzusehen.
41
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in einer der vorliegenden vergleichbaren Fallkonstellation wie folgt entschieden (vgl. BayVGH, B.v. 23.3.2023 – 20 CS 23.219 – unveröffentlicht BA 8 ff.):
„5-Hydroxytryptophan ist eine natürlich vorkommende Aminosäure, die in nennenswerter Konzentration in den Samen von Griffonia simplicifolia vorhanden ist. L-Tryptophan ist die Aminosäuren-Vorstufe von Serotonin. Im zentralen Nervensystem (ZNS) wird L-Tryptophan zu 5-Hydroxytryptophan umgebaut und anschließend zu Serotonin de-carboxyliert. Die orale Gabe von L-Tryptophan erhöht die Serotonin-Synthese und -Freisetzung im Gehirn.
Die gesetzliche Definition des Funktionsarzneimittels ergibt sich gemäß Art. 128 Satz 2 der RL 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes Humanarzneimittel (ABl. L 311 v. 28.11.2001, S. 67) aus deren Art. 1 Nr. 2 Buchst. b in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG vom 31.3.2004 (ABl Nr. L 136 S. 34) (vgl. EuGH, U.v. 3.10.2013 – C 109/12 – juris; BVerwG; U.v. 7.11.2019 – 3 C 19.18 – LMuR 2020, 170, Rn. 12.; OVG Lüneburg, U.v. 29.9.2021 – 13 LB 31/14 – BeckRS 2021, 30597 Rn. 42). Arzneimittel nach der Funktion sind nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der RL 2001/83/EG in der Fassung der RL 2004/27/EG alle Stoffe oder Stoff-Zusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet werden oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen. Nach der Rechtsprechung des EuGH hat die zuständige Behörde die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels nach der Funktion im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der RL 2001/83/EG fällt, von Fall zu Fall zu treffen und dabei alle Merkmale des Erzeugnisses, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften – wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen –, die Modalitäten seines Gebrauchs, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen (vgl. EuGH, U.v. 3.10.2013 – C-109/12 – MPR 2013, 199 Rn. 42; EuGH, U.v. 15.1.2009 – C 140/7 – PharmR 2009, 122 Rn. 31ff.; BVerwG, U.v. 7.11.2019 – 3 C 19.18 – LMuR 2020, 170 Rn. 17, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
Zudem ist erforderlich, dass die erhebliche Beeinflussung der Funktionsbedingungen des menschlichen Körpers durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt ist. Dabei ist kein positiver Wirksamkeitsnachweis erforderlich. Es muss jedoch ein insoweit gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisstand vorliegen, nach dem ein tragfähiger Rückschluss auf die Wirkungen des Produktes möglich ist (BVerwG, U.v. 26.5.2009 – 3 C 5.09 – juris).
Im vorliegenden Fall begründen sowohl die Arzneimittelüberwachungsbehörde als auch das Verwaltungsgericht die Arzneimitteleigenschaft des streitgegenständlichen Produktes mit seiner zwischen den Beteiligten unstrittigen Funktion, den menschlichen Serotoninspiegel im Gehirn und seiner Peripherie bei oraler Einnahme zu erhöhen. Das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit geht in seiner Stellungnahme weiter davon aus, dass, weil Serotonin maßgeblich an der Ausprägung der Stimmungslage beteiligt sei, ein Einsatz des Precursors (Vorläufers) 5-HTP bei Depressionen naheliege. Der Behandlungserfolg bei Depressionen sei aber bisher nicht abschließend geklärt. Ob diese Annahme aufgrund der dort angeführten Studien tatsächlich gerechtfertigt ist, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend geklärt werden und bedarf voraussichtlich einer eingehenden Prüfung im Verfahren der Hauptsache. Soweit für den Senat ersichtlich, bestehen jedoch demgegenüber auch begründete Zweifel, ob die Anhebung des Serotoninspiegels tatsächlich eine gesundheitsfördernde Wirkung herbeiführt. So wird aufgrund des Mangels an qualitativ hochwertigen Studien der Behandlungserfolg von 5-HTP bei Depressionen als nicht sicher eingestuft (Berdonces, Griffonia simplicifolia, ZPT – Zeitschrift für Phytotherapie 2015, 85 (87)). Ob die biochemischen Prozesse im Gehirn auch spürbare Auswirkungen auf Stimmung oder sogar die Beschwerden bei einer Depression haben, ist zumindest zweifelhaft (https://medizin-transparent.at/tryptophan-depression/#ref6 unter Hinweis auf die Studienqualität). Weiter weist die Bundespsychotherapeutenkammer darauf hin, eine Überblicksstudie habe ergeben, dass ein hoher oder niedriger Gehalt des Botenstoffs Serotonin im Gehirn keinen Effekt darauf habe, ob eine Depression vorliege oder nicht. Die Serotonin-Aktivität am Rezeptor sei bei den meisten gesunden und depressiven Menschen gleich, bei einem kleinen Anteil der depressiven Patientinnen sogar höher. Ein künstlich hervorgerufener Serotonin-Mangel, zum Beispiel durch spezielle Diäten, verursache zudem keine depressiven Symptome (https://www.bptk.de/serotonin-hypothese-greift-zu-kurz/). Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Serotoninspiegel und depressiven Symptomen wird schließlich ausdrücklich bestritten (Die Mär vom Glückshormon, https://www.spekt-rum.de/news/depression-mythos-serotonin-mangel/1798331). Der Frage, ob 5-HTP die Funktion der Verhütung oder Heilung zukommen kann (EuGH, U.v. 15.11.2007 – C-319/05 [ECLI:ECLI:EU:C:2007:678], Knoblauch-Kapseln – Rn. 64), muss deshalb in einem Hauptsacheverfahren näher nachgegangen werden. Zudem bestünde die Möglichkeit, eine Entscheidung der Bundesoberbehörde nach § 21 Abs. 4 AMG zu beantragen.
Somit sind die Erfolgsaussichten der in der Hauptsache erhobenen Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid bei einer summarischen Prüfung als offen anzusehen. […]“
42
Das Verwaltungsgericht Würzburg schließt sich für den vorliegenden Fall den vorstehenden Ausführungen Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung an.
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Gegenstand der zitierten Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs war ein arzneimittelrechtliches Inverkehrbringungsverbot hinsichtlich eines Produkts, dessen empfohlene Tagesdosis 500 mg L-Tryptophan und 800 mg Griffonia Extrakt beträgt, was laut Nährwerttabelle 200 mg 5-HTP entspricht und damit dem gegenständlichen Produkt vergleichbar ist.
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Eine andere Beurteilung der pharmakologischen Wirkung ergibt sich auch nicht daraus, dass das streitgegenständliche Produkt pro Kapsel neben 200 mg 5-HTP auch 15 mg Safran-Extrakt enthält. Während nach den Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin aufgrund der antagonistischen Wirkung von Safran auf den Serotonin-Typ 2-Rezeptor Anhaltspunkte für eine herabsetzende Wirkung von Safran auf die Serotoninkonzentration im Körper vorliegen und einer Überprüfung bedürfen, ist laut der Stellungnahme des LGL vom 27. Februar 2023 daneben auch die antidepressive Wirkung von Safran und Safranextrakten bekannt. Die genaue Zusammensetzung des im Produkt verwendeten Safranextrakts sei jedoch nicht bekannt. Es würden auf dem zu beurteilenden Produkt sämtliche Angaben fehlen, die zur Charakterisierung eines pflanzlichen Extraktes notwendig seien. Eine negative Beeinflussung der antidepressiven Wirkung von 5-HTP durch Safran-Extrakt werde fachlich jedoch als unwahrscheinlich eingestuft, es wäre eher eine Unterstützung der pharmakologischen Wirkung von 5-HTP zu erwarten. Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen und angesichts der nicht abschließend geklärten Wirkung von 5-HTP selbst führt der Zusatz von Safran-Extrakt im streitgegenständlichen Produkt jedenfalls nicht dazu, dass die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens nicht mehr als offen anzusehen wären.
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Folglich ist wegen der offenen Erfolgsaussichten der Hauptsache eine Abwägung des von der Behörde geltend gemachten Interesses an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheides und des Interesses der Antragstellerin an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage vorzunehmen.
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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in der bereits oben genannten Entscheidung wie folgt entschieden (vgl. BayVGH, B.v. 23.3.2023 – 20 CS 23.219 – unveröffentlicht BA 12 ff.):
„[…] Bei der danach erforderlichen umfassenden Abwägung der betroffenen schutzwürdigen Interessen (vgl. dazu Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 93) setzt sich das öffentliche Sofortvollzugsinteresse gegen das Interesse der Antragstellerin an einer Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung durch. Für das Interesse der Antragstellerin, das streitgegenständliche Produkt bis zur Bestandskraft des Hauptsacheverfahrens vorläufig weiter in den Verkehr bringen und bewerben zu dürfen, streitet zunächst ihre Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG und der Umstand, dass ihr – sollte sich der angegriffene Bescheid letztlich als rechtswidrig erweisen – ein möglicherweise nicht vollständig rückgängig zu machender wirtschaftlicher Schaden droht. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es sich bei 5-HTP, selbst für den Fall, seine Arzneimitteleigenschaft wäre letztendlich zu verneinen, aller Voraussicht nach um Novel Food handeln würde, welches vor seiner Zulassung grundsätzlich nicht verkehrsfähig ist (Art. 6 Abs. 2, 1 VO (EU) 2015/2283). Denn ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2, 1 VO (EU) 2015/2283 liegt vor, wenn neuartige Lebensmittel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchst. a VO (EU) 2015/2283 ohne eine nach dem in Art. 10 VO (EU) 2015/2283 genannten Verfahren erteilte Genehmigung/Zulassung in den Verkehr gebracht werden. Laut dem Novel Food catalogue (https://webgate.ec.europa.eu/fip/no-vel_food_catalogue/#) gelten zwar die Samen von Griffonia simplicifolia in Nahrungsergänzungsmitteln als nicht neu. Die Verwendung eines selektiven Extrakts von 5-HTP aus Samen von Griffonia simplicifolia gilt jedoch als neuartiges Lebensmittel. Dies ist unabhängig davon, ob es chemisch synthetisiert oder selektiv aus Samen von Griffonia simplicifolia extrahiert wird. In der aktuellen Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel ist 5-HTP dagegen noch nicht aufgeführt. Damit ist derzeit das private Interesse der Antragstellerin am Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Produktes nach der gegenwärtigen Sachlage nicht schutzwürdig und muss hinter dem öffentlichen Interesse, das Inverkehrbringen nicht verkehrsfähiger Produkte zu verhindern, zurücktreten.“
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Das Verwaltungsgericht Würzburg schließt sich auch insoweit für den vorliegenden Fall den vorstehenden Ausführungen im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung an.
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Ergänzend wird hierzu noch Folgendes ausgeführt:
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Die Tatsache, dass in dem streitgegenständlichen Produkt auch 15 mg Safran-Extrakt enthalten sind, führt zu keinem anderen Ergebnis der Interessenabwägung. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei der Frage der Neuartigkeit auf das konkrete Endprodukt abzustellen ist (vgl. EuGH, U.v. 15.1.2009 – C-383/07 – ABl EU 2009, Nr. C 55, 3 – juris; VG Würzburg, B.v. 28.1.2020 – W 8 E 19.1669 – juris Rn. 39 f.). Doch auch die Beifügung des Safran-Extrakts ändert nichts daran, dass das konkrete Endprodukt angesichts des Hauptbestandteils von 5-HTP aus den oben genannten Gründen aller Voraussicht nach als neuartig einzustufen ist.
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Zudem ist der inzwischen auf dem streitgegenständlichen Produkt angebrachte Warnhinweis nicht geeignet, zu einem anderen Abwägungsergebnis zu kommen. Denn für den Fall, dass es sich bei dem Produkt um ein Lebensmittel handeln sollte, fehlt es aller Voraussicht nach wegen der Neuartigkeit an der erforderlichen Zulassung nach Art. 6 Abs. 2, 1 VO (EU) 2015/2283. Wäre dagegen die Arzneimitteleigenschaft zu bejahen, würde es auch insoweit an der dann erforderlichen Zulassung nach § 21 Abs. 1 AMG fehlen und das Produkt dürfte nicht in Verkehr gebracht werden. Das Anbringen eines Warnhinweises wegen möglicher Wechselwirkungen auf dem Produkt ändert hieran nichts.
51
Das Vorbringen der Antragstellerin führt zu keiner anderen Beurteilung.
52
Entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin geht es im streitgegenständlichen Bescheid nicht allein um die Anordnung des Rückrufs, zu dem sich die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht verhält. Wie oben bereits ausgeführt ist Gegenstand des vorliegenden Sofortverfahrens die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage allein in Bezug auf das in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnete Inverkehrbringungsverbots, mit dem sich der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. März 2023 – 20 CS 23.219 aber gerade befasst. Die Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin zu der bei der Anordnung eines Rückrufs erforderlichen Gesundheitsschädlichkeit des betroffenen Produkts sind hier damit nicht entscheidungserheblich und können dahinstehen. Vielmehr vermag auch nach dem Vortrag der Antragstellerin das selbst unterstellte – mögliche – Vorliegen eines neuartigen Lebensmittels jedoch (allenfalls) ein Untersagen des Inverkehrbringens zu rechtfertigen.
53
Wie von Antragstellerseite geltend gemacht, geht die handelnde Behörde selbst zwar nicht von der Lebensmitteleigenschaft des entsprechenden Produkts aus. Dennoch hat sich die Behörde bereits in ihrem Bescheid vom 31. März 2023 mit der Neuartigkeit von 5-HTP befasst und ausgeführt, 5-HTP werde im Novel-Food Katalog der Europäischen Gemeinschaft als Neuartiges Lebensmittel aufgeführt und für die Aufnahme in die Unionsliste zugelassener neuartiger Lebensmittel müsste erst die Sicherheitsbewertung gem. der Novel-Food-Verordnung durchlaufen werden. Dadurch verbiete sich bereits lebensmittelrechtlich der Einsatz von 5-HTPreichen Extrakten aus Griffoniasamen in Nahrungsergänzungsmitteln.
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Auch wenn der sogenannte Novel-Food-Katalog der Europäischen Kommission als solcher keine rechtliche Bindungswirkung entfaltet, so kommt diesem doch maßgebliche Indizwirkung für die Annahme eines neuartigen Lebensmittels zu (BGH, U.v. 16.4.2015 – I ZR 27/14 – juris Rn. 33; VG Hannover, B.v. 18.11.2019 – 15 B 3035/19 – juris Rn. 26; VG München, B.v. 6.10.2021 – M 26a S 21.4118 – BeckRS 2021, 30611; Ballke in Sosnitza/Meisterernst [vormals Zipfel/Rathke], Lebensmittelrecht, Werkstand 184. EL Juli 2022, Art. 3 Novel-Food-VO Rn. 42). So fließen in die Einträge des Katalogs, der von einer Arbeitsgruppe der Europäischen Gemeinschaft als Orientierungshilfe im Hinblick auf die Verordnung (EG) Nr. 258/97 erarbeitet wurde, die Erkenntnisse der Europäischen Kommission sowie der für neuartige Lebensmittel zuständigen Behörden der Mitgliedsstaaten ein. Nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 2015/2283 ist die Europäische Kommission verpflichtet, den Katalog auf dem neuesten Stand zu halten (VG Cottbus, B.v. 8.1.2020 – 3 L 230/19 – juris Rn. 19).
55
Dem weiteren Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin, dass selbst bei der Annahme, dass es sich bei dem Produkt um ein neuartiges Lebensmittel ohne Novel Food-Genehmigung handeln würde, dann dennoch nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers das Grundprinzip der aufschiebenden Wirkung gemäß § 39 Abs. 7 LFGB eingreife, und dass für das behauptete Vorliegen eines neuartigen Lebensmittels der Antragsgegner schon nicht die zuständige Behörde sei und der Bescheid auf den falschen Rechtsgrundlagen basiere, ist entgegenzuhalten, dass die Neuartigkeit des streitgegenständlichen Produkts hier lediglich in der erforderlichen Interessenabwägung Berücksichtigung findet, die umfassend zu erfolgen hat (vgl. Gersdorf in Posser/Wolff, BeckOK VwGO, 64. Edition Stand: 1.7.2021, § 80 Rn. 190), aber nicht Grundlage für den Bescheid vom 31. Januar 2023 ist. Zudem handelt es sich bei dem Antragsgegner um den Freistaat, der auch Rechtsträger der zuständigen Lebensmittelbehörde ist, § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Es ist aber nicht hinnehmbar, nicht zugelassene Produkte bis zu einer möglichen Entscheidung in der Hauptsache im Verkehr ohne Beachtung der einschlägigen lebensmittelrechtlichen bzw. lebensmittelrechtlichen Vorschriften zu belassen und so der Antragstellerin womöglich absatzfördernde Vorteile – auch im Vergleich zu anderen Wettbewerbern – zu verschaffen.
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Da der Antrag nur auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nr. 1 des Bescheids vom 20. Februar 2023 gerichtet ist, kommt es im vorliegenden Sofortverfahren auf die – von der Antragstellerin verneinte – Rechtmäßigkeit der Nebenbestimmung Nr. 3.2 des Bescheids nicht an.
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Nach alledem war der Antrag abzulehnen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Sie richtet sich nach dem Auffangstreitwert, weil der Verkaufswert der betroffenen Waren nicht im Einzelnen beziffert werden kann (vgl. Nr. 25.1 des Streitwertkatalogs). Der Auffangstreitwert von 5.000,00 EUR war im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs zu halbieren, so dass ein Streitwert von 2.500,00 EUR festzusetzen war.