Titel:
Erfolglose Nachbarklage gegen Wohn- und Geschäftshaus im Mischgebiet
Normenketten:
BauNVO § 6, § 15 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Abs. 4, Abs. 5 S. 1, Art. 63
Leitsätze:
1. Die erteilte Baugenehmigung vermittelt dem Bauherrn eine Rechtsposition, die sich gegenüber im Rechtsmittelverfahren eines Dritten eintretenden Änderungen der Sach- und Rechtslage durchsetzen kann. Nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten sind dagegen zu berücksichtigen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht. Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Begründung eines Baugenehmigungsbescheids, Durchmischung im Mischgebiet, Gebot der Rücksichtnahme, Abstandsflächen, Vorrang des Bauplanungsrechts im Abstandsflächenrecht, Zurückversetztes Obergeschoss, Abweichung von den Abstandsflächen, Änderungen der Sach- und Rechtslage, Licht- und Luftverhältnisse, Sichtachsen
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6675
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens gesamtschuldnerisch einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung für ein Wohn- und Geschäftshaus, welche die Beklagte der Beigeladenen erteilt hat.
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Die Kläger sind Miteigentümer des Grundstücks FlNr. 255/2 Gem. … (alle im Folgenden genannten Grundstücke/FlNrn. befinden sich in der Gemarkung …). Nördlich grenzen die Vorhabengrundstücke FlNrn. 260/24 und 260/12 an. Alle genannten Grundstücke befinden sich im Geltungsbereich des einfachen Bebauungsplans „Altstadtkern – Vergnügungsstätten“ der Beklagten, der für diesen Bereich ein Mischgebiet festsetzt.
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Die Kläger sind außerdem Miteigentümer folgender Grundstücke, hinsichtlich derer sie ebenso Rechtsschutz im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Baugenehmigung gesucht haben: FlNr. 255/4 (Miteigentümer in Erbengemeinschaft, M 1 K 22.3129, M 1 SN 22.3133), FlNr. 262/2 (Miteigentümer, M 1 K 21.235, M 1 SN 21.242), FlNr. 262/2 (Miteigentümer, M 1 K 22.3125, M 1 SN 22.3130), zudem sind sie Gesellschafter der E.-GbR, die Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 262/2 ist (M 1 K 22.3126, M 1 SN 22.3131).
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Mit am 8. November 2019 eingegangenem Antrag begehrte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für den Abbruch der Bestandsgebäude und den Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses mit Tiefgarage auf FlNr. 260/12 und die Erweiterung des Bestandsgebäudes auf FlNr. 260/24 sowie Abweichungen, unter anderem von den Abstandsflächenvorschriften. Eine Beteiligung der Kläger im Genehmigungsverfahren erfolgte nicht. Mit Bescheid vom 15. Dezember 2020 erteilte die Beklagte die streitgegenständliche Baugenehmigung sowie die beantragten Abweichungen, insbesondere die Abweichungen hinsichtlich der Überschreitung der Abstandsflächen aufgrund der geplanten Staffelgeschosse/Dachterrassen nach Osten, Süden und Westen. Mit Bescheid vom 23. Juni 2021, den Klägern mittels Postzustellungsurkunde zugestellt am 26. Juni 2021, erteilte die Beklagte der Beigeladenen zudem einen Tekturbescheid bezüglich der Änderung der Zufahrt und der Raumaufteilung der Ladenflächen im Erdgeschoss, statischen Änderungen im Erd- und Untergeschoss sowie neuer Anordnung der Stellplätze im Erd- und Untergeschoss.
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Hiergegen ließen die Kläger am … Januar 2021 Klage erheben. Mit am 26. Juli 2021 eingegangenem Schriftsatz wenden sie sich zudem gegen den Tekturbescheid und beantragen zuletzt,
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Die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2020 in Gestalt des Ergänzungsbescheides vom 23. Juni 2021 wird aufgehoben.
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Das Bauvorhaben füge sich weder nach Art noch nach Maß der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Bis auf einige, wenige Wohnungen, die zudem überwiegend von Betriebsinhabern bewohnt seien bzw. bewohnt gewesen seien, fänden sich in der Umgebung nur Geschäfts-, Büro und Verwaltungsgebäude, Einzelhandelsbetriebe und Anlagen für kirchliche Zwecke. Diese prägten die Umgebung. Mit dem Vorhaben werde das mischgebietstypische Verhältnis Wohnbebauung und Gewerbebetrieb nicht eingehalten, respektive sei dieses dem Mischgebiet unüblich, da es 19 Wohneinheiten und nur zwei Gewerbeeinheiten beinhalte. Dies verletzte den Gebietserhaltungsanspruch der Kläger. Ziel des Bebauungsplans sei gewesen, die Funktionalität und Attraktivität des Stadtzentrums weiter zu steigern und durch die Regelung der Art der baulichen Nutzung eine weitere Verbesserung des Stadtbildes und eine Sicherung der vorhandenen Nutzungsstrukturen zu erreichen. Funktionales Ziel sei, einen attraktiven und belebten Innenstadtbereich zu sichern, wobei auch die Wohnfunktion zu sichern sei, aber dieser käme keine höhere Bedeutung zu. Hierzu seien Flächen nutzbar gemacht worden, um insbesondere den Aufenthalt, die Gastronomie, verschiedenste Veranstaltungen und umfangreiche Marktnutzung zu optimieren. Zudem schmücke sich die Beklagte mit der Bezeichnung „Einkaufsstadt …“. Das Gebiet der Beklagten sei im Zentrum sehr kleinteilig parzelliert, ausschließlich in der M. …straße gebe es Raum für größere Verkaufsflächen, die für die notwendige Attraktivität und Funktionalität der Stadt, entsprechend den Zielen des Bebauungsplans, zwingend notwendig seien. Dieses Ziel werde mit dem streitgegenständlichen Vorhaben mit den Parkplätzen im Erdgeschoss und den zusätzlichen 19 Wohneinheiten in den weiteren Geschossen unterlaufen. Es dürfe auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass durch die Tektur anstelle einer Gewerbeeinheit drei weitere Parkplätze entstünden und in der Folge anstelle der Gewerbeeinheit die Einfahrt zu den Parkflächen errichtet werde, sodass das Vorhaben vom äußeren Erscheinungsbild, vor allem für Passanten, einen reinen Park- und Wohnhauscharakter und jedenfalls keinen Einkaufscharakter aufweise. Auch die Höhe des Vorhabens füge sich nicht in die Eigenart der näheren Umgebung ein, der Baukörper wirke erdrückend und nehme den Gebäuden M. …straße 6 und 8 das Licht. Die Baugenehmigung sei auch deshalb rechtswidrig, weil es ihr als Verwaltungsakt mit Drittwirkung an einer ausreichenden Begründung fehle. Bauplanungs- wie bauordnungsrechtlich geschützte nachbarliche Belange seien bei der Begründung des Verwaltungsaktes weder (hinreichend) berücksichtigt noch abgewogen worden. Die insoweit einzig angestellte Erwägung, das Staffelgeschoss führe für die Nachbarn zur Verbesserung von Belichtung und Besonnung verstoße gegen Denkgesetze, denn bisher habe es keinen Baukörper mit dieser Höhe und dieser Anzahl von Geschossen gegeben. Auch verletze das Vorhaben die Abstandsflächen zulasten des klägerischen Grundstücks. Es sei dort direkt an der Grenze ein umlaufender Balkon errichtet worden. Dieser verstoße zudem gegen das Rücksichtnahmegebot, weil aufgrund der fast bis an die Grundstücksgrenze reichenden Fenster ein Brandüberschlag zu erwarten sei, es fehle jedenfalls eine Auflage, dass die Fenster mit einer F90-Verglasung auszuführen seien.
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Die Beklagte beantragt,
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Das Bauvorhaben füge sich nach Art der Nutzung in die Eigenart der Umgebung ein. Damit gelten auch weiterhin die für Mischgebiete maßgeblichen immissionsschutzrechtlichen Vorschriften, bereits jetzt müsse auf die bestehende Wohnnutzung Rücksicht genommen werden. Das Vorhaben füge sich auch nach dem Maß der baulichen Nutzung ein. Es sei straßenseitig eine maximale Höhe von 16,10 m, auf der Innenhofseite eine maximale Höhe von 17,09 m genehmigt. Demgegenüber weise das Gebäude auf FlNr. 262/3 eine Firsthöhe von 20,80 m auf und überrage das streitgegenständliche Vorhaben damit um 3,70 m. Eine erdrückende Wirkung und fehlende Belichtung bei geschlossener innerstädtischer Bauweise sei nicht erkennbar. Im Übrigen seien sie als Nachbarn hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung auf die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das Rücksichtnahmegebot beschränkt. Ein solcher liege nicht vor. Ausweislich der genehmigten Eingabeplanung handle es sich bei dem von den Klägern bezeichneten „Balkon“ um ein Notausstiegspodest. Hinsichtlich der Einhaltung der brandschutzrechtlichen Vorschriften habe die Beigeladene sich ausweislich des Bauantrags dazu entschieden, dies durch einen Prüfsachverständigen prüfen zu lassen.
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Die Beigeladene äußerte sich in der Sache nicht und beantragt,
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Den Antrag der Kläger auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes (M 1 SN 22.3132) hat das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 29. Juli 2022 abgelehnt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Beschwerden gegen die Entscheidungen mit Beschluss vom 21. Oktober 2022 zurückgewiesen (1 CS 22.1920).
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Ergänzend wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Anfechtungsklage hat in der Sache keinen Erfolg. Die streitgegenständliche Baugenehmigung in der Fassung der Tekturgenehmigung ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung hat ein Nachbar nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Vielmehr setzt ein Anspruch auf Aufhebung weiter voraus, dass der Nachbar durch die Baugenehmigung zugleich in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das ist dann der Fall, wenn die zur Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung führende Norm zumindest auch dem Schutze der Nachbarn dient, also drittschützende Wirkung hat (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 6.10.1989 – 4 C 14.87 – juris Rn.9). Weiterhin ist zu beachten, dass ein Nachbar eine Baugenehmigung nur dann erfolgreich angreifen kann, wenn die Rechtswidrigkeit der Genehmigung sich aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die gemäß Art. 59 oder Art. 60 BayBO Gegenstand der Prüfung im Baugenehmigungsverfahren waren.
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Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit vorliegender Nachbarklagen gegen die Baugenehmigung vom 15. Dezember 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 23. Juni 2021 ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Behördenentscheidung maßgeblich, mithin die Bayerische Bauordnung in der Fassung vom 10. Juli 2018 (BayBO 2018). Hinsichtlich späterer Änderungen ist zu differenzieren: solche zu Lasten des Bauherrn haben außer Betracht zu bleiben. Insofern vermittelt die erteilte Baugenehmigung dem Bauherrn nämlich eine Rechtsposition, die sich gegenüber im Rechtsmittelverfahren eines Dritten eintretenden Änderungen der Sach- und Rechtslage durchsetzen kann (BVerwG, U.v. 13.12.2007 – 4 C 9.07 – juris Rn. 13). Nachträgliche Änderungen zu seinen Gunsten sind dagegen zu berücksichtigen. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass es mit der nach Maßgabe des einschlägigen Rechts vermittelten Baufreiheit nicht vereinbar wäre, eine zur Zeit des Erlasses rechtswidrige Baugenehmigung aufzuheben, die sogleich nach der Aufhebung wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B.v. 23.4.1998 – 4 B 40/98 – juris Rn. 3).
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1. Die Kläger sind nicht aufgrund formeller Rechtsfehler in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt. Es liegt kein Begründungsmangel vor. Gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 2 BayBO 2018 ist die Baugenehmigung nur insoweit zu begründen, als ohne Zustimmung des Nachbarn von nachbarschützenden Vorschriften abgewichen wird oder der Nachbar gegen das Vorhaben in Textform Einwendungen erhoben hat. Gemessen daran ist die Bescheidsbegründung nicht zu beanstanden. Der insofern vorgebrachte Einwand, die Begründung, das Staffelgeschoss führe zu einer Verbesserung von Belichtung und Besonnung verstoße gegen Denkgesetze, betrifft vielmehr die materielle Rechtmäßigkeit der Abweichungen bzgl. der Einhaltung der Abstandsflächen hinsichtlich des Staffelgeschosses nach Süden, Osten und Westen. Im Übrigen betreffen diese Abweichungen die Grundstücke der Kläger nicht.
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2. Es liegen auch keine materiellen Rechtsfehler vor, durch die die Kläger in ihren Rechten verletzt sind.
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2.1 Die Baugenehmigung verletzt die Kläger nicht in ihren bauplanungsrechtlichen Nachbarrechten.
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2.1.2 Das Bauvorhaben verstößt hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht gegen den sogenannten, nach ständiger Rechtsprechung drittschützenden, Gebietserhaltungsanspruch der Kläger. Gemäß § 30 Abs. 1 BauGB ist im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der allein oder gemeinsam mit sonstigen baurechtlichen Vorschriften mindestens Festsetzungen über die Art und das Maß der baulichen Nutzung, die überbaubaren Grundstücksflächen und die örtlichen Verkehrsflächen enthält, ein Vorhaben zulässig, wenn es diesen Festsetzungen entspricht und die Erschließung gesichert ist. Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans, der die Voraussetzungen nicht erfüllt (einfacher Bebauungsplan) richtet sich die Zulässigkeit im Übrigen nach § 34 BauGB oder § 35 BauGB. Maßgeblich für die Frage, ob das Bauvorhaben nach der Art der Nutzung zulässig ist, ist daher vorliegend die einschlägige Festsetzung des Bebauungsplans „Altstadtkern – Vergnügungsstätten“, in dem sich der planerische Wille der Beklagten mittels einer Festsetzung u.a. dieses Abschnitts der M. …straße als Mischgebiet im Sinne von § 6 BauNVO in rechtlich relevanter Weise manifestiert hat. Nicht maßgeblich ist, dass die Beklagte sich nach dem Vortrag der Kläger mit der Bezeichnung „Einkaufsstadt“ schmücke. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Maßnahme der Wirtschaftsförderung oder Werbung, der bauplanungsrechtlich offensichtlich keine Relevanz zuzusprechen ist. Als Wohn- und Geschäftshaus mit Läden, Büros und Praxen fügt sich das Vorhaben gemäß § 6 BauNVO in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die Kläger haben hierzu vorgetragen, dass das Vorhaben mit seinen 19 Wohneinheiten und lediglich zweier Gewerbeeinheiten ein gleichwertiges und gleichgewichtiges Verhältnis von Wohnen und Gewerbe nicht einhalte bzw. nicht mischgebietstypisch sei. Dem ist zu widersprechen. Ein Mischgebiet dient gemäß § 6 Abs. 1 BauNVO dem Wohnen und der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Diese allgemeine Zweckbestimmung verlangt, dass die beiden in dem Gebiet zulässigen Hauptnutzungsarten im Sinne einer etwa gleichgewichtigen und gleichwertigen Durchmischung vorhanden sind. Maßstab für die Frage einer gleichgewichtigen Durchmischung bildet dabei naturgemäß das gesamte Mischgebiet, nicht das jeweilige Vorhaben (so bereits BVerwG, U.v. 4.5.1988 – 1 BV 05.613 – NJW 1988, 3168). Wäre dies der Fall, wäre im Übrigen auch das Vorhaben der Klägerin zur Errichtung eines Geschäftshauses auf FlNrn. 262/2 und 262/4 gleichermaßen unzulässig, weil hier eine rein gewerbliche Nutzung mit Verkaufsflächen, Cafe, Büros und Praxen vorgesehen ist. Nach diesen Maßstäben ist das Vorhaben zulässig, denn es ist nicht erkennbar, dass durch das Hinzukommen der 19 Wohneinheiten der Gebietscharakter in ein allgemeines Wohngebiet kippen könnte, wie bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 21. Oktober 2021 angemerkt hat (BayVGH, B.v. 21.10.2022 – 1 CS 22.1917, 1 CS 22.1918, 1 CS 22.1919 – Rn. 12). Die Kläger haben selbst ausgeführt, dass in der Umgebung bislang nur vereinzelt Wohnnutzung vorhanden gewesen ist.
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2.1.2 Die Baugenehmigung verstößt schließlich nicht gegen sonstige drittschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts.
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Das Maß der baulichen Nutzung, die Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, und die Bauweise (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB) sind nicht drittschützend (BayVGH, B.v.12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – BeckRS 2013, 56189 Rn. 3; BayVGH, B.v. 20.5.2020 – 9 ZB 18.2585 – BeckRS 2020, 14735 Rn. 5), weshalb sich die Kläger auf eine subjektive Rechtsverletzung diesbezüglich nicht berufen können. Es kann daher dahinstehen, ob sich das Bauvorhaben im Hinblick auf die Zahl der Vollgeschosse, die Grundflächen und die Höhenentwicklung in die Eigenart der Umgebung einfügt.
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Die Kläger sind hinsichtlich dieser Aspekte auf das drittschützende, bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme, § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 BauNVO, verwiesen. Dieses ist nicht verletzt.
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Inhaltlich zielt das Gebot der Rücksichtnahme darauf ab, Spannungen und Störungen, die durch unverträgliche Grundstücksnutzungen entstehen, möglichst zu vermeiden. Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, hängt wesentlich von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab. Für eine sachgerechte Bewertung des Einzelfalles kommt es wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zumutbar ist, an (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 – 4 C 1.04 – juris, Rn. 22; U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 4). Bedeutsam ist ferner, inwieweit derjenige, der sich gegen das Vorhaben wendet, eine rechtlich geschützte wehrfähige Position innehat (vgl. BVerwG, B.v. 6.12.1996 – 4 B 215.96 – juris Rn. 9). Das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Nachbarn nicht das Recht, von jeglicher Beeinträchtigung der Licht- und Luftverhältnisse oder der Verschlechterung der Sichtachsen von seinem Grundstück aus verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst dann zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Eine Veränderung der Verhältnisse durch ein Vorhaben, das den Rahmen der Umgebungsbebauung wahrt und städtebaulich vorgegeben ist, ist regelmäßig als zumutbar hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 12.9.2013 – 2 CS 13.1351 – juris Rn. 6).
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes dann in Betracht kommt, wenn durch die Verwirklichung des genehmigten Vorhabens ein in der unmittelbaren Nachbarschaft befindliches Wohngebäude „eingemauert“ oder „erdrückt“ wird. Eine solche Wirkung kommt vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 38: 12-geschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zum 2,5-geschossigen Nachbarwohnhaus; U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – juris Rn. 15: drei 11,05 m hohe Siloanlagen im Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnanwesen). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 31; B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12 m.w.N.). Für die Annahme der „abriegelnden“ bzw. „erdrückenden“ Wirkung eines Nachbargebäudes ist somit grundsätzlich kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes, was insbesondere gilt, wenn die Gebäude im dicht bebauten innerstädtischen Bereich liegen (vgl. BayVGH, B.v. 11.5.2010 – 2 CS 10.454 – juris Rn. 5).
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Unter Anwendung dieser Grundsätze geht vom streitgegenständlichen Vorhaben zulasten der Kläger weder eine rücksichtslose erdrückende Wirkung aus, noch stellt es sich als rücksichtslos dar, weil es eine abriegelnde Wirkung erzeugt. Es nimmt mit seiner rückwärtigen Bebauung die auf den Nachbargrundstücken vorhandene Hinterhofbebauung in der Höhe auf (s. Planunterlage „Lageplan, Übersicht Höhen Nachbargebäude“ vom 10. Februar 2020) und ist hinsichtlich seiner Ausführung (Erdgeschoss plus ein Obergeschoss) für sich von angemessener, nicht übergrößer Höhe.
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Ebensowenig verletzt die Baugenehmigung das Gebot der Rücksichtnahme hinsichtlich des Brandschutzes zulasten der Kläger. Da die Beigeladene hinsichtlich der Einhaltung der brandschutzrechtlichen Vorschriften die Prüfung durch einen Prüfsachverständigen gewählt hat, wie dies nach Art. 62 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayBO bei Gebäuden der Gebäudeklasse 5 (Art. 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BayBO: hier einschlägig, weil Höhe über 13 m) möglich ist, ist der Brandschutz schon nicht Regelungsgegenstand der streitgegenständlichen Baugenehmigung. Schließlich ergibt sich auch keine Rücksichtslosigkeit daraus, dass hier ein Balkon direkt an die Grenze gebaut werde, wie dies seitens der Kläger nachdrücklich betont wurde. Streitgegenstand der vorliegenden Nachbarklage ist allein die Baugenehmigung in der Form der Tekturgenehmigung. Ausweislich der gestempelten Eingabepläne (s. Eingabeplan „Grundrisse 1.OG, 2.OG“ vom 6. Februar 2020) ist hier kein Balkon genehmigt, sondern ein Notausstiegspodest („NA-Podest“).
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2.2 Die Klage ist nicht im Hinblick auf drittschützende bauordnungsrechtliche Vorschriften erfolgreich. Die Baugenehmigung verstößt nicht zulasten der Kläger gegen die Abstandsflächenvorschriften.
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2.2.1 Hinsichtlich der rückwärtigen Bebauung, die auf der Höhe des Grundstücks der Kläger in Form eines Notausstiegspodests für die daneben situierten Büroräume in Erscheinung tritt, sind bereits keine Abstandsflächen einzuhalten, Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO. Danach sind Abstandsflächen nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Dabei liegt bereits bei den FlNrn. 255, 255/4, 255/3, 256/2, 256, 257, 258 jeweils entsprechende Bebauung an der rückwärtigen Grundstücksgrenze vor, ebenso FlNr. 254, 260/9 (teilweise), 253 260/15 sowie nördlich der M. …straße auf FlNrn. 263/6, den klägerischen Grundstücken 262/3, 262/2 und 262/4, FlNrn. 261, 264/5, 254/7, 264/9, 264/2. Damit fügt sich die rückwärtige Bebauung auf den Vorhabengrundstücken im bauplanungsrechtlichen Sinne ein (§ 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB), es darf folglich nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO an die rückwärtige Grundstücksgrenze ohne Einhaltung von Abstandsflächen gebaut werden.
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2.2.2 Hinsichtlich des rückwärtigen Gebäudeteils des an der M. …straße gelegenen Gebäudes sind die erforderlichen Abstandsflächen ebenso eingehalten. Die Beklagte hat hierzu unter Ziffer IV. 1. Spiegelstrich eine Abweichung erteilt. Auf deren Rechtmäßigkeit kommt es jedoch nicht mehr an. Denn zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber in Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO geregelt, dass – außerhalb von Gewerbe- und Industriegebieten – die Tiefe der Abstandsflächen 0,4 H beträgt. Diese Rechtsänderung zugunsten der Beigeladenen ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Baugenehmigung in der Fassung der Tekturgenehmigung zu berücksichtigen, s. hierzu die Ausführungen oben (Rn. 17). Die Höhe des rückwärtigen Gebäudeteils beträgt an seiner höchsten Stelle 13,89 m (s. Eingabeplan Schnitte, Ansicht Süd (Innenhof)/ Schnitt Bestand). Demnach beträgt 0,4 H 5,56 m. Diese werden offensichtlich eingehalten, siehe hierzu „Lageplan Abstandsflächen“, wonach der Abstand zur Grundstücksgrenze ca. 11 m beträgt.
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2.2.3 Schließlich hält auch die Sichtschutzwand, deren Höhe im Eingabeplan „Lageplan Abstandsflächen“ mit 12,20 m angegeben wird, 0,4 H ein. 0,4 H entspricht hier 4,88 m. Laut dem vorgehend genannten Plan beträgt der Abstand der Sichtschutzwand zum klägerischen Grundstück an der nächsten Stelle ca. 11 m.
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3. Damit war die Klage mit der sich aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 159 ergebenden Kostenfolge abzuweisen. Hierbei entsprach es der Billigkeit, § 162 Abs. 3 VwGO, § 154 Abs. 3 VwGO, den Klägern auch die Kostentragung hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, weil diese sich durch Antragstellung ihrerseits einem Kostenrisiko ausgesetzt hatte.