Titel:
Keine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung des Vaters einer Vierjährigen
Normenketten:
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
EMRK Art. 8
KRK Art. 3, Art. 9
GRCh Art. 24
VwGO § 146 Abs. 4
Leitsatz:
Das Kindeswohl erfordert nicht die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung des Vaters einer Vierjährigen, wenn keine dauerhafte Trennung vom Vater im Raum steht (weil dieser ein italienisches Daueraufenthaltsrecht-EU besitzt, dort für 90 von 180 Tage von der Tochter und ihrer Mutter besucht werden kann, ihm kurzfriste Betretungserlaubnisse erteilt werden können und er die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG schaffen kann). (Rn. 13 – 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anspruch eines Kindes auf Duldung des rechtskräftig ausgewiesenen Vaters, Duldung, Kind, Vater, Ausweisung, Abschiebung
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 17.02.2023 – AN 5 E 23.288
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6178
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin, eine am 5. Februar 2019 geborene äthiopische Staatsangehörige, verfolgt mit der Beschwerde ihr einstweiliges Rechtsschutzbegehren, die Antragsgegnerin zu verpflichten, von Abschiebemaßnahmen gegenüber ihrem Vater abzusehen, bis über die Hauptsache (Klage auf Erteilung einer Duldung für ihren Vater) erstinstanzlich entschieden wurde, weiter.
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Der Vater der Antragstellerin, ein am 31. August 1993 geborener äthiopischer Staatsangehöriger, der im Besitz eines italienischen Daueraufenthaltsrechts-EU ist, wurde mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. Januar 2021 rechtskräftig aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Einreise- und Aufenthaltsverbot ein Jahr bei freiwilliger Ausreise bzw. 18 Monate bei Abschiebung; Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis; Abschiebungsandrohung nach Italien). Die dagegen gerichtete Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts (Az. AN 5 K 21.230) abgewiesen, der Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Januar 2023 (Az. 19 ZB 21.3066) abgelehnt; auf die Gründe des Beschlusses wird Bezug genommen.
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Den Eilantrag der Antragstellerin, im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Antragsgegnerin zu erreichen, von Abschiebemaßnahmen gegenüber ihrem Vater abzusehen, bis über die Hauptsache erstinstanzlich entschieden wurde, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 17. Februar 2023 abgelehnt. Die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung des Vaters der Antragstellerin (Duldung) gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht glaubhaft gemacht. Der Vater der Antragstellerin sei gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, da er den gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitze. Die Ausreisepflicht sei vorliegend auch vollziehbar aufgrund des rechtskräftigen Bescheids der Antragsgegnerin vom 21. Januar 2021, mit dem insbesondere auch der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt und er unter Androhung der Abschiebung insbesondere nach Italien zur Ausreise aufgefordert worden war. Tatsächliche oder rechtliche Gründe, die die Abschiebung unmöglich machen würden, seien jedoch nicht substantiiert dargelegt worden und seien auch nicht ersichtlich. Die Antragstellerin habe insbesondere keinen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung ihres Vaters im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG glaubhaft gemacht. Dies habe die Kammer bereits in dem Urteil vom 23. November 2021 detailliert ausgeführt. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe in dem Beschluss vom 9. Januar 2023 ausführlich dargelegt, dass selbst gewichtige familiäre Belange sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durchsetzen würden und dass das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse habe. Dies insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass der Vater der Antragstellerin, der rechtskräftig ausgewiesen sei und dem es nicht gelungen sei, sich im Bundesgebiet wirtschaftlich zu integrieren, im Besitz einer italienischen Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU sei, so dass es der Antragstellerin und ihrer Mutter jedenfalls möglich und zumutbar sei, in Italien ein gemeinsames Leben mit dem Vater der Antragstellerin aufzubauen. Entgegen den Ausführungen des Bevollmächtigten der Antragstellerin stehe damit eine längerfristige oder gar dauerhafte Trennung der Antragstellerin von ihrem Vater schon gar nicht im Raum, zumal auch ein Visumverfahren für den Fall eines beabsichtigten Zuzugs des Vaters der Antragstellerin in das Bundesgebiet – jedenfalls nach Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots – für den Vater der Antragstellerin als Inhaber einer italienischen Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU entbehrlich sei. Zudem könnten sich die Antragstellerin und ihre Mutter, die gegenwärtig Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 1 und § 33 AufenthG im Bundesgebiet besäßen, bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen frei im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten (Art. 21 SDÜ) bewegen und damit den Vater der Antragstellerin – insbesondere während des bestehenden Einreise- und Aufenthaltsverbotes – in Italien besuchen. Im Übrigen nehme die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen insgesamt auf die Ausführungen in dem Urteil der Kammer vom 23. November 2021 (AN 5 K 21. 00230) und dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Januar 2023 (19 ZB 21.3066) Bezug und sehe diesbezüglich von einer weiteren Begründung gemäß § 117 Abs. 5 VwGO analog ab.
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Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin. Zur Begründung wird ausgeführt, dass zunächst moniert werden müsse, dass zur Begründung in dieser Angelegenheit auf das Urteil der Kammer vom 23. November 2021 und den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Januar 2023 verwiesen werde. Hierbei werde jedoch verkannt, dass es sich bei diesem Verfahren um das Verfahren des Vaters der Antragstellerin gehandelt habe und dass Streitgegenstand dieses Verfahrens insbesondere die Erteilung eines Aufenthaltstitels gewesen sei. In diesem Verfahren sei es nie um die Erteilung einer Duldung gegangen. Es handele sich somit um verschiedene Streitgegenstände, sodass auch das angeführte Urteil bzw. der Beschluss nicht als Begründung herangezogen werden könne, zumal auch die weiteren dort genannten obergerichtlichen Entscheidungen sich immer auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln beziehen würden. Somit sei auch bei der Prüfung nicht derselbe Maßstab anzulegen für die Erteilung einer Duldung wie etwa für die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Obwohl allgemein bekannt und auch allgemein anerkannt sei, dass Kinder für ihre notwendige Entwicklung die sozialen Beziehungen zu ihren Eltern bräuchten und obwohl bekannt sein müsste, dass Kinder auch eigene Rechte, insbesondere auch eigene Grundrechte hätten, seien diese bisher nicht ausreichend berücksichtigt worden. Es werde hierzu auf das Handbuch des deutschen und internationalen Kinder- und Jugendrechts Kinderrechte von Ingo Richter, Lothar Krappmann und Friederike Wapler, 1. Aufl. 2020, verwiesen, die hierzu in Kapitel 1 Nr. 3 ab Seite 73 folgendes ausführten: (es folgt die wortwörtliche Wiedergabe dieser Passage aus dem Handbuch Kinderrechte; insbesondere wird dort ausgeführt, dass in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wie auch im Schrifttum die Belange des Kindes notorisch unter dem unbestimmten Begriff des Kindeswohls behandelt würden, obwohl es in der Sache um konkrete Grundrechtspositionen gehe. Allerdings sei die Kinderrechtskonvention (KRK) in dieser Frage kaum klarer. Klarer als das Grundgesetz formuliere die Kinderrechtskonvention das eigene Recht des Kindes auf den Schutz seines Privat- und Familienlebens (Art. 16 KRK). Die Grund- und Menschenrechte von Kindern würden demnach Wirkung in zwei Richtungen entfalten: zum einen hätten Kinder ein eigenes Recht auf den Schutz ihrer Familie (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 16 KRK) und ihres Privatlebens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 16 KRK) als Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Die Privatheit der Familie werde nicht zu Gunsten der Eltern und gegen das Kind, sondern zu Gunsten beider als Raum der gemeinsamen Persönlichkeitsentfaltung und der sozialen Beziehungen geschützt. Das Bundesverfassungsgericht nenne dies seit einigen Jahren das „Recht des Kindes auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Erziehung“. Zum anderen hätten Kinder Ansprüche gegen den Staat auf Schutz vor ihren Eltern und allgemein vor Gefahren in ihrem privaten Lebensumfeld sowie auf Förderung außerhalb ihrer Herkunftsfamilie). Bei diesen Ausführungen sei insbesondere hervorzuheben, dass aufgrund des Vorrangs der elterlichen Erziehung bereits staatliche Eingriffe zum Schutz des Kindes einer besonderen Rechtfertigung bedürften, dies dann umso mehr, wenn der Staat selbst die Kinderrechte dadurch beeinträchtige, dass er einem Kind ein Elternteil entziehe. Des Weiteren müsse auch gesehen werden, dass sich aus Art. 6 GG auch eigene Grundrechte der Kinder ergäben. Die Aufgabe des Staates sei es, jedem Kind diejenigen Lebensbedingungen zu sichern, die notwendig seien damit es sich zu einem gesunden und selbstbestimmten Erwachsenen entwickeln könne und dazu sei grundsätzlich zu gewährleisten, dass die Kinder auch den tatsächlichen Umgang mit ihren Eltern wahrnehmen könnten und nicht nur etwa über irgendwelche Medien sondern direkt und persönlich. Zur weiteren Begründung werde auf das Handbuch der Kinderrechte (wie oben angegeben auf Kapitel 3 ab S. 119 ff.) verwiesen. Darin werde insbesondere auf die UN-KRK, die Grundrechtecharta (GrCh) und das Grundgesetz verwiesen. Sollte das Kind von einem oder beiden Elternteilen getrennt werden, so seien dennoch die Umgangsrechte des Kindes zu achten. Dies ergebe sich unter anderem aus Art. 9 Abs. 3 UN-KRK. Auch die europäische Grundrechtecharta schütze das Recht des Kindes auf Umgang und Kontakt zu beiden Elternteilen nach Art. 24 Abs. 3 GrCh. Auch werde auf das europäische Übereinkommen über die Ausübung von Kinderrechten von 1996 des Europarats hingewiesen, das das Ziel verfolge, den Kindern eigene Beteiligungsrechte und prozessuale Rechte in Gerichtsverfahren zu gewähren. Das Kind habe ein eigenes Recht auf Umgang gegenüber beiden Eltern nach § 1684 Abs. 2 BGB, die sogar zum Umgang verpflichtet seien. Die Ausgestaltung der Umgangsrechte im Einzelnen liege in der staatlichen Gestaltungsfreiheit. Diese staatliche Gestaltungsfreiheit könne jedoch nicht dazu führen, dass das Umgangsrecht des Kindes verhindert werde. Auch werde in diesem Kapitel die Frage aufgeworfen, ob die bestehenden Kinderrechte in der Praxis tatsächlich hinreichend verwirklicht und von den unterschiedlichen Akteuren wie der Verwaltung und den Gerichten noch angemessen angewendet würden. Ausführlich werde hierzu wie o.a. in dem Handbuch für Kinderrechte folgendes ausgeführt: (es erfolgt eine wortwörtliche Wiedergabe von Kapitel 3 des Handbuchs der Kinderrechte über knapp 40 Seiten mit 172 Anmerkungen). Vor den oben genannten Ausführungen in dem Buch der Kinderrechte stelle sich nunmehr die Frage aus welchen Gründen das Gericht in der angegriffenen Entscheidung die Behauptung aufstellt, „dass tatsächliche oder rechtliche Gründe für die Abschiebung nicht vorliegen“ würden, bzw. nicht substantiiert dargelegt worden wären. Die Antragstellerin und Klägerin habe ein eigenes Recht auf tatsächlichen und persönlichen Umgang mit ihrem Vater. Ein solcher Umgang sei auch für ihre weitere persönliche Entwicklung unbestritten notwendig. Somit ergäben sich aus Art. 6 GG, der UN-KRK und der GrCh eigene Rechte der Antragstellerin, die wiederum dazu führen müssten, dass dem Vater der Antragstellerin eine Duldung erteilt werde, da nur so der Umgang ermöglicht werde. Zum Beweis werde auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23.11.2021 in den Verfahren AN 5 K 21.00230 und AN 5 S 21.00229 hingewiesen, in dem auf S. 5 oben folgendes vermerkt worden sei: „Der Beklagtenvertreter ergänzt, dass die Stadt davon ausgeht, dass mittlerweile eine schützenswerte und gelebte Vater-Kind-Beziehung bestehe, und dass die familiäre Lebensgemeinschaft gelebt werde“. Aus diesen Gründen sei dann auch darauf verzichtet worden, die Mutter der Antragstellerin als Zeugin einzuvernehmen. Nachdem im streitgegenständlichen Beschluss des Verwaltungsgerichts auf die Begründung dieser Verfahren ausdrücklich verwiesen worden sei, sei dem Gericht auch bekannt gewesen, dass eine schützenswerte Vater-Kind-Beziehung zwischen der Antragstellerin und ihrem Vater vorliege. Die Antragstellerin könne auch nicht etwa darauf verwiesen werden, den Umgang in Italien wahrzunehmen, da sie hierfür gar nicht die finanziellen Mittel habe, sodass dies schon ausgeschlossen sei. Des Weiteren habe die Antragstellerin auch keinen italienischen Aufenthaltstitel, sodass sie ihren Vater auch nicht nach Italien begleiten könnte, zumal sie dann von ihrer Mutter getrennt wäre. Zum jetzigen Zeitpunkt leben die Antragstellerin und ihr Vater von den Einkünften der Mutter, die einer Beschäftigung nachgehe. Dieser Beschäftigung könne sie jedoch nicht mehr nachgehen, wenn der Vater der „Klägerin“ nicht mehr anwesend sei, da sich die Mutter dann nur allein um die Antragstellerin kümmern müsste und somit auf Leistungen des Staates angewiesen wäre. Damit wäre es jedoch tatsächlich nicht möglich den persönlichen Kontakt der Antragstellerin zum Vater in Italien aufrechtzuerhalten, bereits mangels genügender finanzieller Mittel. Die Reisen nach Italien und der dortige Aufenthalt und der Unterhalt könnten nicht finanziert werden, zumal auch der Vater der „Klägerin“ dort keinerlei Auskommen habe. Zur weiteren Begründung werde auf eine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15.06.2007 mit dem Az. 3 TG 723/07 verwiesen, der zu der Überzeugung gelangt sei, dass Art. 6 GG ein Menschenrecht sei und nicht ein Grundrecht für Deutsche darstelle. Auch in dem vom Gericht entschiedenen Fall habe es sich bei dem Vater um einen illegal aufhältigen Ausländer gehandelt. Das Gericht sei dennoch zu der Überzeugung gekommen, dass die Familie nicht darauf verwiesen werden könne, das Bundesgebiet zu verlassen. Auch werde darauf hingewiesen, dass bei der Vater-Kind-Beziehung zu berücksichtigen sei, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich werde, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes habe. In dieser Entscheidung werde insbesondere auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 12.05.1987 mit dem Az. 2 BvR 1226/83 und vom 23.01.2006 mit dem Az. BvR 1935/05 hingewiesen. Auch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz komme in seinem Beschluss vom 10.04.2000 mit dem Az. 10 B 10369/00 zu der Überzeugung, dass wohl aufgrund des Kindschaftsreformgesetzes vom 16.12.1997 einem Ausländer ein Aufenthalt gewährt werden müsse, sofern der tatsächlich gepflegte Umgang mit dem Kind über eine reine Begegnungsgemeinschaft hinausgehe und zu einer persönlichen Verbundenheit mit dem Kind geführt habe bzw. Ausdruck einer solchen Verbundenheit sei, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg habe in einem Beschluss vom 02.05.2000 mit dem Az. 13 F 2456/99 entschieden, dass ein ausgewiesener Ausländer, der eine familiäre Lebensgemeinschaft mit einem nicht ehelichen minderjährigen Kind unterhalte, Anspruch auf eine Duldung habe. Das Bundesverfassungsgericht habe in einem Beschluss vom 31.08.1999 mit dem Az. 2 BvR 1529/99 schon ausgeführt, dass in die Interessenabwägung die gesetzgeberische Wertung zugunsten nicht ehelicher Väter und eines gemeinsamen Sorgerechts sowie eines Anspruchs des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen einzustellen sei. Des Weiteren sei bei einer Vater-Kind-Beziehung zu berücksichtigen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich werde. Auch sei etwa eine längere Trennung von Vater und Kind nicht hinnehmbar.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung des Beschwerdevorbringens im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes zu beschränken hat, rechtfertigen keine Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.
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Es kann offenbleiben, ob die Antragstellerin zulässigerweise beantragen kann, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, von Abschiebemaßnahmen gegenüber dem Vater der Antragstellerin abzusehen bis über die Hauptsache erstinstanzlich entschieden wurde. Zwar kann die Antragstellerin grundsätzlich im Zusammenhang von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber ihrem Vater in einem eigenen Verfahren die Verletzung eigener Rechte geltend machen, da bei der Entscheidung über Rechtsmittel eines Ausländers gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen über die Rechte seines Ehegatten oder seiner Familienangehörigen nicht zugleich mitentschieden wird. Diese sind nicht gehindert, ihre eigenen Rechte selbstständig zu verfolgen (vgl. BVerwG, B.v. 11.7.2008 – 1 B 8.08 – juris Rn. 5; NdsOVG, B.v. 19.2.2018 – 13 OB 22/18 – juris Rn. 5 jeweils m.w.N.; OVG Saarland, B.v. 22.2.2005 – 2 Q 53/04 – juris Rn. 6). Allerdings ist fraglich, ob das eigene Recht des Familienangehörigen diesem eine über die Anfechtungsmöglichkeit bezüglich der ausländerrechtlichen Maßnahme zur Beendigung der familiären Lebensgemeinschaft hinausgehenden (Leistungs-)Anspruch auf Duldung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den die Aussetzung der Abschiebung oder einen Titel begehrenden Ausländer, welcher mit einer Verpflichtungsklage verfolgt werden könnte, vermittelt (vgl. VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.7.2015 – 11 S 164/15 – juris).
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Jedenfalls hat die Antragstellerin aber einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung ihres Vaters nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG – wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – weder im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG bzw. Art. 8 EMRK (1.) noch auf Grund des Übereinkommens über die Rechte des Kindes – KRK (BGBl II 1992 S. 121) (2.) oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – GRCh (ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 1) (3.) glaubhaft gemacht. Auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens ergibt sich nicht, dass dem Vater der Antragstellerin – bis über die Hauptsache erstinstanzlich entschieden wurde – eine Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu erteilen wäre.
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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange seine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine Unmöglichkeit aus rechtlichen Gründen liegt vor, wenn sich aus nationalen Gesetzen, Verfassungsrecht (z.B. Art. 6 GG), Unionsrecht (z.B. Art. 8 EMRK) oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt.
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1. Die Abschiebung des Vaters der Antragstellerin ist vorliegend nicht deshalb aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil sie mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit den Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1, 2 GG bzw. Art. 8 EMRK in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigen würde.
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Aus Art. 6 GG ergeben sich aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17 ff. m.w.N.). Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16). Weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK gewähren jedoch einen unmittelbaren Anspruch auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet. Die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat Ehe und Familie zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiäre Bindung des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei ihrer Ermessensausübung pflichtgemäß, d.h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Es ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (BVerfG, B.v. 31.8.1999 – 2 BvR 1523/99 – juris Rn. 7 m.w.N.). Art. 6 GG entfaltet jedoch ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht schon aufgrund formal-rechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 31). Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, die durch wiederholte Besuche, durch Brief- und Telefonkontakte sowie durch Zuwendungen aufrechterhalten werden kann (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 20; BVerfG, B.v. 14.12.1989 – 2 BvR 377/88 – juris). Voraussetzung für die Zuerkennung eines Abschiebungshindernisses wegen bestehender Beistandsgemeinschaft ist, dass ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen Deutschlands nicht zumutbar ist (BVerfG, B.v. 25.10.1995 – 2 BvR 901/95 – juris Rn. 10 m.w.N.). Eine Beistandsgemeinschaft liegt allerdings nur vor, wenn die wesentliche Hilfe von dem Familienmitglied und nicht von anderen Personen geleistet wird (BVerfG, B.v. 14.12.1989 – 2 BvR 377/88 – juris). Eine Eltern-Kind-Beziehung unterfällt dem Schutzbereich des Art. 6 GG dann, wenn eine verantwortungsvoll gelebte, dem Schutzzweck des Art. 6 GG entsprechende Eltern-Kind-Gemeinschaft besteht (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 31), die sich jedoch nicht allein quantitativ etwa nach Daten und Uhrzeiten des persönlichen Kontakts oder genauem Inhalt der einzelnen Betreuungshandlungen bestimmen lässt. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 21). Dies erfordert eine Untersuchung im Einzelfall, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Es ist zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 14). Für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit der familiären Gemeinschaft und der Zumutbarkeit einer (vorübergehenden) Trennung sowie der Möglichkeit, über Briefe, Telefonate und Besuche auch aus dem Ausland Kontakt zu halten, spielt schließlich das Alter des Kindes eine wesentliche Rolle (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 37 m.w.N.). Für das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK gilt insoweit nichts anderes, da auch insoweit ein tatsächlich gelebtes Näheverhältnis zwischen den Familienmitgliedern vorausgesetzt wird (EGMR, U.v. 13.6.1979 – Marckx/Belgien, Nr. 6833/74 – EuGRZ 1979, 454 Rn. 31).
11
Dies zugrunde gelegt lässt sich auch in Anbetracht der ausländerrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 GG der Beschwerdebegründung nicht entnehmen, dass (insbesondere neue) Umstände vorliegen, die im Hinblick auf das Kindeswohl es erfordern würden, eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung des Vaters der Antragstellerin anzuordnen. Auch unter Annahme einer schutzwürdigen Vater-Tochter-Beziehung ergibt sich vorliegend aus den Umständen des Einzelfalls, dass hier der grundsätzlich zu gewährleistende Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG die öffentlichen Interessen nicht überlagert; auch gewichtige familiäre Belange setzen sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch. Das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl hat nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse (BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 44).
12
Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung daher zu Recht auf sein Urteil vom 23. November 2021 (AN 5 K 21. 00230) und damit seinen Beschluss vom 16. November 2021 (AN 5 S 21.00229; AN 5 K 21.00230) sowie den Beschluss des Senats vom 9. Januar 2023 (19 ZB 21.3066) Bezug genommen. Zwar handelte es sich bei diesen beiden Verfahren um solche des Vaters der Antragstellerin, mit denen dieser die Aufhebung der ihn betreffenden Ausweisungsverfügung und des zuletzt auf ein Jahr bzw. 18 Monate befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbotes sowie die Erteilung eines Aufenthaltstitels, hilfsweise einer Duldung begehrte. Allerdings wurden die von Art. 6 GG geschützten Interessen der Familienangehörigen des Vaters der Antragstellerin und damit auch die der Antragstellerin selbst in diesen Entscheidungen umfassend berücksichtigt (vgl. insbesondere S. 27 ff. des Beschlusses des Senats 9.1.2023 – 19 ZB 21.3066 –). Bereits in diesen Verfahren des Vaters der Antragstellerin wurde unter anderem auch eine Verletzung der Antragstellerin in ihrem Grundrecht aus Art. 6 GG und ihren Rechten aus der Grundrechte-Charta der Europäischen Union sowie im Hinblick auf das Kindeswohl geltend gemacht. Auch ging es in diesen Verfahren des Vaters der Antragstellerin – anders als es die Beschwerdebegründung darstellt – nicht nur und primär um die Erteilung eines Aufenthaltstitels an den Vater der Antragstellerin, sondern vor allem um dessen Ausweisung, das damit verbundene befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie hilfsweise auch die Erteilung einer Duldung an ihn. Entgegen der Auffassung der Antragstellerin ist bei der Prüfung einer Ausweisung eines Ausländers im Hinblick auf dessen familiäre Bindungen bezüglich Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und der Prüfung der Verletzung eigener Rechte des Familienangehörigen (hier: der Antragstellerin) der gleiche Maßstab anzulegen. Das Verwaltungsgericht konnte daher zu Recht auf sein rechtskräftiges Urteil vom 23. November 2021 und den Beschluss des Senats vom 9. Januar 2023 verweisen.
13
Insbesondere ist zusätzlich nochmals darauf hinzuweisen, dass eine dauerhafte Trennung der Antragstellerin von ihrem Vater nicht im Raum steht. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 9. Januar 2023 ausgeführt hat, können die Antragstellerin und ihre Mutter den Vater der Antragstellerin in Italien bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen besuchen; es sind im Übrigen auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, weshalb die familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet und nicht auch in Italien gelebt werden könnte, sofern der Vater der Antragstellerin die dafür nötigen Voraussetzungen in Italien erfüllt. Für den Vater der Antragstellerin sind zudem während der Dauer des befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots kurzfristige Betretungserlaubnisse für das Bundesgebiet möglich. Darüber hinaus kann sich der Vater der Antragstellerin nach Ablauf des zuletzt auf ein Jahr bei freiwilliger Ausreise bzw. 18 Monate bei Abschiebung befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots bis zu 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen wieder legal im Bundesgebiet aufhalten und dann weiterhin die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG schaffen.
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In Anbetracht dieser Möglichkeiten und einer daher nur vorübergehenden kurzzeitigen Abwesenheit des Vaters, die in zeitlicher Hinsicht mit den sich aus Art. 6 GG ergebenden aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen gegenüber der vierjährigen Antragstellerin vereinbar ist, erfordert das Kindeswohl hier nicht die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung des Vaters der Antragstellerin.
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Soweit die Antragstellerin vorträgt, dass sie und ihr Vater von den Einkünften ihrer Mutter, die einer Beschäftigung nachgeht, leben würden, die Mutter dieser Beschäftigung jedoch nicht mehr nachgehen könnte, wenn der Vater der Antragstellerin nicht mehr anwesend wäre, da sich die Mutter dann nur allein um die Antragstellerin kümmern müsste, ist darauf hinzuweisen, dass es durchaus der Normalität familiären Alltags entspricht, dass sich eine Mutter unter den hier gegebenen Bedingungen zeitweise allein – auch unter Zuhilfenahme entsprechender Betreuungseinrichtungen – um ein Kleinkind kümmert und dies ohne wesentliche Schwierigkeiten bewältigen kann. Es entspricht auch der Normalität familiären Alltags, dass Väter z. B. aus beruflichen Gründen wochenlange Trennungen von ihren Kindern, auch wenn diese noch sehr klein sind, hinnehmen (müssen). Auch ist zu berücksichtigen, dass die am 5. Februar 2019 geborene Antragstellerin bereits über 4 Jahre alt ist und zum einen im Vorfeld von den Eltern in geeigneter Weise auf die vorübergehende Abwesenheit des Vaters vorbereitet werden kann. Es obliegt den Eltern, dem Kind altersgerecht zu vermitteln, dass die Abwesenheit des Vaters der Antragstellerin nicht mit einem endgültigen Verlust des Vaters verbunden ist.
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In den Blick zu nehmen ist zudem, dass der Vater der Antragstellerin während deren erstem Lebensjahr sich in Italien aufgehalten hat und sich erst seit Februar 2020 bei der Antragstellerin und deren Mutter aufhält. Für die Antragstellerin ist daher sogar eine längere Abwesenheit des Vaters (die hier jedoch – wie bereits ausgeführt – nicht im Raume steht) nichts völlig neues oder Ungewöhnliches; das Familienleben wies mithin bereits in der Vergangenheit Trennungen auf.
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Soweit sich die Antragstellerin darauf berufen möchte, dass die Ausweisung ihres Vaters einen Eingriff in ihr durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Familienleben bedeutet, ist darauf hinzuweisen – wie dies der Senat in seinem Beschluss vom 9. Januar 2023 auch bereits getan hat –, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK einen solchen Eingriff zulässt, weil er „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die … öffentliche Sicherheit“. Denn die bei der Abwägung einzustellenden Interessen von Vater, Kind (Antragstellerin) und Lebensgefährtin am weiteren Verbleib des Vaters der Antragstellerin im Bundesgebiet besitzen erheblich weniger Gewicht als die gegen einen weiteren Aufenthalt des Vaters der Antragstellerin im Bundesgebiet sprechenden Gründe (mehrfache Verwirklichung von Straftatbeständen, general- und spezialpräventive Erwägungen). Festzuhalten ist zudem – wie bereits ausgeführt –, dass das zwischen einem Ausländer und seinem minderjährigen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse hat (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 44).
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2. Nichts anderes ergibt sich aus den Bestimmungen der KRK, ungeachtet der Frage, ob die Ausländerbehörden an deren Bestimmungen nach Rücknahme des Vorbehalts im Juli 2010 unmittelbar gebunden sind (vgl. BVerwG vom 10.2.2011 Az. 1 B 22.10 <juris> Rn. 4; OVG Lüneburg vom 18.1.2011 DVBl 2011, 289). Denn auch nach Art. 3 Abs. 1 KRK ist zwar bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist, die Konvention sperrt aber nicht grundsätzlich jede Ausweisung eines Elternteils (vgl. Art. 9 Abs. 4 Satz 1 KRK; BVerwG vom 10.2.2011 a.a.O.). Vielmehr ist für jeden Einzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen des Kindes und den öffentlichen Belangen vorzunehmen (BayVGH, B.v. 8.7.2011 – 10 ZB 10.3028 – juris Rn. 15). Dies entspricht dem Vorgehen bei entsprechenden Maßnahmen der Ausländerbehörde (zum Beispiel einer Ausweisung), bei denen das besondere Gewicht der familiären Bindungen und das Kindeswohl minderjähriger Kinder gemäß Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK berücksichtigt wird. Diese umfassende Abwägung ist – wie bereits ausgeführt – in dem Verfahren des Vaters der Antragstellerin über dessen Ausweisung erfolgt. Darüber hinausgehende Rechte zum Schutz der minderjährigen Antragstellerin vermittelt die KRK nicht. Insbesondere vermittelt die KRK dem Vater der Antragstellerin keinen Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet. Zwar stellen die Vertragsstaaten gem. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 KRK sicher, dass ein Kind grundsätzlich nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird. Einer Abschiebung steht die KRK bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen jedoch – wie bereits ausgeführt – nicht entgegen; ist die Trennung die Folge einer Abschiebung eines Elternteils, besteht lediglich ein Auskunftsanspruch der Eltern, des Kindes oder ggf. eines anderen Familienangehörigen über den Verbleib des abwesenden Familienangehörigen (Art. 9 Abs. 4 Satz 1 KRK).
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3. Die seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (2009) über Art. 6 Abs. 1 EUV verbindliche und in den Rang des Primärrechts erhobene Grundrechtecharta der EU enthält mit Art. 24 GRCh eine spezielle Norm, die sich ausschließlich den Rechten des Kindes widmet, wobei sich alle drei Absätze von Art. 24 GRCh an Bestimmungen der KRK orientieren und eigenständige Partizipationsrechte des Kindes vorsehen (Schmahl, Kinderrechtskonvention, Einleitung Rn. 14, beck-online).
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Aber auch aus Art. 24 Abs. 2 und 3 GRCh ergibt sich kein Anspruch der Antragstellerin auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ihres Vaters. Denn die Rechte des Kindes aus Art. 24 Abs. 3 GR-Charta auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen können – ungeachtet der Frage, ob der Anwendungsbereich nach Art. 51 Abs. 1 GRCh überhaupt eröffnet ist – gemäß Art. 52 GRCh unter bestimmten Voraussetzungen eingeschränkt werden. Auch wenn Art. 24 Abs. 3 GRCh zu einer Stärkung der Rechtsposition eines Kindes führen sollte, wäre in jedem Einzelfall zu prüfen, ob und inwieweit in diese Rechte durch die Ausweisung eines Elternteils eingegriffen werden kann. Diese Entscheidung ist allerdings unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit zu treffen, was bedeutet, dass in jedem Einzelfall eine sorgfältige Prüfung und Abwägung der gegenläufigen Interessen zu erfolgen hat (BayVGH, B.v. 8.7.2011 – 10 ZB 10.3028 – juris Rn. 14).
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Art. 24 Abs. 2 GRCh statuiert aber keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls. Die Bestimmung fordert vielmehr nur, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Das Wohlergehen des Kindes muss danach zwar bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden, es bindet die staatlichen Stellen aber nicht derart, dass diesem stets der Vorrang eingeräumt werden müsste und nicht andere Gründe überwiegen könnten. Der Gerichtshof der Europäischen Union (U.v. 27.6.2006, Az.: C-540/03, juris) hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass ein angemessener Ausgleich zwischen den einander gegenüberstehenden Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herbeizuführen ist (Rn. 54), aber sich hieraus ein das Ermessen auf Null reduzierender, grundsätzlicher Vorrang des Kindeswohls nicht ergibt (Rn. 59). Inhaltlich entspricht das Recht nach Art. 7 und 24 GRCh den in Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleisteten Rechten in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (EuGH, U.v. 15.11.2011, Az.: C-256/11, juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 13.6.2013, Az.: 10 C 16.12, juris Rn. 23, 24). Art. 7 und 24 GRCh ist somit die gleiche Bedeutung und Tragweite beizumessen wie Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.2015 – 1 B 26/15 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 14.7.2021 – 19 ZB 21.719 – juris Rn. 30).
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Auch im Hinblick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 11. März 2021 (Az. C 112/20), wonach Art. 5 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 24 der GRCh dahin auszulegen sei, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen hätten, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handele, kann die Beschwerde keinen Erfolg haben. Denn die Berücksichtigung des Kindeswohls ist vorliegend – wie bereits ausgeführt – in den Entscheidungen des Verwaltungsgerichts vom 23. November 2021 (AN 5 K 21. 00230) und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 9. Januar 2023 (19 ZB 21.3066) über die Ausweisungsverfügung des Vaters der Antragstellerin geschehen.
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Da Art. 8 EMRK – wie bereits oben ausgeführt und in dem Verfahren über die Ausweisung des Vaters der Antragstellerin ausführlich dargelegt und begründet wurde – der (vorübergehenden) Trennung der Antragstellerin von ihrem Vater nicht entgegensteht, ergibt sich auch aus Art. 24 GRCh kein Anspruch der Antragstellerin auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ihres Vaters.
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Soweit die Antragstellerin zur Begründung der Beschwerde auf die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15.06.2007 mit dem Az. 3 TG 723/07 hinweist, in der ausgeführt werde, dass Art. 6 GG ein Menschenrecht sei und nicht nur ein Grundrecht für Deutsche darstelle, weiterhin die Familie nicht darauf verwiesen werden könne, das Bundesgebiet zu verlassen und dass bei der Vater-Kind-Beziehung zu berücksichtigen sei, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich werde, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes habe, kann dies bei der hier vorliegenden Konstellation nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Zum einen wird im hier vorliegenden Verfahren nicht in Abrede gestellt, dass die Antragstellerin sich auf Art. 6 GG berufen kann, sich jedoch vorliegend – wie bereits ausgeführt – aus den Umständen des Einzelfalls ergibt, dass hier der grundsätzlich zu gewährleistende Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG die öffentlichen Interessen nicht überlagert; auch gewichtige familiäre Belange setzen sich nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen durch. Das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl hat nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse. Zum anderen wird auch vorliegend nicht verkannt, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters der Antragstellerin für diese eine Rolle spielt, da insoweit eine bestehende schutzwürdige Vater-Tochter-Beziehung angenommen wurde, jedoch im hier vorliegenden Verfahren keine längerfristige oder gar dauerhafte Trennung des Vaters der Antragstellerin von dieser im Raum steht, sondern – wie bereits ausgeführt – lediglich ein bei Abschiebung (nach Italien) des Vaters der Antragstellerin 18 Monate dauerndes Einreise- und Aufenthaltsverbot, das u.a. durch zeitlich umfangreiche Besuchsmöglichkeiten durch die Antragstellerin und ihrer Mutter bei dem Vater in Italien überbrückt werden könnte. Ebenso kommt wie ausgeführt ein gemeinsames Leben in Italien in Betracht.
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Auch soweit zur Begründung der Beschwerde auf die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. April 2000 mit dem Az. 10 B 10369/00 und des Bundesverfassungsgerichts vom 31. August 1999 mit dem Az. 2 BvR 1529 (wohl: 1523)/99 verwiesen wird, ist festzuhalten – worauf die Antragsgegnerin zu Recht hinweist –, dass in beiden Verfahren u.a. nicht eine Ausweisung des Kindsvaters – anders als im hier vorliegenden Fall – im Raume stand, was jedoch – wie bereits ausgeführt – bei der Beurteilung des Einzelfalls und hier insbesondere bei der Abwägung des Kindeswohls und der öffentlichen Interessen zu divergierenden Entscheidungen führt.
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Auch der in der Begründung der Beschwerde aufgeführten Entscheidung des VGH Baden-Württemberg vom 2. Mai 2000 mit dem Az. 13 F (wohl: S) 2456/99, wonach ein ausgewiesener Ausländer, der eine familiäre Lebensgemeinschaft mit einem nichtehelichen minderjährigen Kind unterhält, Anspruch auf eine Duldung habe, lag ein in wesentlichen Punkten abweichender Sachverhalt von dem hiesigen Verfahren zugrunde. Zwar lag seinerzeit ebenfalls eine bestandskräftige Ausweisung des Vaters eines minderjährigen Kindes vor; allerdings hatte die familiäre Beziehung des Ausländers zu seinem Kind im Ausweisungsverfahren noch keine Berücksichtigung gefunden, sodass die Feststellung einer schützenswerten familiären Beziehung und einer daraus resultierenden (rechtlichen) Unmöglichkeit der Ausreise des Kindsvaters erstmals im Verfahren des Kindes geprüft und im seinerzeitigen Einzelfall bejaht wurde. Vorliegend wurde jedoch bereits im Ausweisungsverfahren des Vaters der Antragstellerin die familiäre Beziehung zwischen der Antragstellerin und ihrem Vater umfassend geprüft und im Ergebnis die Ausweisung des Vaters der Antragstellerin auch im Hinblick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK – damit auch im Hinblick auf die daraus resultierenden Rechte der Antragstellerin – für rechtmäßig befunden.
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Soweit zur Begründung der Beschwerde umfangreiche wortwörtliche Zitate aus dem „Handbuch des deutschen und internationalen Kinder- und Jugendrechts Kinderrechte“ von Ingo Richter, Lothar Krappmann und Friederike Wapler wiedergegeben werden, mit denen wohl insbesondere das Bestehen eigener Rechte von Kindern aus den Grundrechten, der UN-Kinderrechtskonvention und der Grundrechtecharta der Vereinten Nationen belegt werden sollen (neben der umfangreichen Wiedergabe der „Kinderrechte im Familienrecht“, wie „Das Recht des Kindes auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit“, „Das Recht des Kindes auf Kenntnis der Abstammung“, „Die Trennung des Kindes von der Familie aus Kindeswohlgründen“, „Adoption“, „Kinder in Pflegefamilien“, „Vormundschaft“ etc., die im hier streitgegenständlichen Verfahren keinerlei Rolle spielen), sind insoweit unbehelflich, da das Bestehen solcher eigener Rechte des Kindes (hier der Antragstellerin) unbestritten sind. Jedoch können diese Rechte – wie oben ausgeführt – der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen.
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Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).