Titel:
Rechtmäßige Einreiseverweigerung bei einem vormaligen drittstaatsangehörigen Familienangehörigen einer Unionsbürgerin
Normenketten:
Schengener Grenzkodex Art. 6, Art. 14
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 5
Leitsätze:
1. Eine über den Gültigkeitszeitpunkt hinausgehende Nachweis- oder Feststellungswirkung kommt der Aufenthaltskarte eines drittstaatsangehörigen Ehegatten einer Unionsbürgerin nicht zu. (Rn. 8) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Es sprechen gute Gründe dafür, dass es bei einer Einreisekontrolle nach Art. 14 Abs. 1 SGK nicht geboten ist, das Vorliegen eines materiellen Rechts auf Einreise und Aufenthalt zu prüfen. (Rn. 9) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Der Suspensiveffekt einer gegen die Feststellung des Nichtbestehens eines Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gerichteten Klage vermag ein - materiell tatsächlich nicht bestehendes – Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht zu fingieren. (Rn. 9) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Das Aufenthaltsrechts des Familienangehörigen eines Unionsbürgers erlischt bei dessen Wegzug kraft Gesetzes, ohne dass es einer gesonderten Entscheidung der zuständigen Behörde hierzu bedarf (EuGH BeckRS 2021, 24496). (Rn. 10) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Ehegatten eines Unionsbürgers setzt voraus, das bei Einleitung eines Ehescheidungsverfahrens ein Aufenthaltsrecht noch besteht, was jedoch dann nicht der Fall ist, wenn der Unionsbürger bereits zuvor den Aufnahmemitgliedstaat verlassen hat (BVerwG BeckRS 2019, 9296). (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Einreiseverweigerung, Drittstaatsangehöriger (serbischer Staatsangehöriger), Einreisevoraussetzungen, Ausschreibung im SIS zur Einreiseverweigerung, Inhaber eines Aufenthaltstitels, Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines Unionsbürgers nach der Scheidung, Aufenthaltskarte, serbischer Staatsangehöriger, Schengener Informationssystem, Ausschreibung zur Einreiseverweigerung, drittstaatsangehöriger Ehegatte eines Unionsbürgers, Scheidung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 16.03.2023 – Au 1 E 23.388
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6172
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. In Abänderung von Nr.
III. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 16. März 2023 wird der Streitwert für beide Instanzen auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein serbischer Staatsangehöriger, seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Antrag weiter, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 16. März 2023 gegen die mit Bescheid der Grenzpolizei vom 14. März 2023 verfügte Einreiseverweigerung gemäß Art. 14 Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex, ABl. L 77 S. 1, ber. 2018 L 272 S. 69) – im Folgenden: Schengener Grenzkodex – anzuordnen.
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Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die durch den Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf die der Senat seine Prüfung nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen es nicht, die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzuändern.
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Das Verwaltungsgericht ist von der Rechtmäßigkeit der Einreiseverweigerung und demgemäß von einem überwiegenden öffentlichen Interesse des Antragsgegners an einer geordneten Einreise ins Bundesgebiet ausgegangen. Die Voraussetzungen für die Einreiseverweigerung gemäß Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 5 Schengener Grenzkodex lägen vor. Der Antragsteller sei von Österreich im SIS zur Einreiseverweigerung im Schengenraum ausgeschrieben und erfülle damit nicht die Einreisevoraussetzung für Drittstaatsangehörige gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. d) Schengener Grenzkodex. Er gehöre auch nicht zum Personenkreis nach Art. 6 Abs. 5 Schengener Grenzkodex, weil er nicht Inhaber eines Aufenthaltstitels (oder eines Visums für einen längerfristigen Aufenthalt) sei. Seine bis zum 5. Februar 2022 befristete Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern gelte nicht mehr. Selbst wenn man davon ausginge, dass aufgrund des noch anhängigen Klageverfahrens des Antragstellers vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen (Az. 7 K 103/23), das sich gegen eine mit Bescheid des Landratsamtes Alb-Donau-Kreis vom 18. Februar 2021 verfügte Feststellung richte, dass der Antragsteller zu keinem Zeitpunkt ein Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU besessen habe, eine Verfahrensduldung entsprechend § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG folgen könnte, wäre diese jedenfalls mit der Ausreise des Antragstellers aus dem Bundesgebiet erloschen. Auch im Übrigen seien das verwaltungsgerichtliche Streitverfahren über ein etwaiges Freizügigkeitsrecht des Antragstellers und der Suspensiveffekt der Klage ohne Einfluss auf die Einreiseverweigerung nach Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex. Ein Prüfungsrecht bezüglich eines materiellen Rechts auf Einreise und Aufenthalt komme der zuständigen Grenzbehörde im Rahmen der Prüfung gemäß Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex nicht zu.
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Demgegenüber wendet der Antragsteller mit seiner Beschwerde ein, die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts sei fehlerhaft. Die Aufenthaltskarte für Familienangehörige nach § 5 Abs. 1 FreizügG/EU begründe ein Freizügigkeitsrecht nicht konstitutiv, sondern habe lediglich deklaratorische Bedeutung. Daher komme es nicht entscheidend darauf an, dass seine Aufenthaltskarte lediglich bis zum 5. Februar 2022 befristet gewesen sei. Durch die Erteilung dieser (befristeten) Aufenthaltskarte an ihn sei jedoch verbindlich festgestellt, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU erfüllt seien. Bisher sei jedenfalls noch nicht rechtskräftig entschieden worden, dass ihm ein Freizügigkeitsrecht nicht (mehr) zustehe. Demzufolge sei die Einreiseverweigerung rechtswidrig.
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Damit wird aber ein Rechtsfehler des Verwaltungsgerichts nicht aufgezeigt. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht die auf Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex gestützte Einreiseverweigerung des Antragsgegners bei der im Eilrechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung des entscheidungserheblichen Sachverhalts zutreffend als rechtmäßig bewertet.
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Gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Schengener Grenzkodex wird einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erfüllt und der nicht zu dem in Art. 6 Abs. 5 genannten Personenkreis gehört, die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Nach Art. 14 Abs. 3 Schengener Grenzkodex steht Personen, denen die Einreise verweigert wird, ein Rechtsmittel zu; die Verfahren für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmen sich nach nationalem Recht. Die Einlegung eines solchen Rechtsmittels hat jedoch keine aufschiebende Wirkung im Hinblick auf die Entscheidung über die Einreiseverweigerung.
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Dahinstehen kann vorliegend, ob sich – abhängig von dem konkreten Rechtsschutzbegehren – der vorläufige Rechtsschutz gegen die streitgegenständliche Einreiseverweigerung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 oder § 123 Abs. 1 VwGO richtet (zur vergleichbar gelagerten Frage des vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Zurückweisung nach § 15 AufenthG vgl. Dollinger in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.7.2020, AufenthG § 15 Rn. 68), da es sich bei der Einreiseverweigerung nach Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex zum einen um eine gebundene Entscheidung handelt und zum anderen der Antragsteller im Beschwerdeverfahren ausdrücklich (nur noch) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen diesen sofort vollziehbaren Verwaltungsakt begehrt.
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Die Einreiseverweigerung ist im Fall des Antragstellers zu Recht verfügt worden. Der Antragsteller ist Drittstaatsangehöriger im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 6 Schengener Grenzkodex, da er weder Unionsbürger im Sinne des Artikels 20 Abs. 1 AEUV, noch ein unter Art. 2 Nr. 5 Buchst. a) Schengener Grenzkodex fallender Familienangehöriger eines sein Recht auf freien Personenverkehr ausübenden Unionsbürgers, der unter die RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates fällt, ist (vgl. auch Art. 3 Buchst. a) Schengener Grenzkodex). Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die – wie der Antragsteller – nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird nach Art. 10 Abs. 1 RL 2004/38/EG eine „Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers“ ausgestellt. Diese Aufenthaltskarte gilt gemäß Art. 11 RL 2004/38/EG für fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausstellung oder für die geplante Aufenthaltsdauer des Unionsbürgers, wenn diese weniger als fünf Jahre beträgt (s. auch § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, war die Aufenthaltskarte des Antragstellers als Familienangehöriger seiner (früheren) bulgarischen Ehefrau nur bis zum Ende der fünfjährigen Frist am 5. Februar 2022 gültig. Eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Nachweis- oder Feststellungswirkung (zur wohl nicht mehr eindeutigen Rechtsnatur einer solchen Aufenthaltskarte vgl. z.B. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU § 5 Rn. 30 ff.; Gerstner-Heck in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, Stand 15.1.2023, FreizügG/EU § 5 Rn. 6 f.; Kurzidem in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.1.2023, FreizügG/EU § 5 Rn. 5) kommt der nur bis zum 5. Februar 2022 gültigen Aufenthaltskarte des Antragstellers entgegen dem Beschwerdevorbringen nicht zu. Den Nachweis eines Aufenthaltsrechts als Familienangehöriger eines Unionsbürgers hat der Antragsteller damit weder im Zeitpunkt der Einreisekontrolle und Einreiseverweigerung noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats geführt. Nach dem Vorbringen des Antragsgegners im Eilrechtsschutzverfahren vor dem Verwaltungsgericht haben die Kontrollbehörden am Flughafen im Übrigen aufgrund der Angabe des Antragstellers, Ehegatte einer Unionsbürgerin zu sein, sogar die zuständige Ausländerbehörde kontaktiert, die diese Angabe nicht bestätigt, sondern verneint hat.
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Auch der mit Blick auf das noch anhängige Verfahren beim Verwaltungsgericht Sigmaringen (Az. 7 K 103/23, betreffend die Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Landratsamtes Alb-Donau-Kreis vom 18. Februar 2021) erhobene Einwand der Antragstellerseite, bisher sei noch nicht rechtskräftig darüber entschieden, dass ihm ein Freizügigkeitsrecht nicht (mehr) zustehe, greift nicht durch. Unabhängig davon, dass auch nach Auffassung des Senats gute Gründe dafürsprechen, dass eine (weitergehende) Prüfung des Vorliegens eines materiellen Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Rahmen der Einreisekontrolle gemäß Art. 14 Abs. 1 Schengener Grenzkodex nicht geboten ist, kommt es nicht – wie der Antragsteller meint – entscheidend darauf an, ob die (behördliche) Feststellung des Nicht(mehr) bestehens eines Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (s. § 5 Abs. 4 FreizügG/EU) rechtskräftig erfolgt ist. Der Suspensiveffekt einer Klage (vgl. z.B. Kurzidem in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand 1.1.2023, FreizügG/EU § 5 Rn. 19) vermag in dieser Konstellation ein – materiell tatsächlich nicht bestehendes – Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht zu fingieren.
10
Der Antragsteller hat im gesamten bisherigen Verfahren ein fortbestehendes Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines Unionsbürgers weder substantiiert dargelegt oder gar glaubhaft gemacht, noch ist ein solches Recht nach den vorliegenden Akten auch nur hinreichend wahrscheinlich. Denn das Aufenthaltsrecht des Angehörigen eines Unionsbürgers erlischt bei Wegzug des Unionsbürgers (hier: Wegzug der bulgarischen Ehefrau des Antragstellers im Juni 2020 ins Ausland, Scheidung im Oktober 2022) kraft Gesetzes, d.h. ohne eine gesonderte Entscheidung der zuständigen Behörde (EuGH, U.v. 2.9.2021 – C-930/19 – juris Rn. 41; U.v. 16.7.2015 – C-218/14 juris Rn. 67). Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Angehörigen setzt voraus, dass ein Aufenthaltsrecht bei Einleitung des Ehescheidungsverfahrens noch besteht, was jedoch insbesondere dann nicht der Fall ist, wenn der Unionsbürger bereits zuvor den Aufnahmemitgliedstaat verlassen hat (EuGH, U.v. 16.7.2015, a.a.O. – Rn. 58 ff.; BVerwG, U.v. 28.3.2019 – 1 C 9.18 – juris Rn. 20 ff.; BayVGH, B.v. 4.12.2019 – 10 ZB 19.2131 – juris Rn. 9; zuletzt B.v. 12.9.2022 – 10 ZB 21.2127 – Rn. 6, nicht veröffentlicht).
11
Das vom Verwaltungsgericht bejahte Vorliegen der weiteren Voraussetzungen einer Einreiseverweigerung gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Schengener Grenzkodex, dass nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erfüllt sind und der Betroffene nicht zu dem in Art. 6 Abs. 5 genannten Personenkreis (als Inhaber eines Aufenthaltstitels oder eines Visums für einen längerfristigen Aufenthalt) gehört, wird mit dem Beschwerdevorbringen nicht substantiiert infrage gestellt.
12
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
13
Die Streitwertfestsetzung für das Verfahren in beiden Rechtszügen ergibt sich aus § 63 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 bzw. 2, § 52 Abs. 2 GKG, wobei nach Auffassung des Senats für die in Streit stehende Einreise in das Bundesgebiet in der Hauptsache der Auffangwert anzusetzen ist.
14
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).