Inhalt

VGH München, Beschluss v. 07.03.2023 – 19 ZB 22.624
Titel:

Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen wegen Betäubungsmitteldelikten

Normenketten:
AufenthG § 4 Abs. 2, § 11 Abs. 3 S. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 3, 54 Abs. 1 Nr. 1, 55 Abs. 1 Nr. 2, § 72 Abs. 2
EWG-Türkei Art. 7, Art. 14
StGB § 57, § 64
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer nach § 57 StGB eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die der Ausweisung zugrundeliegende Prognoseentscheidung bezieht sich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
4. Bestehen an der inhaltlichen Richtigkeit oder Vollständigkeit der Stellungnahme des Bundesamtes nach § 72 Abs. 2 AufenthG begründete Zweifel, so wird die Ausländerbehörde bzw. das Verwaltungsgericht iRd Amtsermittlung gem. Art. 24 Abs. 1 VwVfG bzw. § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO unter Umständen eigene Ermittlungen – gegebenenfalls durch Einholen von Auskünften sachkundiger Stellen bzw. eines Sachverständigengutachtens – durchzuführen und die Entscheidung somit auf eine breitere Tatsachengrundlage zu stellen haben. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Assoziationsrecht, Unerlaubte Einfuhr und unerlaubtes Handeltreiben mit Btm (Marihuana), Wiederholungsgefahr, Grundinteresse der Gesellschaft, Strafrest-/Maßregelvollzugsaussetzung, Bleibeinteresse bei assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, Zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Herzerkrankung, Antrag auf Zulassung der Berufung, assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht, Unerlässlichkeit der Ausweisung, faktischer Inländer, im Bundesgebiet geboren, türkischer Staatsangehöriger, minderjährige deutsche Kinder, unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln, Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, Marihuana, Betäubungsmittelabhängigkeit, Drogentherapie, Herzfehler, Cannabisabhängigkeit, Straf- bzw. Maßregelvollzug, Vater-Kind-Beziehung, Einreise- und Aufenthaltsverbot, ARB 1/80
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 08.12.2021 – AN 5 K 21.578
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6112

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 8. Dezember 2021 bleibt ohne Erfolg.
2
1. Der Kläger, türkischer Staatsangehöriger, am ... Juli 1990 im Bundesgebiet geboren, mit drei Geschwistern bei seinen Eltern in N. aufgewachsen, der dort die Schule im Jahr 2006 ohne Abschluss verließ, im Jahr 2011 mit einer türkischen Staatsangehörigen die Ehe schloss, welche am 7. Juli 2020 rechtskräftig geschieden wurde und aus der drei Kinder hervorgingen (geboren am ...2011, ...2015 und ...2017) – die bei ihrer Mutter leben und von denen zwei die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen –, der nicht über eine Berufsausbildung verfügt und mehrfach strafrechtlich verurteilt wurde (u.a. AG Hersbruck vom 21.7.2008: 6 Monate Jugendstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung und Nötigung; AG Nürnberg vom 27.1.2010: 1 Jahr Jugendstrafe auf Bewährung wegen Beihilfe zur schweren räuberischen Erpressung, Bewährungszeit 3 Jahre; AG Hersbruck vom 12.1.2012: 2 Jahre Jugendstrafe auf Bewährung – unter Einbeziehung des Urteils des AG Nürnberg vom 27.1.2010 – wegen gemeinschaftlichen Diebstahls und Diebstahls, Bewährungszeit 3 Jahre, Strafaussetzung infolge eines Weisungsverstoßes widerrufen, Strafrest bis 23.4.2017 zur Bewährung ausgesetzt, Strafrestaussetzung widerrufen; AG Hersbruck vom 24.10.2012: 30 Tagessätze wegen Erschleichens von Leistungen in 3 Fällen; AG Nürnberg vom 15.7.2013: 60 Tagessätze wegen Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen; AG Nürnberg vom 28.10.2015: 1 Monat Freiheitsstrafe wegen vorsätzlichen Besitzes einer verbotenen Waffe) und der anlässlich der Verurteilung vom 27. Januar 2010 mit Schreiben vom 19. August 2010 ausländerrechtlich verwarnt wurde, wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 8. Dezember 2021 (Az.: AN 5 K 21.00578), durch das seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 9. März 2021 (in der geänderten Fassung vom 8.12.2021) abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Kläger nach Anhörung aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. I des Bescheides), das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahre ab der Ausreise bzw. Abschiebung befristet (Nr. II des Bescheides) – die Frist wurde durch die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 8. Dezember 2021 auf vier Jahre herabgesetzt –, die sofortige Vollziehbarkeit der Verfügungen unter den Nummern I und II angeordnet (Nr. III des Bescheides), die (am 28.4.2020 sowie am 28.10.2020 beantragte) Erteilung bzw. Verlängerung des (am 13.7.2020 abgelaufenen) Aufenthaltstitels abgelehnt und die Abschiebung des Klägers aus der Haft bzw. Unterbringung in die Türkei bzw. einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Aufnahme verpflichtet ist, frühestens aber eine Woche nach der Zustellung des Bescheides, angeordnet (Nr. V des Bescheides) sowie den Kläger für den Fall, dass seine Abschiebung aus der Haft bzw. Unterbringung nicht möglich sein sollte, zur Ausreise innerhalb von 30 Tagen aufgefordert und ihm für den Fall der Nichtbefolgung die Abschiebung in die Türkei bzw. einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Aufnahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. VI des Bescheides).
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Den Anlass für die streitgegenständliche Ausweisung bildete die rechtskräftige Verurteilung des Klägers durch das Landgericht Nürnberg-Fürth vom 12. Dezember 2018 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wobei die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB angeordnet wurde. Dieser Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger (unter Beteiligung seines mitangeklagten Bruders S.) in den Niederlanden Marihuana mit einem Gesamtgewicht von fast 5 kg gekauft und am 28. Mai 2018 in der Absicht nach Deutschland eingeführt hatte, das Rauschgift – abzüglich eines Anteils von 300g für seinen Eigenkonsum – gewinnbringend weiter zu veräußern. Im Rahmen der Strafzumessung wurden zugunsten des Klägers insbesondere dessen Geständnis, seine Betäubungsmittelabhängigkeit sowie ein damit einhergehender Suchtdruck bei der Tatbegehung und die vollständige Sicherstellung der – sog. weichen – Drogen (und damit deren vollständige Entnahme aus dem Verkehr) berücksichtigt. Zulasten des Klägers wurden die Menge der Drogen, seine mehrfachen Vorstrafen sowie der Umstand, dass er bis unmittelbar vor der Tat unter Führungsaufsicht gestanden hatte, gewertet.
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Der Kläger befand sich aufgrund der zuletzt genannten Verurteilung seit dem 29. Mai 2018 in Untersuchungs- bzw. Strafhaft und ab dem 27. Februar 2019 im Maßregelvollzug im Bezirkskrankenhaus P. Am 3. Juli 2019 musste der Kläger im Maßregelvollzug aufgrund eines medizinischen Notfalls infolge seiner Herzerkrankung mehrfach reanimiert werden und befand sich in der Folgezeit in (intensiv-)stationärer Behandlung. Ab dem 6. November 2019 wurde der Maßregelvollzug fortgesetzt. Am 7. März 2020 ereignete sich in der Lockerungsstufe C ein – von dem Kläger eigeninitiativ angezeigter – Rückfall durch Alkoholkonsum. Nach vorübergehender Rücknahme der Lockerungen – der Kläger hatte nach Konfrontation mit der Lockerungsrücknahme eine Mitarbeiterin der Therapieeinrichtung beleidigt und wurde in der Folge vorübergehend in die Aufnahme- und Motivationsstation verlegt – erreichte der Kläger im weiteren Therapieverlauf erneute Lockerungen des Maßregelvollzugs. Nach dem Scheitern des sog. Probewohnens in einer eigenen Wohnung (Lockerungsstufe D2) wegen gesundheitlicher Probleme bzw. Überforderung mit den Resozialisierungsaufgaben im Januar 2021 wurde der Kläger auf die Therapiestation zurückgeholt und auf die Lockerungsstufe C3 zurückgestuft. Infolge einer Beleidigung von Stationspersonal wurden weitere Lockerungen zurückgenommen und in der Folgezeit nach Zustimmung der Staatsanwaltschaft sowie Besserung der gesundheitlichen Verfassung des Klägers wieder gewährt (vgl. Therapiebericht vom 31.8.2021, Bl. 75 ff. d. VG-Akte). Mit Beschluss vom 8. Juni 2022 setzte das Landgericht Regensburg – Strafvollstreckungskammer – die Unterbringung im Maßregelvollzug und die Vollstreckung des Strafrestes ab der Rechtskraft des Beschlusses unter verschiedenen (strafbewehrten und nicht strafbewehrten) Weisungen zur Bewährung aus. Die Dauer der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht und der Bewährungszeit wurde auf fünf Jahre festgesetzt.
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2. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegen nicht vor.
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2.1 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers nicht.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen nur dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente schlagen jedoch nach dem Rechtsgedanken des § 144 Abs. 4 VwGO nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – juris Rn. 9). Maßgeblich für die Beurteilung dieses Zulassungsgrundes ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7).
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2.1.1 Das Verwaltungsgericht hat die Klage (im Wesentlichen) mit der Begründung abgewiesen, die unter der Nummer I des streitgegenständlichen Bescheides verfügte Ausweisung sei rechtmäßig. Zugunsten des Klägers werde davon ausgegangen, dass diesem (als im Bundesgebiet geborenem Sohn von dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden türkischen Arbeitnehmern) ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB 1/80) zustehe. Daher dürfe der Kläger nur unter den Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 AufenthG ausgewiesen werden. Die Gefahrenprognose werde konkret durch das Verhalten des Klägers bei den von ihm begangenen Taten der unerlaubten Einfuhr und des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln getragen, welche zu der Verurteilung geführt hätten, die den Anlass der Ausweisung bilde. Dabei handele es sich um schwerwiegende Straftaten, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft seien, zumal der illegale Handel mit Betäubungsmitteln regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden sei und in besonders schwerwiegender Weise Gesundheit und Leben anderer Menschen gefährde (m.V.a. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris). Aus diesem Grund berühre die Gefährdung durch den Kläger auch Grundinteressen der Gesellschaft. Auf eine solche Gefährdung lasse auch der gesamte bisherige Werdegang des Klägers schließen. Er sei seit seinem siebten Lebensjahr in einem Zeitraum von etwa 20 Jahren vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, überwiegend wegen Diebstahls- und Gewaltdelikten, aber auch wegen einiger weiterer Straftaten (Beleidigung, Bedrohung, verbotener Besitz einer Waffe, Erschleichen von Leistungen, Sachbeschädigung). Weder eine ausländerrechtliche Verwarnung vom 19. August 2010 noch durchlebte Hafterfahrung infolge mehrfach widerrufener Bewährungen hätten den Kläger von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten; trotz der ausländerrechtlichen Verwarnung sei er in der Folgezeit insgesamt fünfmal straffällig geworden. Auch aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung sei nicht darauf zu schließen, dass die durch seine Straftaten indizierte Gefährlichkeit beseitigt sei. Ursache für deren Begehung sei zumindest auch die (noch) nicht erfolgreich therapierte Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers. Der psychiatrische Sachverständige im Strafverfahren habe insoweit dargelegt gehabt, dass bei dem Kläger eine Abhängigkeitserkrankung von Cannabinoiden und Kokain zu diagnostizieren sei und dass er seinen lange anhaltenden Drogenkonsum durch Straftaten finanziert habe. Auf dieser Grundlage sei das Strafgericht von einem Hang ausgegangen, bei dem ein symptomatischer Zusammenhang zur Begehung der abgeurteilten Straftaten bestehe. Im Fall des Klägers sei zwar zu sehen, dass dieser sich mittlerweile zur Entlassungsvorbereitung in der Einrichtung W. in N. befinde und dort in verschiedenen Arbeitsbereichen (Werkstatt, Hauswirtschaft) zur Vorbereitung auf eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Einsatz sei. Der Therapiebericht des Bezirkskrankenhauses P. vom 31. August 2021 halte zum Stand der Therapie insbesondere fest, dass der Kläger in beschützender Umgebung einen sucht- und straffreien Lebenswandel gezeigt habe. Aus dem Therapiebericht sowie der Stellungnahme der Stadtmission N. vom 7. August 2021 ergebe sich, dass die Therapie des Klägers jedenfalls noch nicht abgeschlossen sei. Deswegen könne unter Berücksichtigung der erheblich hohen Rückfallquoten während der andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss derselben nicht von einem Wegfall der insoweit suchtbedingten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Letztere entfalle auch nicht wegen des angeborenen Herzfehlers des Klägers sowie der hinzutretenden hirnorganischen Folgeschäden (infolge eines Herzstillstandes mit Sauerstoffunterversorgung). Trotz seines Herzfehlers, insbesondere auch nach dem operativen Ersatz der Trikuspidalklappe im Jahr 2001, habe der Kläger zahlreiche Straftaten, darunter auch zwei Körperverletzungsdelikte begangen und ohne Rücksicht auf seine Erkrankung Drogen konsumiert. Die Anlassstraftat habe er zudem noch verübt, nachdem seine künstliche Herzklappe im Jahr 2016 habe erneuert werden müssen. Soweit mit dem Herzstillstand am 3. Juli 2019 hypoxische Hirnschäden sowie eine Reihe weiterer pathologischer Diagnosen verbunden gewesen seien (m.V.a. den Entlassungsbrief des Universitätsklinikums R. vom 18.11.2020 sowie den Behandlungsbericht des Bezirkskrankenhauses P. vom 13.8.2021) und damit eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands des Klägers eingetreten sei, bleibe festzuhalten, dass er auch nach dem Notfallereignis auffällig geworden sei. Laut dem Therapiebericht des Bezirkskrankenhauses sei der Kläger am 7. März 2020 bei seinem zweiten Ausgang mit Alkohol rückfällig geworden, wobei er dies in der Folge selbst offenbart habe. Zudem seien bei einer Kontrolle Sprachnachrichten auf seinem Handy gefunden worden, in welchen er das Stationspersonal beleidigt habe. In diesem Zusammenhang sei zudem der erhebliche Legalbewährungsdruck des laufenden Ausweisungsverfahrens in den Blick zu nehmen (m.V.a. BayVGH, B.v. 23.9.2021 – 19 ZB 20.323 – juris Rn. 28). Dies gelte erst recht für einen noch nicht bestandskräftigen Ausweisungsbescheid mit unmittelbarer Beendigung des Aufenthaltsrechtes. Zudem sei bereits der Bruder des Klägers aufgrund einer rechtskräftigen Ausweisungsverfügung in die Türkei abgeschoben worden, sodass dem Kläger die Konsequenzen einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung in einer besonderen Weise vor Augen stehen dürften. Die Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG ergebe, dass die Ausweisung für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich sei. Im Falle des Klägers liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Diesem stehe gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (jedenfalls in entsprechender Anwendung) ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse auf der Grundlage des ARB-Status des Klägers gegenüber. Zwar sei seine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 a.F. (jetzt: § 4 Abs. 2) AufenthG im Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Verfügung abgelaufen gewesen und eine Fiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG stehe insoweit einer Aufenthaltserlaubnis nicht gleich (m.V.a. Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 55 Rn. 8; BayVGH, B.v. 24.7.2017 – 19 CS 16.2376 – juris Rn. 13 m.w.N.). Das Recht aus Art. 7 ARB 1/80 als kraft Gesetzes bestehendes Daueraufenthaltsrecht stehe jedoch einer Aufenthaltserlaubnis gleich. Diese Rechtsposition könne (abschließend) nur durch Ausreise oder – wie hier – gemäß Art. 14 ARB 1/80 mit der Ausweisung erlöschen (m.V.a. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 19.14 – juris Rn. 14 m.w.N.). Solange das Recht aus dem ARB 1/80 fortbestehe, bestehe auch ein Anspruch auf Ausstellung einer lediglich bestätigenden Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG, sodass vorliegend insoweit von einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse auszugehen sei (m.V.a. VG München, U.v. 21.4.2016 – M 10 K 16.320 – juris Rn. 99 f.; VG Sigmaringen, U.v. 12.12.2017 – 4 K 877/17 – juris Rn. 52; BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 41). Zudem bestehe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, weil der Kläger das Personensorgerecht für seine beiden deutschen Kinder innehabe und Umgangskontakte gepflegt habe. In der Gesamtabwägung unter besonderer Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erweise sich die Ausweisung des Klägers jedoch, trotz seiner besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen, als rechtmäßig. Die Ausweisung sei weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG nicht abschließend aufgeführten Umstände noch mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK unverhältnismäßig. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG gewährten Art. 6 GG und Art. 8 EMRK keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, sondern begründeten lediglich eine Verpflichtung der Ausländerbehörden, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (m.V.a. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12). Die Beklagte habe insofern in rechtlich nicht zu beanstandender Weise in die Interessenabwägung eingestellt, dass die Kinder den Kläger nicht davon abgehalten hätten, strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Laut seiner Einlassung in der mündlichen Verhandlung sehe der Kläger zwar seit seiner Unterbringung in der Einrichtung der S. seine Kinder regelmäßig, hole sie ab und verbringe den Tag mit ihnen. Außerdem hätten sogar schon einmal alle drei Kinder bei ihm zuhause sowie der Kläger mit ihnen bei seinem Bruder in R. übernachtet. Insoweit sei allerdings zu berücksichtigen, dass der Umfang des Umgangs aufgrund der Trennung infolge der Straftaten des Klägers (so sei zum Beispiel ein Besuch in der stationären Einrichtung aus organisatorischen Gründen nicht möglich) doch reduziert sei. Es könne dem Kläger und seiner Familie zugemutet werden, trotz räumlicher Trennung die Bindung zueinander – zumindest für die Dauer der Wiedereinreisesperre – in anderweitiger Form, z.B. durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche in der Türkei aufrecht zu erhalten. Aufgrund des Aufwachsens in einer türkischen Familie und der (zeitweiligen) Ehe mit einer türkischen Frau sei auch davon auszugehen, dass der Kläger mit der türkischen Sprache, Kultur und Tradition vertraut sei. Es sei ihm daher möglich und zumutbar, sich sprachlich und kulturell im Land seiner Staatsangehörigkeit zu integrieren. Auch die angeborene Herzerkrankung des Klägers stelle sich in der Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nicht als so gewichtig dar, dass Letztere als unverhältnismäßig anzusehen wäre. Zwar seien bei dem Kläger nach der aktuellsten ärztlichen Stellungnahme des Universitätsklinikums E. vom 12. November 2021 jährliche Kontrollen in der Sprechstunde für Erwachsene mit angeborenem Herzfehler angeraten, um sowohl bei einer weiteren Einschränkung der Herzfunktion wie auch bei weiteren Herzrhythmusstörungen intervenieren zu können. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) lege aber in seiner Stellungnahme vom 30. Juni 2021 dar, dass der Gefahr einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung durch die in der Türkei vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden könne (mit Detailausführungen zur medizinischen Versorgung und zum Gesundheitssystem in der Türkei). Die dem Kläger verordneten Medikamente seien in seinem Herkunftsland verfügbar. Damit überwiege vorliegend – insbesondere vor dem Hintergrund der vorhandenen medizinischen Versorgung des Klägers in seinem Herkunftsland – das öffentliche Interesse an der Ausreise. Vor dem Hintergrund der Schwere der Tat, die Anlass für die Ausweisung sei, ihrer Folgen, der Persönlichkeit des Klägers und der fehlenden nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Integration im Bundesgebiet stelle sich die Ausweisung unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles auch vor dem verschärften Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG als unerlässlich für die Wahrung des von dem Kläger bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft dar. Aufgrund dessen seien auch die in den Ziffern V und VI des streitgegenständlichen Bescheids verfügten ausländerrechtlichen Annexentscheidungen (Abschiebungsanordnung und Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung) rechtlich nicht zu beanstanden. Auch das zuletzt auf die Dauer von vier Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer II des streitgegenständlichen Bescheids sei nicht zu beanstanden. Ermessensfehler seien nicht ersichtlich. Die in Ziffer IV des streitgegenständlichen Bescheids ausgesprochene Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis sei rechtmäßig, weil der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer solchen habe. (Etwaigen) Ansprüchen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG sowie § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG stehe bereits die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG entgegen. Zudem sei der Status nach Art. 7 ARB 1/80 unmittelbar infolge der Ausweisung erloschen (m.V.a. Art. 14 ARB 1/80). Dem Anspruch aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG stehe überdies auch das Nichtvorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG infolge des (besonders schwerwiegenden) Ausweisungsinteresses entgegen. Ansprüche hinsichtlich anderer, insbesondere humanitärer Aufenthaltstitel seien weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.
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2.1.2 Zur Begründung seines Zulassungsantrags lässt der Kläger vortragen, das Verwaltungsgericht sei ersichtlich von der Anwendbarkeit von Art. 7 ARB 1/80 ausgegangen. Es habe ausgeführt, dass aufgrund der zahlreichen Verurteilungen des Klägers, insbesondere der Anlassverurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten vom 12. Dezember 2018 eine Wiederholungsgefahr gegeben sei. Zur Frage der Unerlässlichkeit der Ausweisung (i.S.d. § 53 Abs. 3 AufenthG) habe es sich nur in sehr knapper Form geäußert. Der Kläger habe die nach § 64 StGB angeordnete Therapie bisher erfolgreich durchlaufen und stehe wohl kurz vor deren Abschluss. Eine Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung sei absehbar. Soweit das Verwaltungsgericht ausführe, dass nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhten, von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden könne, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht habe, und dass angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden könne, sei dem nicht zu folgen. Eine Wiederholungsgefahr werde nicht gesehen, zumindest müsse von einer deutlich reduzierten Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Das Merkmal der für die Ausweisung notwendigen Unerlässlichkeit sei nicht in der notwendigen juristischen Tiefe bewertet worden. Hervorzuheben sei der Umstand, dass der Kläger bisher hochfrequente [sic!], sehr intensive Therapiemaßnahmen durchlaufen habe. Die Maßnahmen seien durch sehr erfahrene Mediziner begleitet und überwacht worden. Dem Kläger sei umfassende sozialtherapeutische Hilfe zuteilgeworden. Grundsätzlich könne von einem positiven Verlauf der Therapie ausgegangen werden. Der Kläger habe sehr motiviert an den Therapiemaßnahmen teilgenommen. Er habe sich mit den Ursachen seiner Delinquenz tiefgreifend auseinandergesetzt und umfassend reflektiert. Unter Beachtung der Wertungen, welche sich aus „2 BvR 1943/16“ ergeben würden, könne nicht ohne weiteres vom Bestehen einer Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Die Entscheidung gehe zwar von einer vollständigen Beendigung der Therapiemaßnahmen aus, dies könne jedoch nicht bedeuten, dass die erfolgreiche Durchführung einer Therapie, die kurz vor dem Ende stehe, keine Schlussfolgerung dahingehend zulasse, dass eine Wiederholungsgefahr entfalle. In den Entscheidungsgründen werde auch darauf hingewiesen, dass gegen den Bruder des Klägers eine Ausweisungsverfügung ergangen sei und der Kläger aufgrund dieses Umstandes hätte gewarnt sein müssen. Eine solche Annahme sei nicht möglich. Rückschlüsse auf eine bestehende Wiederholungsgefahr, die aufgrund der durchgeführten Therapie nicht mehr unbedingt gegeben sei, könnten nicht durchgeführt werden. Soweit das Verwaltungsgericht in der Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG zu dem Ergebnis gelange, dass die Aufenthaltsbeendigung das Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiege, könne dem nicht gefolgt werden. Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls müsse die Interessenabwägung zugunsten des Klägers ausfallen. Auf Seiten des Klägers sei von einem besonders hohen Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4 AufenthG auszugehen. Der Kläger sei in N. geboren und aufgewachsen. Deutschland sei seine Heimat. Der Kläger sei Vater von drei minderjährigen deutschen Kindern, zu denen Kontakt bestehe. Bei der durchzuführenden Abwägung sei allerdings insbesondere auch die schwerwiegende Erkrankung des Klägers zu berücksichtigen. Soweit das Verwaltungsgericht ausführe, auch die angeborene Herzerkrankung des Klägers stelle sich bei der erforderlichen Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nicht als so gewichtig dar, dass Letztere als unverhältnismäßig anzusehen wäre, und auf die Stellungnahme des Bundesamtes verweise, wonach der Gefahr einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung durch die im Herkunftsland vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden könne, überzeugten diese Ausführungen in der vorliegenden Kürze nicht. So werde aus der Begründung überhaupt nicht klar, ob die geeignete Medikation in der Türkei dem Kläger auch zuteilwerden würde. Der Kläger sei im Bundesgebiet aufgewachsen. Es sei nicht auszuschließen, dass der Kläger erhebliche Summen an Geldmitteln aufwenden müsste, um die Medikamente zu erwerben. Eine solche Situation wäre für ihn lebensbedrohlich. In jedem Fall lasse sich aus den Urteilsgründen und der besonderen Problematik des vorliegenden Falles keine ausreichende Auseinandersetzung [entnehmen], weil die Ausführungen viele Fragen offenließen.
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2.1.3 Diese Rügen zeigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO auf.
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2.1.3.1 Aufgrund des Zulassungsvorbringens bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts.
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Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Steht dem Ausländer – wie (unstrittig) dem Kläger – ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist.
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Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (zu diesem Maßstab vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, „Ziebell“ – juris Rn. 82 ff.), handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Die Indizien, die für diese Prognose heranzuziehen sind, ergeben sich nicht nur aus dem Verhalten im Strafvollzug und danach. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – BVerwGE 112, 185, juris Rn. 14; vgl. auch BVerwG, B.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89 – NVwZ-RR 1990, 649, juris Rn. 4). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
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Gemessen daran ist auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens und der aktuellen Entwicklung nach dem persönlichen Verhalten des Klägers weiter von einer schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, nach § 53 Abs. 3 AufenthG auszugehen. Der im Zeitpunkt der Anlasstat mehrfach vorbestrafte Kläger hat sich durch den illegalen Handel mit Marihuana in einer beträchtlichen Größenordnung schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte strafbar gemacht. Des Weiteren zeigen auch seine im Zeitpunkt der Anlasstat vorhandenen, zahlreichen Vorstrafen wegen verschiedener Delikte (u.a. mehrfach Körperverletzungs- und Vermögensdelikte sowie Verstöße gegen das Waffengesetz) die erhebliche Delinquenz und fehlende Rechtstreue des Klägers. Trotz der teilweise positiven Entwicklung des Klägers während des Maßregelvollzugs (vgl. aber auch die Vorfälle bezüglich des Rückfalls in den Alkoholkonsum während eines Ausgangs sowie bezüglich zweier Beleidigungen von Stationspersonal) kann im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht von einer nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltensveränderung ausgegangen werden, welche die Annahme rechtfertigte, der Kläger werde künftig straf- und drogenfrei bleiben. Dies gilt vorliegend auch in Anbetracht der zwischenzeitlich erfolgten Strafaussetzungsentscheidung vom 8. Juni 2022.
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Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.01.2013 – 1 C 10.12, juris Rn. 18; U.v. 02.09.2009 – 1 C 2.09, juris Rn. 18; U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00, juris Rn. 17). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen und schließt auch eine positive Entscheidung über die Straf(rest) aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können; das Bundesverfassungsgericht erkennt insoweit den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts an und fordert für den Fall einer aufenthaltsrechtlich abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr eine substantiierte, eigenständige Begründung (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 24). Das Bundesverfassungsgericht erkennt mithin bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen zwei alternative Konstellationen an, in denen trotz einer Strafrestaussetzung zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein kann: Eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (vgl. ebenso OVG Bremen, B.v. 28.9.2021 – 2 LA 206/21 – juris Rn. 27).
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Eine strafvollstreckungsrechtliche Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug und eine gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung verfolgen unterschiedliche Zwecke und unterliegen deshalb unterschiedlichen Regeln (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 – 10 ZB 20.2091 – juris Rn. 14; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.): Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit gegebenenfalls unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund. Es ist zu ermitteln, ob der Täter das Potential hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat nicht das Ziel, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Anordnung dieser Maßregel genügt die hinreichend konkrete Aussicht (ein vertretbares Risiko ist einzugehen, vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 67d Rn. 11), dass durch sie der Verurteilte über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt wird (§ 64 Satz 2 StGB), wobei „eine erhebliche Zeit“ in der Regel bereits ab einem Jahr angenommen werden kann (Schöch in Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2008, § 64 Rn. 136 und in Festschrift für Klaus Volk, 2009, S. 705). Eine langfristige Bewahrung vor dem Rückfall kann bereits deshalb nicht als Ziel der Unterbringung festgelegt werden, weil dann entsprechend lange Unterbringungszeiten erforderlich wären. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als freiheitsentziehende Maßnahme darf jedoch nach § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich (vorbehaltlich des Satzes 3 der Bestimmung) zwei Jahre nicht übersteigen, muss in jedem Fall verhältnismäßig sein (§ 62 StGB) und insoweit umso strengeren Voraussetzungen genügen, je länger die Unterbringung dauert (BVerfG, B.v. 19.11.2012 – 2 BvR 193/12 – StV 2014, 148 ff.). Die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB, „wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen“, ist somit bereits dann vorzunehmen, wenn für eine – im Vergleich zum ausländerrechtlichen Prognosehorizont – relativ kurze Zeitspanne die konkrete Aussicht (unter Eingehung eines vertretbaren Risikos) auf das Unterbleiben rechtswidriger Taten besteht. Nichts Anderes gilt für die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“, denn auch bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung, sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür, sind die begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.).
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Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zugrundeliegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potential, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 – 10 ZB 20.2091 – juris Rn. 14; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – juris Rn. 8 m.w.N.). Insgesamt ist nach der dargestellten Rechtslage das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel wesentlich geringer als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil aus der Sicht des Strafrechts auch die geringste Resozialisierungschance genutzt werden muss. Das Strafrecht unterscheidet nicht zwischen Deutschen und Ausländern und berücksichtigt daher regelmäßig nicht die Möglichkeit, die Sicherheit der Allgemeinheit durch eine Aufenthaltsbeendigung zu gewährleisten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25).
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Gemessen daran kann im vorliegenden Fall bei der notwendigen Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände auch unter Berücksichtigung der positiven Entwicklungen nicht der Schluss gezogen werden, dass die von dem Kläger ausgehende Gefahr soweit entfallen ist, dass dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr gefährdet. Die in der Vergangenheit begangenen, schwerwiegenden Straftaten des Klägers aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz führen unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger noch unter Führungsaufsicht und Bewährungsdruck steht, zum Fortbestehen der konkreten Gefahren für höchste Rechtsgüter:
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Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabschnitt 2 AEUV). Die Folgen des Betäubungsmittelkonsums, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 12 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (EuGH, U.v. 23.11.2010 – Rs. C-149/09, „Tsakouridis“ NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach klargestellt, dass er bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts – wie hier vorliegend – in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (EGMR, U.v. 30.11.1999 – Nr. 3437-97, „Baghli“ – NVwZ 2000, 1401, U.v. 17.4.2013 – Nr. 52853/99‚ “Yilmaz“ – NJW 2004, 2147; vgl. OVG NRW, B.v. 17.3.2005 – 18 B 445.05 – juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 19 ZB 20.2139 – juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 8).
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Bei der Bewertung der Gefährlichkeit eines im Zusammenhang mit dem Handel mit Marihuana strafrechtlich verurteilten Ausländers sind überdies die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den insbesondere Jugendlichen durch den Konsum drohenden gesundheitlichen Schäden in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2022 – 19 ZB 22.129 – juris). Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen die dauerhafte Veränderung der Hirnstruktur und des Verhaltens bei Jugendlichen und die Erhöhung des Risikos u.a. für psychotische Störungen wie cannabisinduzierte Psychosen oder Schizophrenien sowie affektive Störungen wie Depressionen, Angststörungen, bipolare Störungen, Suizidalität (Studie Albaugh u.a. in JAMA psychiatry 2021; 78(9). 1031-1040; vgl. auch Horn/Friemel/Schneider, Abschlussbericht Cannabis. Potenzial und Risiko, Stand 11/2018, www.bundesgesundheitsministerium.de).
21
Nach diesen Maßgaben hat sich der Kläger mit dem verübten Drogenhandel schwerwiegend strafbar gemacht, er wurde mit Urteil vom 12. Dezember 2018 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Das hohe Maß der Freiheitsstrafe spiegelt die Schwere der Schuld wider. Insgesamt lässt die abgeurteilte Tat des Klägers insbesondere in Anbetracht der gehandelten Menge an Marihuana und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Größenordnung (4.829,3g zu einem Kilopreis von 5.000,00 EUR) eine besondere kriminelle Energie erkennen, die über herkömmliche Beschaffungskriminalität weit hinausgeht.
22
Die Ursache für die Begehung der genannten Straftaten bildete nach den – auf dem Sachverständigengutachten des Herrn Dr. W. vom 30. August 2018 beruhenden – Feststellungen der Strafkammer und den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch die Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers, für den nach den gutachterlichen Feststellungen im Strafverfahren tatzeitbezogen eine Abhängigkeit von Cannabinoiden und Kokain sowie ein Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, festgestellt wurden, weshalb gemäß § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde. Im Sachverständigengutachten vom 30. August 2018 wurde u.a. festgestellt, dass die Voraussetzungen einer eingeschränkten Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit des Klägers im Tatzeitpunkt nicht vorgelegen hätten. Ein Hang i.S.d. § 64 StGB sei zu bestätigen. Ein Zusammenhang zwischen der Drogenproblematik und den vorgeworfenen Straftaten scheine zu bestehen, da der Kläger die Substanzklasse transportiert habe, die er wohl teilweise auch konsumiere. Auf die näheren Zusammenhänge habe der Kläger noch in der Hauptverhandlung eingehen wollen, er habe jedoch angedeutet, dass erhebliche Anteile hätten verkauft werden sollen, dies zumindest teilweise, um auch den anderweitigen Konsum von Kokain zu finanzieren. Die Wiederholungsgefahr für gleichgelagerte Straftaten werde ohne adäquate Therapiemaßnahmen hoch sein. Wenn der Kläger weiterhin Drogen konsumiere, werde er erneut Betäubungsmitteldelikte begehen müssen, zum anderen habe er über lange Jahre kaum über regelmäßige Einnahmen aus Arbeitstätigkeit verfügt und habe selbst angedeutet, dass er Sozialleistungen bezogen, aber auch „kriminelle Machenschaften“ betrieben habe. Zu erwarten sei erneut Beschaffungskriminalität, zum anderen auch Drogenhandel, um den Eigenkonsum abschließend sicherzustellen. Die Erfolgsaussicht der (Therapie-)Maßnahme sei prinzipiell positiv.
23
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2021 – 10 ZB 21.935 – juris Rn. 9; B.v. 23.9.2021 – 19 ZB 20.323 – juris; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Erfolgschancen einer Therapie im Allgemeinen bereits deutlich unter 50% liegen (vgl. Fabricius in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 35 Rn. 46 ff.: nur 25% der beobachteten Personen blieben strafrechtlich unauffällig und dürften eine Chance der sozialen Reintegration und der gesundheitlichen Stabilisierung erreicht haben; „bescheidene Erfolge“; nach Klos/Görgen – Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2. Aufl. 2020, S. 18 ff. – sind Rückfälle eher die Regel als die Ausnahme; Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal haben in der bundesweiten Rückfalluntersuchung „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen“ für den Zeitraum 2004/2010 bis 2013 – www.bmjv.de – ermittelt, dass nach Delikten gemäß BtMG innerhalb des 1. bis 3. Jahres 45% der Straftäter erneut registriert wurden mit einer Zunahme von weiteren 11% auf 56% vom 4. bis 6. Jahr und weiteren 4% auf 60% innerhalb des 7. bis 9. Jahres des Beobachtungszeitraums; von der Gesamtpopulation der Straftäter wurden innerhalb von 3 Jahren 36% erneut verurteilt; betreffend Cannabis spricht Thomasius, Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters Universitätsklinikum Hamburg, von bescheidenen Behandlungserfolgen; langfristig abstinent seien nach einer Therapie nur etwa 25% der Patienten, zit. nach aok-Gesundheitsmagazin, 31.5.2021, www.aok.de). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11). Dies bedeutet, dass somit selbst eine im Maßregelvollzug erfolgreich absolvierte Drogentherapie nicht automatisch zu einem Entfallen der Wiederholungsgefahr führt.
24
Gemessen hieran ist vorliegend zwar zu würdigen, dass der Kläger die Therapie im Maßregelvollzug erfolgreich durchlaufen hat. Trotz der nachfolgenden Strafaussetzungsentscheidung vom 8. Juni 2022 ergibt sich vorliegend jedoch das Fortbestehen eines weiteren, engmaschigen Therapiebedarfs, so dass allein der formale Abschluss der Therapie im Maßregelvollzug sowie die derzeitige Drogen- und Straffreiheit des Klägers während laufender Bewährung noch nicht die Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens, insbesondere in Anbetracht der gewichtigen Betäubungsmitteldelinquenz und der erst kurzzeitigen Bewährungsphase rechtfertigen.
25
Das Bundesverfassungsgericht hat im Falle eines wegen Handeltreibens mit Marihuana zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilten Ausländers ausgeführt, dass es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend ist, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Im vorliegenden Fall ist demgegenüber unter Berücksichtigung der sehr hohen Menge gehandelter Drogen, der arbeitsteiligen und organisierten Begehungsweise und der anhand dieser Umstände zum Ausdruck kommenden hohen kriminellen Energie eine Gefährdung höchster Rechtsgüter zu befürchten.
26
Diese besteht trotz der zwischenzeitlich erfolgten Aussetzung des Strafrestes und Maßregelvollzugs fort:
27
In dem Sachverständigengutachten vom 8. Januar 2021 wird (im Wesentlichen) ausgeführt, dass bei dem Kläger weiterhin eine Cannabisabhängigkeit (ICD-10: F11.21) und andererseits eine Kokainabhängigkeit (ICD-10: F14.21) bestehe, beide gegenwärtig abstinent in beschützender Umgebung. Der Kläger sei in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und aufgrund eines angeborenen Herzfehlers nur gering belastbar gewesen. Während der Schulzeit habe er aufgrund von Fehlzeiten, aber auch aufgrund der von ihm eingenommenen Rolle des Außenseiters, keinen adäquaten Freundeskreis aufbauen können. Eine Schul- oder Lehrausbildung habe der Kläger niemals abgeschlossen. Er habe als Jugendlicher Anschluss in die Drogenszene und schließlich im kriminellen Milieu gefunden. Mit 14 Jahren habe er sein erstes Gewaltdelikt begangen. Es seien weitere Straftaten und mehrere Inhaftierungen gefolgt. Der Kläger habe spätestens im jungen Erwachsenenalter eine Abhängigkeit von Cannabis und Kokain entwickelt, welche ihn noch mehr an das kriminelle Umfeld gebunden habe. Der Drogenkonsum habe der Leistungssteigerung gedient, aber auch zur Emotions- und Selbstwertregulation. Der Kläger habe zwar Problembewusstsein entwickelt, aber trotz kritischer Lebensereignisse nicht die Fähigkeit und Einsicht entwickelt, um eine Änderung herbeizuführen. Der Kläger habe vorwiegend von Sozialleistungen gelebt. Um seinen Drogenkonsum zu finanzieren, habe er mit dem Handel von Drogen angefangen. Mögliche Folgen habe er außer Acht gelassen. Der Kläger sei an sein dissoziales Verhalten gewöhnt gewesen. Erst nach einer längeren und nicht komplikationslosen Behandlung im Maßregelvollzug habe er eine ausreichende Krankheitseinsicht und Änderungsmotivation entwickelt, was zu einer bislang weitgehend stabilen suchtmittelfreien Unterbringung beigetragen habe. In der Resozialisierungsphase habe er gezeigt, dass er um seine Hilfsbedürftigkeit wisse und mittlerweile Unterstützung annehmen könne. Er arbeite mit externen und internen Stellen gleichermaßen adäquat zusammen. Externe Kontrollfunktionen seien ausreichend vorhanden, um die in der delinquenzminimierenden Behandlung erzielten Erfolge aufrecht zu erhalten. Auf die Frage, ob bei dem Kläger keine Gefahr mehr bestehe, dass die durch seine Taten zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe, sodass zu erwarten sei, dass er außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen werde, antwortete der Gutachter, die Basisrate für Rückfälle bei Drogendelinquenz schätze Nedopil (m.V.a. dens., Prognosen in der Forensischen Psychiatrie, 2005) unter Betrachtung unterschiedlicher Untersuchungen auf 7 bis 37% im Sinne einer erneuten Inhaftierung. Neuere Untersuchungen schätzten das Risiko für suchtkranke Straftäter zwischen 37 und 60% ein (m.V.a. Dimmek u.a., Bewährungsverlauf und Wiedereingliederung suchtkranker Rechtsbrecher, 2010). Risikofaktoren für eine erneute Rückfälligkeit stellen insbesondere das Festhalten am alten Umfeld und erfolglose Suchtbehandlungen dar. Dagegen würden eine finanzielle Absicherung und eine Nachsorgebehandlung als protektive Faktoren aufgeführt (m.V.a. Kobbé, Forensische Prognosen: Ein transdisziplinäres Praxismanual, 2017). Besonders gefährdet für Rückfälle seien zudem drogenkonsumierende Personen und solche, die in der Therapie Substanzmissbrauch betrieben hätten (m.V.a. Gericke/Kallert, Zum Outcome der Maßregelvollzugsbehandlung nach § 64 StGB, in Psychiatrische Praxis 34 [2007], Sonderheft 2, S. 218 ff.). Grundsätzlich sei der Kläger jahrelang im kriminellen Milieu verankert gewesen. Die ersten Straftaten habe er mit 14 Jahren begangen. Dies habe sich bis zur jetzigen Unterbringung fortgesetzt. Der Kläger sei deshalb wiederholt inhaftiert gewesen und sei zu Geld- und Freiheitsstrafen, zunächst zur Bewährung, verurteilt worden. Die dissozialen Verhaltensweisen seien über viele Jahre hinweg angeeignet und ich-synton gewesen. Dies führe dazu, dass der Kläger zunächst im oberen Bereich der Basisrate einzuordnen sei. Dem stehe nicht entgegen, dass der Kläger vor der Begehung des Anlassdeliktes nie wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden sei, da solche Verstöße auch nach seinen Angaben bereits seit langer Zeit stattgefunden hätten. Im Rahmen der letzten Verurteilung habe der Kläger jedoch ein deutliches Problembewusstsein gezeigt und sich auf eine Therapie in einer Entziehungsanstalt eingelassen. Hierbei habe es sich um die erste Maßregel gehandelt. Der Kläger habe die Therapie zwar mit Schwierigkeiten, aber erfolgreich durchlaufen. Suchtmittelrückfälle seien im Bereich von Alkohol festzustellen gewesen. Konkrete Hinweise für den Konsum illegaler Drogen, insbesondere von Cannabis und Kokain, seien den Akten hingegen nicht zu entnehmen. Dies gelte insbesondere auch für die Zeiträume unbegleiteter Lockerungen, in denen sich dem Kläger hierfür ohne Weiteres die Möglichkeit geboten hätte und obwohl er nach eigenem Bekunden wiederholt ein Verlangen insbesondere nach Cannabis verspürt habe. Der Kläger sei mittelfristig stets für das therapeutische Team erreichbar gewesen. Jedoch sei auch zu erkennen gewesen, dass er wiederholt in dissoziale Verhaltensmuster in Form von Abwertung in Krisensituationen verfallen sei, was jedoch keinen Einfluss auf sein Suchtverhalten gehabt habe. Insgesamt habe der Kläger ein Problembewusstsein für seine Abhängigkeitserkrankung entwickelt. Er könne die Zusammenhänge mit seinem delinquenten Verhalten erkennen und hierfür geeignete Copingstrategien benennen. Der Kläger befinde sich seit Mai 2021 weitgehend erfolgreich in der Außenerprobung in einer Nachsorgeeinrichtung. Zwar sei bei ihm ein positiver Alkoholtest durchgeführt worden, was sich jedoch nicht auf die Zuverlässigkeit und die Absprachefähigkeit des Klägers ausgewirkt habe. Er nehme externe Hilfestellungen an. Hinweise darauf, dass der Kläger noch Kontakt zum Drogenmilieu haben könnte, hätten nicht festgestellt werden können. Bezugnehmend auf die Basisrate für Drogendelinquenz sei der Kläger daher im mittleren bis unteren Bereich für eine Rückfallgefahr einzuordnen. In Bezug auf erneute Betäubungsmitteldelikte stelle bereits der Verlauf seiner kardiologischen Erkrankung für ihn einen deutlich abschreckenden Faktor dar. Die Selbstwertproblematik sei abgeklungen. Es bedürfe aber weiterhin der therapeutischen Bearbeitung, die unter den gegenwärtigen Bedingungen ausreichend ermöglicht werde. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sei mit eher geringer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Kläger außerhalb des Maßregelvollzugs erheblich rechtswidrige Taten begehen werde.
28
Aus diesen Ausführungen des Sachverständigen werden trotz der bestätigten positiven Entwicklung des Klägers dessen weiterer Behandlungsbedarf und dessen instabile soziale Situation deutlich.
29
Des Weiteren ist festzustellen, dass der Kläger nach dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 8. Juni 2022 weiterhin unter dem nicht unerheblichen Druck der Bewährung und Führungsaufsicht steht. Die Strafvollstreckungskammer hat die zulässige Dauer der Bewährungszeit von maximal fünf Jahren vollends ausgeschöpft und sie nicht verkürzt (vgl. § 56a Abs. 1 Satz 2 StGB). Für die gesamte Dauer der Führungsaufsicht und Bewährungszeit wurde der Kläger der Aufsicht durch einen Bewährungshelfer unterstellt. Die Bewährungshilfe zeichnet sich zudem durch eine engmaschige Betreuung und eine intensive Überwachung aus (Meldung bei seinem Bewährungshelfer mindestens einmal, höchstens zweimal im Monat, Mitteilung jedes Wechsels des Wohnortes oder des Arbeitsplatzes binnen einer Woche, bei Arbeitslosigkeit Meldung bei der zuständigen Agentur für Arbeit oder einer anderen zur Arbeitsvermittlung zugelassenen Stelle, Abstinenzgebot, Kontrollweisung). Die Strafvollstreckungskammer hat die Dauer der Führungsaufsicht gemäß §§ 67d Abs. 2, 68c Abs. 1 StGB nicht verkürzt, um nachhaltig auf die zukünftige Lebensführung des Verurteilten einwirken zu können. Als strafbewehrte Weisungen wurden neben einem Abstinenzgebot und dessen Kontrolle durch Urin- bzw. Speichelkontrollen mindestens einmal und höchstens viermal im Quartal auch festgesetzt, dass der Kläger sich mindestens einmal und höchstens viermal im Monat in der forensisch-psychiatrischen Ambulanz des Bezirkskrankenhauses vorzustellen hat.
30
Der Kläger befindet sich derzeit noch am Anfang seiner seit Juli 2022 andauernden, fünfjährigen Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit und der Unterstellung unter die Bewährungshilfe, so dass trotz des positiven Therapieverlaufs im nunmehr ausgesetzten Maßregelvollzug noch nicht ohne Weiteres von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Änderung der Verhaltensmuster in Freiheit ohne den genannten Druck, die angeordneten Kontrollen und die für erforderlich erachtete fortwährende therapeutische Behandlung ausgegangen werden kann.
31
Zusammenfassend besteht aus den dargestellten Gründen die konkrete Wiederholungsgefahr fort.
32
2.1.3.2 Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger auch die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
33
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 5).
34
Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24). Soweit die Entwurfsbegründung von einer „Sonderregelung“ spricht (BT-Drs. 18/4097, S. 50), bezieht sich diese Wendung jedoch ersichtlich auf das in § 53 Abs. 3 AufenthG festgelegte Maß der Sicherheitsgefahr und statuiert im Übrigen keine Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen. Das Verwaltungsgericht hat die angefochtene Ausweisungsverfügung unter Zugrundelegung eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu Recht am Maßstab des § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen, der exakt die Voraussetzungen wiedergibt, die nach ständiger Rechtsprechung (vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, „Ziebell“ – Rn. 82 ff., und vom 29.3.2012 – C-7/10 und C-9/10, „Kahveci“ und „Inan“ – Rn. 40) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gemäß Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein mussten (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 31 m.w.N.; B.v. 20.2.2019 – 10 ZB 18.2343 – juris Rn. 6).
35
Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation der Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) durchzuführen.
36
Nach der gesetzlichen Typisierung stehen vorliegend einem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG (aufgrund der Verurteilung wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten) zwar gleich gewichtige, besonders schwerwiegende Bleibeinteressen des Klägers gegenüber. Diese ergeben sich zum einen aus § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG hinsichtlich der Wahrnehmung des Umgangsrechtes des Klägers mit seinen drei Kindern (geboren am 9.8.2011, 12.5.2015 und 13.6.2017), die bei ihrer Mutter leben, sich berechtigt auf Dauer im Bundesgebiet aufhalten und von denen zwei die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Des Weiteren kann sich der Kläger zwar nicht auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wegen seines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechtes berufen. Nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG wiegt das Bleibeinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 besonders schwer, wenn der Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Dieses vertypte besondere Bleibeinteresse setzt aber den „tatsächlichen“ Besitz, d.h. die (wirksame) Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Ausweisungsverfügung voraus, ein Rechtsanspruch auf Aufenthaltserlaubniserteilung genügt insoweit nicht (BayVGH, B.v. 3.4.2019 – 10 C 18.2425 – juris Rn. 10; Fleuß in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. 1.1.2023, AufenthG § 55 Rn. 21; Katzer in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, 13. Ed. 15.10.2022, AufenthG § 55 Rn. 11; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 8; Cziersky-Reis in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 55 Rn. 10, dort auch zu etwaigen Ausnahmen, die hier jedoch nicht vorliegen). Der Kläger verfügt jedoch nicht mehr über eine (deklaratorische, vgl. Maor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 35. Ed. 1.10.2022, AufenthG § 4 Rn. 31) Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG zum Nachweis seiner Berechtigung aus Art. 7 ARB 1/80. Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht – wovon im vorliegenden Fall das Verwaltungsgericht mit den Beteiligten zugunsten des Klägers ausgeht, welches aber derzeit nicht durch eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 2 AufenthG nachgewiesen ist – begründet jedoch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, welches seinem Gewicht nach dem § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entspricht (BayVGH, U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 41; B.v. 3.5.2017 – 10 ZB 15.2310 – juris Rn. 29; Katzer in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, 13. Ed. 15.10.2022, AufenthG § 55 Rn. 4 ff., insb. Rn. 7; Fleuß in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. 1.1.2023, AufenthG § 55 Rn. 21 m.V.a. VG Sigmaringen, U.v. 12.12.2017 – 4 K 877/17 – juris Rn. 37).
37
Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht die Bleibeinteressen des Klägers zutreffend gewürdigt und in seine Abwägung eingestellt, dass grundsätzlich schützenswerte Vater-Kind-Beziehungen zwischen dem Kläger und seinen Kindern bestehen. Gleichwohl ist das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise zu der Auffassung gelangt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise in Anbetracht des Gewichts der begangenen Straftaten überwiegt. Auch unter Berücksichtigung der persönlichen Bindungen des Klägers vermögen sich die privaten Belange nicht gegenüber dem Gewicht des öffentlichen Ausweisungsinteresses durchzusetzen, weshalb das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgeht, dass die Ausweisung im dargestellten Sinne (des § 53 Abs. 3 AufenthG) zum Schutz der öffentlichen Sicherheit unerlässlich ist:
38
Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nicht von vornherein einen Schutz vor Ausweisung, sondern verpflichtet dazu, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207, Rn. 12). Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4). Ebenso wenig wie Art. 6 GG gewährleistet Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht des Ausländers, in einen bestimmten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ein Staat ist vielmehr berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris). Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. In der Rechtsprechung des EGMR ist anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sogenannten „Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden (vgl. z.B. U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris Rn. 57 ff.). Dabei ist eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip vorzunehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 30.3.2010 – 1 C 8.09 – juris m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR).
39
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 12). Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021, a.a.O. m.w.N.).
40
Bei der Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Erziehungsgemeinschaft oder Beistandsgemeinschaft oder aber bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen, zumal auch der persönliche Kontakt mit dem Kind in Ausübung eines Umgangsrechts unabhängig vom Sorgerecht Ausdruck und Folge des natürlichen Elternrechts und der damit verbundenen Elternverantwortung ist und daher unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG steht (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20). Es kommt in diesem Zusammenhang auch nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20 m.w.N.). Dabei ist auch in Rechnung zu stellen, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch die Betreuung des Kindes durch die Mutter entbehrlich wird (vgl. BVerfG, B.v. 30.1.2002 – 2 BvR 231/00 – juris Rn. 20 m.w.N.).
41
Gemessen an diesen Grundsätzen berücksichtigt die von dem Verwaltungsgericht bestätigte Ausweisung angemessen die Bindung des Klägers zu seinen Kindern und auch das Kindeswohl. Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen jedenfalls das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte private Interesse an der Aufrechterhaltung einer familiären Beistands- bzw. Begegnungsgemeinschaft. Ebenso lässt unter der Annahme, dass die Ausweisung des Klägers einen Eingriff in sein durch Art 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Familienleben bedeutet, Art. 8 Abs. 2 EMRK hier einen solchen Eingriff zu, weil er i.S. des Art. 8 Abs. 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit notwendig ist. Denn die bei der Abwägung einzustellenden Interessen von Vater und Kindern am weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet besitzen erheblich weniger Gewicht als die gegen einen weiteren Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet sprechenden Gründe. Festzuhalten ist zudem, dass das zwischen dem Ausländer und seinen minderjährigen Kindern bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse hat (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 44).
42
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, welche der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen insoweit nicht in Zweifel zieht, sieht dieser seine – bei ihrer Mutter lebenden – Kinder regelmäßig, holt sie ab und verbringt den Tag mit ihnen. Außerdem finden hin und wieder Übernachtungen aller drei Kinder bei dem Kläger zuhause sowie mit dem Kläger bei dessen Bruder statt. Die persönliche Beziehung zwischen dem Kläger und seinen Kindern beschränkt sich damit im Wesentlichen auf Besuchskontakte und kann daher schon im Ansatz nicht die gleiche Schutzwürdigkeit beanspruchen wie eine familiäre Lebensgemeinschaft. Wie dargestellt, führen selbst – wie hier nicht – schwerwiegende Eingriffe in das Recht der Familienangehörigen aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht zwangsläufig zur Rechtswidrigkeit einer Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers zugunsten der öffentlichen Sicherheit. Vielmehr steht diesen Rechten – wie dargelegt – das für die Aufenthaltsbeendigung sprechende schwerwiegende Ausweisungsinteresse gegenüber. Im Rahmen des verhältnismäßigen Ausgleichs dieser Interessen ist zu berücksichtigen, inwieweit die Beeinträchtigung des persönlichen Kontaktes durch die Aufrechterhaltung des Kontaktes aus der Ferne via moderner Kommunikationsmittel abgemildert werden kann. Hierzu hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt, dass es dem Kläger möglich und zumutbar ist, die Bindung zu seinen Kindern trotz räumlicher Trennung – zumindest für die Dauer der Wiedereinreisesperre – in anderweitiger Form, z.B. durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und Briefverkehr aufrechtzuerhalten, worauf das Verwaltungsgericht zu Recht hinweist. Alle drei Kinder befinden sich bereits in einem Alter, in welchem sie den Kontakt mit ihrem Vater mit Hilfe von elektronischen Kommunikationsmitteln ohne Weiteres wahrnehmen können. Des Weiteren besteht – auch ohne eine behördliche Zusage – gemäß § 11 Abs. 8 AufenthG die Möglichkeit einer kurzfristigen Betretenserlaubnis, um im Einzelfall unbillige Härten zu vermeiden. Damit überwiegt das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des Klägers im Bundesgebiet das Bleibeinteresse des Klägers sowie das Kindeswohl, weshalb der Eingriff in Art. 8 EMRK verhältnismäßig und die Ausweisung im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG unerlässlich ist.
43
Soweit der Kläger (sinngemäß) die Einschätzung des Verwaltungsgerichts beanstandet, dass auch die angeborene Herzerkrankung des Klägers sich bei der erforderlichen Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung nicht als so gewichtig darstelle, dass Letztere als unverhältnismäßig anzusehen wäre, und auf die Stellungnahme des Bundesamtes verweist, wonach der Gefahr einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung durch die im Herkunftsland vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden könne, stellt dies die Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch die Beklagte und das Verwaltungsgericht nicht in Frage. Im Rahmen der insoweit gegebenen Prüfungskompetenz für zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote haben die Beklagte (und das Verwaltungsgericht) zu Recht auf die eingeholte Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juni 2021 abgestellt, die nachvollziehbar das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG verneint (im Einzelnen zu dieser Stellungnahme sogleich).
44
2.1.3.3 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht bestätigte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 AufenthG auf die Dauer von vier Jahren.
45
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des (nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Einzelfall anzuordnenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ändert das Erfordernis einer Ermessensentscheidung nichts am behördlichen Prüfprogramm. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches seiner Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben aus Art. 7 EU-GR-Charta und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern es bedarf nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23).
46
Da für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Befristungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 20.6.2017 – 10 B 17.135 – juris). Daher sind die Ermessenserwägungen, die die Beklagte ihrer Pflicht zur fortlaufenden Aktualisierung ihrer behördlichen Befristungsentscheidung entsprechend während des Zulassungsverfahrens ergänzt hat, vom Senat bei der gerichtlichen Überprüfung mit zu würdigen.
47
Gemessen an diesen Vorgaben hat das Verwaltungsgericht zutreffend Ermessensfehler verneint. Die Beklagte hat das ursprünglich auf die Dauer von sieben Jahren festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach erneuter Würdigung der geltend gemachten Umstände in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht auf die Dauer von vier Jahren befristet. Dabei wurde einerseits insbesondere die aus dem Verhalten des Klägers resultierende tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft berücksichtigt, andererseits aber auch zutreffend die familiären Bindungen des Klägers zu seinen sich im Bundesgebiet (als deutsche Staatsangehörige bzw. mit einem Daueraufenthaltsrecht) aufhaltenden (teilweise noch minderjährigen) Kindern sowie das Kindeswohl gesehen und wurde beanstandungsfrei eine Befristung von vier Jahren für angemessen erachtet. Die Ermessenserwägungen wurden seitens der Beklagten unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags in nicht zu beanstandender Weise aktualisiert.
48
Wie ausgeführt führt die Aussetzung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Rahmen des Maßregelvollzugs im vorliegenden Fall weder zu einem Fortfall der Wiederholungsgefahr, noch vermag dieser Umstand das Gewicht des besonders schwerwiegenden öffentlichen Ausweisungsinteresses im Rahmen der Abwägung in maßgeblicher Weise zu verringern. Die aktualisierte Ermessensentscheidung der Beklagten, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf vier Jahre aufrechtzuerhalten, lässt insoweit keine Ermessensfehler erkennen.
49
2.1.3.4 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht im Hinblick auf die Abweisung der Verpflichtungsklage auf Aufenthaltserlaubniserteilung. Das Verwaltungsgericht hat – wie dargelegt – die Anfechtungsklage gegen die Ausweisungsverfügung zu Recht abgewiesen. Damit steht das auf ihrer Grundlage erlassene (und – wie dargelegt – rechtmäßige) Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegen (vgl. zur Anwendbarkeit des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf § 4 Abs. 2 AufenthG: Moor in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. 1.1.2023, AufenthG § 4 Rn 31; Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 11 Rn. 9).
50
2.1.3.5 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestehen schließlich auch nicht hinsichtlich der von dem Verwaltungsgericht bestätigten Abschiebungsanordnung (Ziffer V) und Abschiebungsandrohung (Ziffer VI).
51
Der Kläger beanstandet im Hinblick auf seine angeborene Herzerkrankung und seinen sich daraus ergebenden Behandlungsbedarf, das Verwaltungsgericht verweise auf die Stellungnahme des Bundesamtes, wonach der Gefahr einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung durch die im Herkunftsland vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden könne; aus der Begründung werde nicht klar, ob dem Kläger die geeignete Medikation in seinem Herkunftsland – auch im Hinblick auf seine finanziellen Verhältnisse und sein Aufwachsen im Bundesgebiet – zuteilwerden würde; es bestehe die Gefahr, dass der Kläger in seinem Herkunftsland in eine lebensbedrohliche Situation gerate. Hierzu ließ der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren (zuletzt Schriftsatz v. 29.11.2021, Bl. 120 der VG-Akte) ein ärztliches Attest sowie eine Stellungnahme des Universitätsklinikums E. vom 12. November 2021 vorlegen, wonach bei ihm aufgrund eines komplexen angeborenen Herzfehlers sowie maligner Herzrhythmusstörungen engmaschige ärztliche Kontrollen an einem Zentrum für Erwachsene mit angeborenem Herzfehler dringend indiziert sind (vgl. auch die Berichte des Universitätsklinikums R. vom 18.11.2020, Bl. 46 ff. der VG-Akte, und vom 14.10.2020, Bl. 100 ff. der VG-Akte). Dieser Vortrag begründet jedoch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bzw. Abschiebungsandrohung in das Herkunftsland des Klägers.
52
Die Prüfungskompetenz hinsichtlich der Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots liegt hier bei der Beklagten, da der Kläger kein Asylverfahren betrieben hat (vgl. Samel/Kolber in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 72 Rn. 7). Gemäß § 72 Abs. 2 AufenthG entscheidet die Ausländerbehörde u.a. über das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden Bundesamt). Dies berücksichtigend hat die Beklagte eine Stellungnahme des Bundesamtes eingeholt, das mit Schreiben vom 30. Juni 2021 (Bl. 86 ff. der VG-Akte) erklärt hat, dass keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorlägen, da der Gefahr einer wesentlichen oder gar lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung durch die in der Türkei vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden könne (mit Detailausführungen zur medizinischen Versorgung und zum Gesundheitssystem in der Türkei) und die dem Kläger verordneten Medikamente in seinem Herkunftsland verfügbar seien. Dem hat sich das Verwaltungsgericht angeschlossen.
53
Zwar ist die Beklagte – und auch das Verwaltungsgericht – an die Stellungnahme des Bundesamtes nach § 72 Abs. 2 AufenthG nicht gebunden, diese verfolgt jedoch den Zweck, die besondere Sachkunde des Bundesamtes hinsichtlich der Beurteilung der Verhältnisse und Gefahren im Zielstaat in die Entscheidung der Ausländerbehörde einfließen zu lassen (vgl. Samel/Kolber in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 72 Rn. 9; Kluth in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 36. Ed. 1.1.2023, AufenthG § 72 Rn. 6 m.V.a. BT-Drs. 15/420, S. 94; vgl. allgemein zu den Beteiligungserfordernissen des § 72 AufenthG: Wittmann in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, 13. Ed. 15.10.2022, AufenthG § 72 Rn. 6). Bestehen an der inhaltlichen Richtigkeit oder Vollständigkeit der Stellungnahme des Bundesamtes begründete Zweifel, so wird die Ausländerbehörde bzw. das Verwaltungsgericht im Rahmen der Amtsermittlung gemäß Art. 24 Abs. 1 BayVwVfG bzw. § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO unter Umständen eigene Ermittlungen – gegebenenfalls durch Einholen von Auskünften sachkundiger Stellen bzw. eines Sachverständigengutachtens – durchzuführen und die Entscheidung somit auf eine breitere Tatsachengrundlage zu stellen haben. Hierzu bestand vorliegend jedoch kein Anlass, da der Kläger die detaillierten Feststellungen des Bundesamtes mit seinem letztlich unsubstantiierten Vortrag, es fehle an Darlegungen, inwiefern ihm die – unterstellt vorhandenen – Behandlungsmöglichkeiten in seinem Herkunftsland zugänglich seien, nicht in Frage zu stellen vermag und sich insoweit auch anderweitig keine Zweifel an der Stellungnahme des Bundesamtes aufdrängen:
54
Das Bundesamt führt in der genannten Stellungnahme aus, im Herkunftsland des Klägers gebe es neben dem staatlichen Gesundheitssystem, das eine medizinische Grundversorgung garantiere, mehr und mehr leistungsfähige private Gesundheitseinrichtungen, die in jeglicher Hinsicht EU-Standards entsprächen. Das staatliche Gesundheitssystem habe sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, insbesondere in ländlichen Gegenden sowie für die arme, nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn in ländlichen Provinzen zum Teil noch Versorgungsdefizite bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestünden, seien landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Die Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern sei für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten – mit Ausnahme einer geringen „Praxisgebühr“ – unentgeltlich. Die Kosten mancher Medikamente, die deutlich geringer als in Deutschland seien, würden teilweise von den Versicherten getragen. In der staatlichen Krankenversicherung seien Erwerbstätige und ihre Familienangehörigen versichert. Für Familienangehörige ohne eigenes Einkommen besteht die Möglichkeit einer Familienversicherung. Die Behandlung in den staatlichen Zentren für Mutter und Kind sowie Familienplanung sei generell unentgeltlich. Am 1. Oktober 2008 sei das Zweite Gesetz zur Sozialversicherungsreform in Kraft getreten, wonach ein „Universal Health Service“ zur Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung aller Bürger eingerichtet werde. Dabei sollten die gleichen Voraussetzungen und Leistungsansprüche für Angestellte, Rentner und selbständige hergestellt und auch bislang unversicherte Mittellose einbezogen werden, die bisher über die „Grüne Karte“ Leistungen erhalten hätten. Inzwischen habe die Türkei zum 1. Januar 2012 die allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt, die auch die unversicherten Mittellosen berücksichtige, die „Grünen Karten“ seien bis Ende 2012 ausgelaufen (m.V.a. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020, Stand Juni 2020, Gz.: 508-516.80/3 TUR). Des Weiteren enthält die Stellungnahme des Bundesamtes ausführliche Darlegungen zu den Behandlungsmöglichkeiten für psychisch kranke Menschen im öffentlichen Gesundheitssystem sowie in privaten Gesundheitseinrichtungen einschließlich der Finanzierung solcher Behandlungen. Abschließend erläutert das Bundesamt, dass die von dem Kläger benötigten Medikamente Bisoprolol, Brivaracetam und Spirnolacton in der Türkei verfügbar seien (m.V.a. Liste der registrierten Medikamente in der Türkei, Quelle: https://www.titck.gov.tr/dinamikmodul/85). Angesichts dieser detaillierten Ausführungen des Bundesamtes hätte es einer konkreten Darlegung des Klägers bedurft, inwiefern ihm die Behandlung in seinem konkreten Einzelfall nicht zugänglich sein sollte. Abgesehen davon besteht gemäß § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG kein Anspruch auf eine dem medizinischen Standard in Deutschland gleichwertige Behandlung. Der Kläger muss sich vielmehr auf die in seinem Herkunftsland bestehenden Behandlungsmöglichkeiten verweisen lassen.
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Zudem steht nach § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht selbst das – hier nach der Stellungnahme des Bundesamtes nicht gegebene – Vorliegen von Abschiebungsverboten dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Der Rechtsgedanke des § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG findet des weiteren auch für den Fall der Abschiebungsanordnung Anwendung, da es gemäß § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG in den Fällen des § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG (also dann, wenn sich ein Ausländer auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befindet) keiner Fristsetzung bedarf, in diesem Fall der Ausländer also aus der Haft oder dem öffentlichen Gewahrsam abgeschoben wird (§ 59 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 und 2 AufenthG).
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2.2 Der Zulassungsgrund der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten liegt ebenfalls nicht vor.
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Besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten im Sinne dieser Vorschrift weist eine Rechtssache dann auf, wenn die Beantwortung der für die Entscheidung erheblichen Fragen in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht voraussichtlich das durchschnittliche Maß nicht unerheblich überschreitende Schwierigkeiten bereitet, wenn sie sich also wegen der Komplexität und abstrakten Fehleranfälligkeit aus der Mehrzahl der verwaltungsgerichtlichen Verfahren heraushebt (BayVGH, B.v. 10.4.2017 – 15 ZB 16.673 – juris Rn. 42 m.w.N.).
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Besondere tatsächliche Schwierigkeiten einer Rechtssache entstehen durch einen besonders unübersichtlichen und/oder einen schwierig zu ermittelnden Sachverhalt. Ob besondere tatsächliche Schwierigkeiten bestehen, ist unter Würdigung der aufklärenden Tätigkeit des Verwaltungsgerichts zu beurteilen (Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 33). Eine Rechtssache weist besondere rechtliche Schwierigkeiten auf, wenn eine kursorische, aber sorgfältige, die Sache überblickende Prüfung der Erfolgsaussichten einer Berufung keine hinreichend sichere Prognose über den Ausgang des Rechtsstreits erlaubt. Die Offenheit des Ergebnisses charakterisiert die besondere rechtliche Schwierigkeit und rechtfertigt – insbesondere zur Fortentwicklung des Rechts – die Durchführung des Berufungsverfahrens (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 16, 25, 27). Dabei ist der unmittelbare sachliche Zusammenhang des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO mit Abs. 2 Nr. 1 VwGO in den Blick zu nehmen (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 25). Schwierigkeiten solcher Art liegen vor, wenn der Ausgang des Rechtsstreits aufgrund des Zulassungsvorbringens bei summarischer Prüfung als offen erscheint und sich die aufgeworfenen Rechts- und Tatsachenfragen nicht schon ohne Weiteres im Zulassungsverfahren, sondern erst in einem Berufungsverfahren mit der erforderlichen Sicherheit klären und entscheiden lassen.
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Für die Darlegung der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten genügt dabei nicht die allgemeine Behauptung eines überdurchschnittlichen Schwierigkeitsgrads. Vielmehr ist erforderlich, dass sich die Kläger mit dem verwaltungsgerichtlichen Urteil substanziell auseinandersetzen und im Einzelnen darlegen, hinsichtlich welcher aufgrund der erstinstanzlichen Entscheidung auftretenden Fragen sich besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten ergeben sollen (BayVGH, B.v. 2.5.2011 – 8 ZB 10.2312 – juris Rn. 21 m.w.N.).
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An einer derartigen Darlegung fehlt es im vorliegenden Fall. Der Kläger lässt zwar die besondere tatsächliche und/oder rechtliche Schwierigkeit der Rechtssache geltend machen, zeigt jedoch nicht auf, hinsichtlich welcher aufgrund der erstinstanzlichen Entscheidung auftretenden Fragen sich besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten ergeben sollen. Solche Schwierigkeiten liegen auch in der Sache nicht vor. Wie dargelegt, bestehen an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (jedenfalls im Ergebnis) keine ernstlichen Zweifel. Damit ist das Ergebnis des Rechtsstreits nicht in einer Weise offen, welche die besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeit der Rechtssache charakterisieren würde und – insbesondere zur Fortentwicklung des Rechts – die Durchführung des Berufungsverfahrens rechtfertigte.
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3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1, 158 Abs. 1 VwGO).
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).