Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.02.2023 – 9 C 23.22
Titel:

Rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Ablehnung der Rechtsanwaltsbeiordnung

Normenketten:
VwGO § 146 Abs. 1, § 166
ZPO § 114, § 115, § 127 Abs. 1 S. 3
Leitsätze:
1. Wird einem Kläger im Beschwerdeverfahren rückwirkend Prozesskostenhilfe bewilligt, kommt eine rückwirkende Beiordnung für das beendete Hauptsacheverfahren gleichwohl nicht in Betracht, wenn der Kläger sich trotz frühzeitiger Benennung eines ihm beizuordnenden Rechtsanwalts von diesem erstinstanzlich nicht hat vertreten lassen und somit nicht ersichtlich ist, dass ihm aus einer Bevollmächtigung für das Klageverfahren oder einem diesbezüglich zu stellenden Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erstattungsfähige Rechtsanwaltskosten entstanden sein könnten. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Da das Prozesskostenhilfe-Beschwerdeverfahren nicht dem Anwaltszwang unterliegt und der mittellose Beteiligte gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe selbst Beschwerde einlegen kann, besteht kein Bedürfnis dafür, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Prozesskostenhilfe-Prüfungsverfahren anzuerkennen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde, Prozesskostenhilfe, Bauaufsichtliches Einschreiten., Rechtsanwaltsbeiordnung, hinreichende Erfolgsaussichten, Entscheidungsreife
Vorinstanz:
VG Ansbach, Beschluss vom 20.10.2022 – AN 17 K 22.1642
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6080

Tenor

I. Auf die Beschwerde des Klägers wird Nr. 4 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 20. Oktober 2022 (AN 17 K 22.01642) aufgehoben.
II. Dem Kläger wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt. Die Beiordnung einer Rechtsanwältin bzw. eines Rechtsanwalts wird abgelehnt.
III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts (Notanwalts) für das Beschwerdeverfahren wird verworfen.

Gründe

I.
1
Der Kläger wendet sich mit seiner („sofortigen“) Beschwerde gegen die unter Nr. 4 des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 20. Oktober 2022 (Az. AN 17 K 22.01642) ausgesprochene Ablehnung seines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein von ihm angestrengtes Klageverfahren. Außerdem stellt er für dieses Beschwerdeverfahren einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts (Notanwalts).
2
Das Verwaltungsgericht hat das auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen eine gewerbliche Nutzung (Lagerplatz) auf einem Grundstück der Beigeladenen zu 1 gerichtete Klageverfahren nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen des Klägers und des Beklagten mit Beschluss vom 20. Oktober 2022 eingestellt und die Kosten des Verfahrens dem Kläger auferlegt (Nr. 1 und 2 des Beschlusses). Zur Begründung der Kostenentscheidung hat es ausgeführt, dass die Klage, hätte sich die Hauptsache nicht erledigt, vermutlich erfolglos geblieben wäre. Sie sei zwar zulässig gewesen. Es habe nicht an der Klagebefugnis gefehlt. Der Kläger habe mit E-Mail vom 29. November 2021 einen ausreichend bestimmten Antrag auf Nutzungsuntersagung gegenüber der Behörde gestellt. Die Klage sei aber nicht begründet gewesen, da das Landratsamt nur verpflichtet gewesen sei, unter Berücksichtigung der Interessen des Klägers als Nachbarn über ein Einschreiten zu entscheiden und dieser einen Anspruch auf Nutzungsuntersagung nur dann habe, wenn das behördliche Ermessen auf null reduziert sei. Hierzu habe der Kläger nichts vorgetragen. Eine unzumutbare Belästigung sei nicht ersichtlich. Aus denselben Gründen sei auch der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abzulehnen.
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Mit seiner am 9. November 2022 beim Verwaltungsgericht eingegangenen „sofortigen“ Beschwerde und seinem hierzu gestellten Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts (Notanwalts) macht der Kläger geltend, es sei ungerecht, dass sein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung einer Rechtsanwältin trotz des von ihm betriebenen Aufwands abgelehnt worden sei. Ein Erfolg der Klage sei hinreichend wahrscheinlich gewesen. Der Antrag sei nicht vorab bearbeitet und die begehrte Beiordnung einer Rechtsanwältin sei vom Verwaltungsgericht übergangen worden. Die Untätigkeit des Beklagten gemäß § 75 VwGO sei nicht berücksichtigt worden. Die erlassenen Beiladungsbeschlüsse zeigten, dass das Verwaltungsgericht die Klage nicht als mutwillig angesehen habe.
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Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte verwiesen.
II.
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Das als Beschwerde gemäß § 146 Abs. 1 VwGO gegen die Prozesskostenhilfeentscheidung des Verwaltungsgerichts auszulegende Rechtsmittel des Klägers, über das, obwohl allein der Berichterstatter erstinstanzlich entschieden hat, der Senat die Entscheidung trifft (vgl. SächsOVG, B.v. 2.2.2018 – 3 D 76/17 – juris Rn. 3 m.w.N.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 87a Rn. 12a m.w.N.), hat in der Sache überwiegend Erfolg; dem Kläger ist für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, allerdings ohne rückwirkende Rechtsanwaltsbeiordnung (1.). Der für das Beschwerdeverfahren gestellte Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts („Notanwalt“) ist dagegen als unzulässig zu verwerfen (2.).
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1. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde (§ 146 Abs. 1, § 147 VwGO) ist überwiegend begründet. Dem Kläger ist rückwirkend Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen (a), wobei jedoch die beantragte Beiordnung eines Rechtsanwalts unterbleibt (b).
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a) Nach § 166 VwGO Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
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aa) Der Kläger hat durch seine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und die beigefügten Belege nachgewiesen, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung nach § 166 VwGO, §§ 114, 115 ZPO gegeben sind. Von einer Darstellung der gemäß § 115 ZPO durchgeführten Berechnung wird im Hinblick auf § 127 Abs. 1 Satz 3 ZPO abgesehen (vgl. BayVGH, B.v. 22.4.2010 – 11 C 10.82 – juris Rn. 8).
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bb) Die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheint nicht mutwillig und sie hat zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife (vgl. Zimmermann-Kreher in BeckOK VwGO, Stand Oktober 2022, § 166 Rn. 45 m.w.N.) – hier dem Zeitpunkt der Vorlage der vollständigen Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen am 12. Juli 2022 – auch hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten.
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Im Rahmen der Prüfung hinreichender Erfolgsaussichten nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dürfen die eigentliche Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht aus dem Hauptsacheverfahren in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert werden und die Anforderungen nicht überspannt werden (BVerfG, B.v. 28.1.2013 – 1 BvR 274/12 – juris Rn. 12). Der Erfolg muss nicht gewiss sein; es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die bereits gegeben ist, wenn ein Obsiegen ebenso infrage kommt wie ein Unterliegen. Hinreichend ist die Erfolgsaussicht jedenfalls dann, wenn die Entscheidung von einer schwierigen, ungeklärten Rechtsfrage abhängt oder wenn der vom Beteiligten vertretene Rechtsstandpunkt zumindest vertretbar erscheint (vgl. BayVGH, B.v. 9.4.2021 – 9 C 20.3161 – juris Rn. 8). Die Klärung strittiger Rechts- oder Tatsachenfragen hat grundsätzlich nicht im Prozesskostenhilfeverfahren, sondern im Hauptsacheverfahren zu erfolgen; sofern eine Beweiserhebung ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Klägers ausgehen wird, ist grundsätzlich Prozesskostenhilfe zu gewähren (BVerfG, B.v. 28.8.2014 – 1 BvR 3001/11 – juris Rn. 12 f.).
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Hieran gemessen kann die Antragsablehnung durch das Verwaltungsgericht keinen Bestand haben. Zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe dürfte – insoweit mit dem Verwaltungsgericht übereinstimmend – der Kläger als klagebefugter Nachbar anzusehen gewesen sein, weil das dem streitgegenständlichen Lagerplatz nahegelegene und von ihm bewohnte Grundstück zwar herrenlos, aber zu seinen Gunsten eine Auflassungsvormerkung im Grundbuch eingetragen war (vgl. BVerwG, U.v. 11.5.1989 – 4 C 1.88 – BVerwGE 82, 61 = juris Rn. 43). Mit dem erstinstanzlichen Gericht ist auch von einem Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegenüber dem Landratsamt auszugehen. Nicht zuletzt mit Blick darauf, dass dieser Antrag weder vor noch nach Klageerhebung gegenüber dem Kläger verbeschieden wurde, ist es vorliegend allerdings nicht zulässig, das mit der Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO verfolgte Klageziel allein auf die Verpflichtung zu einer Nutzungsuntersagung, auf die aber mangels Ermessensreduzierung auf null kein Anspruch bestehe, zu verengen. Das Begehren des nicht anwaltlich vertretenen Klägers, so wie es sich seinem Klageschreiben vom 12. Juli 2022 entnehmen lässt, ist vielmehr ersichtlich allgemein darauf gerichtet, bauaufsichtliches Einschreiten gegen eine ungenehmigte gewerbliche Nutzung auf einem Nachbargrundstück zu erreichen. Der Kläger führte zur Klagebegründung u.a. aus, dass die Beigeladene behördlicherseits zur Stellung eines Bauantrags aufgefordert worden sei, die gesetzten Fristen seien aber immer wieder folgenlos verstrichen und es sei sein „gutes Recht“, darauf „zu drängen, dass durch bauaufsichtliches Einschreiten geklärt“ werde, „welche Tätigkeiten dort von einem Gewerbebetrieb in dieser Größenordnung, tatsächlich in der Vergangenheit, gegenwärtig und in der Zukunft ausgeführt werden.“ Der wohl auch hierauf bezogene gerichtliche Hinweis, der Kläger müsse klarstellen, ob sein Antrag auf Nutzungsuntersagung bzw. Beseitigungsanordnung gerichtet sei, ein Tätigwerden zur Ermittlung des Sachverhalts könne er nicht beanspruchen, woraufhin der Kläger die Nutzungsuntersagung als Klageziel benannte, leitete aber fehl. Dass der Hinweis zudem nach dem maßgeblichen Zeitpunkt, dem 12.Juli 2022, erging, kann daher dahinstehen. Das Landratsamt ist auf die Anzeigen und den Antrag des Klägers hin bauaufsichtlich eingeschritten, indem es die Beigeladene zu 1 aufforderte, einen Bauantrag zu stellen (vgl. Art. 76 Satz 3 BayBO). Dies dient auch der Tatsachenermittlung, um die materielle Rechtmäßigkeit des Bauvorhabens bzw. dessen Genehmigungsbedürftigkeit und -fähigkeit umfassend beurteilen zu können. Ein Bescheid gegenüber dem Kläger, in dem auch die behördlichen Ermessenserwägungen zur Art und Weise des Einschreitens zu erläutern gewesen wären, ist aber unterblieben. Der Klageantrag kann daher unter Berücksichtigung der Laiensphäre des Klägers nur dahingehend verstanden werden, dass er weiterhin die ordnungsgemäße Behandlung und damit auch Verbescheidung seines Antrags auf bauaufsichtliches Einschreiten verfolgte (vgl. zum Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung BayVGH, B.v. 23.6.2021 – 9 ZB 20.1900 – juris Rn. 10). Im Übrigen wäre selbst bei einem von einem Rechtsanwalt formulierten Verpflichtungsantrag grundsätzlich immer auch ein Bescheidungsantrag als Minus mitzulesen, ohne dass es eines ausdrücklichen Hilfsantrags bedürfte (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, § 113 Rn. 51).
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b) Dem Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts bzw. einer Rechtsanwältin (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 ZPO) war nicht mehr nachzukommen. Eine rückwirkende Beiordnung für das beendete Verfahren kommt trotz der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nicht in Betracht, weil der Kläger zwar frühzeitig eine ihm beizuordnende Rechtsanwältin benannt hat, er sich von dieser erstinstanzlich aber nicht hat vertreten lassen und somit nicht ersichtlich ist, dass ihm aus einer Bevollmächtigung für das Klageverfahren oder einem diesbezüglich zu stellenden Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erstattungsfähige Rechtsanwaltskosten entstanden sein könnten.
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Einer Kostenentscheidung zum Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, da Kosten nicht erstattet werden (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO) und Gerichtsgebühren nur bei einer Zurückweisung der Beschwerde anfallen würden (Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses der Anlage 1 zum GKG).
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2. Soweit der Kläger Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gegen die erstinstanzliche Versagung der Prozesskostenhilfe unter gleichzeitiger Beiordnung eines Rechtsanwalts beantragt, ist sein Antrag nicht statthaft und daher als unzulässig zu verwerfen. Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann Prozesskostenhilfe für das Prozesskostenhilfeverfahren nicht bewilligt werden, denn unter „Prozessführung“ i.S.d. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist nicht auch das Prozesskostenhilfe-Prüfungsverfahren, sondern nur das eigentliche Streitverfahren zu verstehen (vgl. BVerwG, B.v. 22.8.1990 – 5 ER 640.90 – juris; NdsOVG, B.v. 2.7.2003 – 2 PA 177/03 – juris Rn. 4; Zimmermann-Kreher in BeckOK, VwGO, § 166 Rn. 2.1 m.w.N.). Da das Prozesskostenhilfe-Beschwerdeverfahren nicht dem Anwaltszwang unterliegt und der mittellose Beteiligte gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe selbst Beschwerde einlegen kann, besteht auch kein Bedürfnis dafür, unter Abweichung von dogmatischen Grundsätzen zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ein Prozesskostenhilfe-Prüfungsverfahren anzuerkennen (vgl. HessVGH, U.v. 8.10.2010 – 8 B 1344/10 – juris Rn. 10 m.w.N.). Im Übrigen hat der Kläger mit einer Kostenlast aus dem Beschwerdeverfahren nicht zu rechnen, da er obsiegt hat (s. hierzu zur Kostentragung unter 1.).
15
Die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ergeht gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet (§ 166 VwGO i.V.m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).