Titel:
Erfolgloser Eilantrag auf Aussetzung einer Abschiebung
Normenketten:
EMRK Art. 8
AufenthG § 5 Abs. 2 Nr. 1, § 25a Abs. 1 S. 1, § 60a Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Für die rechtliche Unmöglichkeit im Rahmen von § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK kommt es allein auf die tatsächliche Verwurzelung des Betroffenen im Bundesgebiet an. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgeblicher Zeitpunkt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren für das Tatbestandsmerkmal der Geduldeteneigenschaft in § 25a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG, wobei hierunter eine rechtswirksam erteilte Duldung beziehungsweise ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung zu verstehen sind, ist derjenige der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung der Tatsacheninstanz; dass ein Betroffener die Eigenschaft vor dem maßgeblichen Zeitpunkt aufwies, reicht daher grundsätzlich nicht aus. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3. Fälle, in denen von der Anwendung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ganz oder zumindest hinsichtlich einzelner Erteilungsvoraussetzungen zwingend abzusehen ist oder im Ermessenswege abgesehen werden kann, hat der Gesetzgeber beim jeweiligen Aufenthaltstitel ausdrücklich kenntlich gemacht und davon bei § 25a Abs. 1 AufenthG abgesehen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, Duldung, Bindungen im Bundesgebiet, Verfahrensduldung, Besitz einer Duldung, Erfolgreicher dreijähriger Schulbesuch, Abschiebung, tatsächliche Verwurzelung, Geduldeteneigenschaft, entscheidungserheblicher Zeitpunkt, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Absehen, gut integrierte Jugendliche
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 10.02.2023 – 6 E 23.170
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6066
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,-- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller, ein bestandskräftig abgelehnter Asylantragsteller gambischer Nationalität, verfolgt mit seiner Beschwerde seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO bei verständiger Würdigung des Rechtsschutzbegehrens dahingehend weiter, den Antragsgegner zu verpflichten, die für den 20. Februar 2023 terminierte Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG einstweilen auszusetzen beziehungsweise diese nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG und § 25a AufenthG bis zu der Entscheidung des Verwaltungsgerichts über seine Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG auszusetzen.
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1. Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt nicht die begehrte Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses.
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a) Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Antragsteller keinen Anordnungsanspruch auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 VwGO im Sinne von § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO und § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft gemacht hat.
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aa) Die Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass Gründe, welche die Annahme einer Duldung rechtfertigen würden, weder vorgetragen noch sonst ersichtlich seien, ist nicht zu beanstanden. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts hat der volljährige, erwerbs- und kinderlose sowie alleinstehende Antragsteller im Bundesgebiet keine wesentlichen schutzwürdigen Bindungen. Ob er hypothetisch eine Schule hätte besuchen oder eine Ausbildung absolvieren können, wäre er von Anfang an als Minderjähriger behandelt worden, sei unerheblich, da keine derartigen Bindungen aufgebaut worden seien. Einen Folgenbeseitigungsanspruch, im Nachhinein so gestellt zu werden, als hätte er eine Schul- oder Berufsausbildung durchlaufen, habe der Antragsteller nicht. Wäre er bereits bei seiner Einreise nicht unter Verstoß gegen § 3 AufenthG ohne, sondern mit einem formal echten und inhaltlich wahren Reisepass seines Herkunftsstaats eingereist, wäre er voraussichtlich entsprechend behandelt worden. Der Antragsteller habe selbst die Ursache seiner Identitäts- und Alterszweifel gesetzt (vgl. BA S. 8 f.).
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bb) Diese Erwägungen des Verwaltungsgerichts hat die Antragstellerseite im Beschwerdeverfahren nicht mit dem Einwand entkräftet, der Antragsteller habe, indem er alleine mit Freunden und Bekannten Deutsch gelernt habe (auf dem Niveau A 2 mündlich), schützenswerte soziale Bindungen aufgebaut. Dass diese Bindungen so wesentlich sind, dass sie unter Berücksichtigung des Rechts auf ein Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK die entgegenstehenden Interessen an der Durchsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht überwiegen und einen Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet gebieten würden, ist damit weder dargetan noch gar glaubhaft gemacht, zumal lediglich hinreichende – und auch nur mündliche − deutsche Sprachkenntnisse im Sinne von § 2 Abs. 10 AufenthG und allenfalls nicht näher konkretisierte freundschaftliche Beziehungen in Rede stehen.
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Nicht zum Erfolg führt auch der Einwand der Antragstellerseite, der Antragsteller müsse hinsichtlich seiner Bindungen so gestellt werden, wie er gestanden hätte, wenn die Ausländerbehörde und das Jugendamt ihn aufgrund der vorgelegten Geburtsurkunde und der nachträglich vorgelegten Reisepässe als Minderjährigen behandelt hätten, wobei man aber nicht so weit gehen müsse, ihn so zu behandeln, als ob er die Schule erfolgreich absolviert hätte, aber es sei sinnvoll, ihm die Möglichkeit zu geben, die Schule zu besuchen, einen Sprachkurs auf Niveau A 2 zu absolvieren, eine Ausbildung aufzunehmen oder zu arbeiten. Die Antragstellerseite konzediert damit selbst, dass der Antragsteller maßgebliche sprachliche, schulische und wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet aktuell nicht besitzt, sondern der Antragsteller hierfür vielmehr künftig erst die Grundlagen schaffen müsste. Ebenso wie für die Unmöglichkeit aus rechtlichen Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK kommt es für die rechtliche Unmöglichkeit im Rahmen von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK allein auf die tatsächliche Verwurzelung des Betroffenen im Bundesgebiet an. Abgesehen davon, dass mit der vorgelegten E-Mail vom 7. Februar 2023 ein zukünftiger Ausbildungsplatz weder substantiiert dargelegt noch glaubhaft gemacht ist, da ihr die essentialia eines Ausbildungsvertrags nicht zu entnehmen sind (vgl. VG Augsburg, Gerichtsakte, Bl. 71 Rückseite: „Ich würde ihm eine Ausbildung anbieten“), kommt es hierauf aus genannten Gründen auch nicht an.
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b) Das Verwaltungsgericht hat auch zu Recht festgestellt, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG und § 25a AufenthG nicht im Sinne von § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO und § 294 Abs. 1 ZPO glaubhaft gemacht hat.
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aa) Eine – lediglich ausnahmsweise mögliche (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 12.9.2022 – 10 CE 22.1925 – juris Rn. 4; B.v. 6.12.2021 – 10 CE 21.2930 – juris Rn. 3 m.w.N.) − Verfahrensduldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass die Aussetzung der Abschiebung geboten ist, weil zweifelsfrei ein (Rechts-)Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels besteht beziehungsweise – wenn der Ausländerbehörde in Bezug auf die Titelerteilung Ermessen eröffnet ist – keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen könnten (vgl. BayVGH, B.v. 1.12.2022 – 10 CE 22.2378 u. 10 C 22.2379 – juris Rn. 28; VGH BW, B.v. 2.3.2021 – VGH 11 S 120/21 – juris Rn. 16 m.w.N.; B.v. 22.10.2020 – VGH 11 S 1812/20 – juris Rn. 15).
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bb) Insofern geht der gegen den Prüfungsmaßstab bei der Verfahrensduldung gerichtete Einwand der Antragstellerseite, dass Ansprüche im Eilverfahren nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden müssten, an der Sache vorbei, weil zur Wahrung der in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung ein die Glaubhaftmachungsanforderungen des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO und § 294 Abs. 1 ZPO ergänzender Prüfungsmaßstab gilt. Die verwaltungsgerichtliche Prüfung des geltend gemachten Anspruchs auf Erteilung einer Verfahrensduldung ist insoweit auch nicht auf die Gründe in etwaigen vorangehenden Behördenentscheidungen beschränkt.
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cc) Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf abgestellt, dass der Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht im Sinne des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG seit mindestens zwölf Monaten im Besitz einer Duldung ist.
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(1) So sei hinsichtlich des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG a.F. anerkannt, dass der Ausländer im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geduldet sein müsse. Geduldet sei ein Ausländer, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden sei oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Maßgeblicher Zeitpunkt hierfür sei wiederum nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung in der Tatsacheninstanz (unter Verweis auf: BayVGH, B.v. 12.9.2022 -10 CE 22.1925 − juris Rn. 6 m.w.N.). Aufgrund des insoweit − sowohl in der alten als auch der neuen Fassung – wortgleichen § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG („geduldeter Ausländer“) sei bei dieser Norm ebenfalls auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen. Der seit dem 7. Oktober 2019 nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG geduldete Antragsteller sei mit Ablauf des 3. Februar 2023 nicht mehr im Besitz einer Duldung, außerdem habe er bei summarischer Prüfung auch keinen Anspruch auf Erteilung einer solchen (vgl. BA S S. 10 i.V.m. S. 8 f.). Der Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG bei der Ausländerbehörde verleihe keinen Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung, da diese allein dazu diene, die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten, nicht jedoch, die bisher nicht erfüllten Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels überhaupt erst herbeizuführen (vgl. BA S. 11 ebenfalls unter Verweis auf BayVGH, B.v. 12.9.2022 – 10 CE 22.1925 – juris Rn. 6 m.w.N.).
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(2) Mit diesen Erwägungen des Verwaltungsgerichts setzt sich die Antragstellerseite im Beschwerdeverfahren nicht substantiiert auseinander. Die Argumente der Antragstellerseite, dass der Antragsteller bis zu seiner Volljährigkeit einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung gehabt habe, weil er nach § 58 Abs. 1a AufenthG nicht hätte abgeschoben werden können, und dass er bereits am 9. November 2022 einen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt habe, gehen an der Sache vorbei. Abgesehen davon, dass § 58 Abs. 1a AufenthG lediglich im Fall der Nichteinhaltung der genannten Vorgaben im Rückkehrstaat einer Abschiebung entgegensteht, ist maßgeblicher Zeitpunkt im verwaltungsgerichtlichen Verfahren für das Tatbestandsmerkmal der Geduldeteneigenschaft in § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG, wobei hierunter eine rechtswirksam erteilte Duldung beziehungsweise ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung zu verstehen sind, bei Auslegung nach dem Wortlaut („geduldeten Ausländer“ u. „seit … Jahren ununterbrochen … geduldet“), der Systematik und der Entstehungsgeschichte der Norm derjenige der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung der Tatsacheninstanz (vgl. zu § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris 23; BT-Drs. 17/5093, S. 15: „Der Geduldete“ u. „seit“). Dass ein Betroffener die Eigenschaft vor dem maßgeblichen Zeitpunkt aufwies, reicht daher grundsätzlich nicht aus. An diesem Befund ändern auch die von Antragstellerseite angeführten Anwendungshinweise zu § 104c AufenthG nichts, der, wie sie selbst vorträgt, auf den Antragsteller nicht anwendbar ist. Soweit die Antragstellerseite moniert, dass es sonst immer möglich wäre, das Entstehen eines Anspruchs (erg. wohl: aus § 25a Abs. 1 AufenthG – Anm. d. Senats) durch Nichterteilung einer Duldung zu vereiteln, so ist ein Betroffener davor dadurch geschützt, dass ein Rechtsanspruch auf die Erteilung einer Duldung einer erteilten Duldung gleichsteht (s.o.).
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dd) Des Weiteren ist dem Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass der Antragsteller die Tatbestandsvoraussetzung eines dreijährigen erfolgreichen Schulbesuchs oder des Erwerbs eines Schul- und Berufsabschlusses im Bundesgebiet gemäß § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt.
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(1) Das Verwaltungsgericht hat darauf verwiesen, dass von dieser Voraussetzung nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 2 AufenthG lediglich dann abgesehen werden könne, wenn der Ausländer sie wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen könne. Abgesehen von diesem Ausnahmetatbestand stelle das Erfordernis des Schulbesuchs beziehungsweise des Schul- und Berufsabschlusses eine zwingende Voraussetzung für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis dar. Aus welchen Gründen diese Voraussetzung nicht gegeben sei, spiele keine Rolle. Der Antragsteller habe lediglich vom 5. November 2018 bis zum 6. Mai 2019 einen Deutschkurs an Berufsschulen besucht. Einen weiteren Schulbesuch oder den Erwerb einer Berufsausbildung habe er nicht nachgewiesen. Hieran ändere auch die mit Schriftsatz vom 8. Februar 2023 vorgelegte E-Mail vom 7. Februar 2023 mit dem Inhalt eines Ausbildungsangebots für die Zukunft nichts.
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(2) Diese Erwägungen hat die Antragstellerseite nicht erschüttert mit dem Einwand, der erfolgreiche Schulbesuch sei keine zwingende Voraussetzung, sondern nur ein Indikator für die Deutschkenntnisse und die Integration, wie der Passus „in der Regel“ und das nunmehr auf 27 Jahre hochgesetzte Alter für die Antragstellung zeigten. Betroffene dürften nämlich zwar mit 24 Jahren einreisen, aber dann sei ein Schulbesuch ausgeschlossen, weil die Berufsschulpflicht mit 18 (gemeint wohl: Jahren – Anm. d. Senats) ende.
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Dass es sich bei § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG um eine zwingende Tatbestandsvoraussetzung handelt, erschließt sich ohne Weiteres aus dem Wortlaut der Norm (vgl. § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sätze 1 u. 2 AufenthG: „wenn“ u. „Voraussetzung“) sowie daraus, dass das Erfordernis auf derselben Ebene wie die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen aufgeführt ist. Der Gesetzgeber hat sie auch eindeutig als solche intendiert (vgl. BT-Drs. 17/5093, S. 15: „Absatz 1 regelt die Voraussetzungen, die ein jugendlicher bzw. heranwachsender Geduldeter erfüllen muss, damit ihm ein eigenständiger Aufenthaltstitel erteilt werden kann.“ u. BT-Drs. 367/22, S. 33: „vorausgesetzt“). Maßgeblich ist daher der tatsächliche Integrationserfolg, wie er sich in der Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen manifestiert (vgl. BT-Drs. 17/5093, S. 15: „wenn sie sich in Deutschland gut integriert haben“). Dieser ist nicht, wie die Antragstellerseite argumentiert, mit der – ihrer Auffassung nach aufgrund eines Behördenfehlers bezüglich der Alterszuschreibung − unverschuldeten Nichterfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen gleichzusetzen. Für eine derartige Gleichsetzung besteht angesichts der eng umrissenen Ausnahme des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG kein Raum. Der Passus „in der Regel“ bezieht sich auf den Schulbesuch, welcher der dreijährigen Dauer und auch dem Erfolg nach besonders qualifiziert ist, und auf den Erwerb eines anerkannten Schul- oder Berufsabschlusses. Von den regelhaft geforderten zeitlichen und inhaltlichen Qualifikationen kann zwar ausnahmsweise abgesehen werden. Dies begründet indes zum einen keinen Anspruch auf die begehrte Verfahrensduldung in dem vorgenannten Sinne (s.o.). Zum anderen sind Gründe für die Annahme einer zwingenden Ausnahme nicht aufgezeigt, zumal im vorliegenden Fall die Anforderungen nicht nur herabgesetzt, sondern gänzlich auf sie verzichtet werden müsste. Letztendlich gesteht dies auch die Antragstellerseite selbst ein, wenn sie ausführt, dass eine „Verfahrensduldung grundsätzlich nicht den Sinn haben kann, erst für die Herstellung der Tatbestandsvoraussetzungen zu sorgen“ (vgl. Senatsakte, Bl. 59).
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ee) Nicht zu beanstanden ist auch die Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller nicht die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG notwendige allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfüllt.
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(1) Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts ergibt sich aus der Gesetzessystematik, dass jeweils ausdrücklich vom Erfordernis des Visumsverfahrens abgesehen wird, wenn dies gesetzgeberisch gewollt ist (vgl. § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG: „Einem Ausländer, …, soll abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn…“). Eine Anpassung des Wortlautes des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Rahmen der aktuellen Gesetzesänderung, in der auch die Altersgrenze bei Antragstellung heraufgesetzt worden sei, sei bewusst nicht erfolgt (vgl. BA S. 11 f. unter Verweis auf: BayVGH, B.v. 24.2.2022 − 19 CE 22.12 − juris Rn. 18 m.w.N.).
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(2) Auch damit setzt sich Antragstellerseite nicht substantiiert auseinander. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber bereits bei Einführung des § 25a AufenthG von einer uneingeschränkten Anwendbarkeit des § 5 AufenthG ausging. Lediglich in Bezug auf das Kriterium der Sicherung des Lebensunterhalts hat er Abstriche gemacht (vgl. BT-Drs. 17/5093, S. 15: „Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 müssen grundsätzlich erfüllt sein. Allerdings ist die … Sicherung des Lebensunterhalts …“). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts enthält die Vorschrift des § 5 AufenthG allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, die von so grundlegendem staatlichen Interesse sind, dass der Gesetzgeber sie „vor die Klammer“ gezogen hat. Sie gelten für alle weiteren Abschnitte des Zweiten Kapitels und damit für jede Erteilung eines Aufenthaltstitels. Fälle, in denen von der Anwendung ganz oder zumindest hinsichtlich einzelner Erteilungsvoraussetzungen zwingend abzusehen ist oder im Ermessenswege abgesehen werden kann, hat der Gesetzgeber beim jeweiligen Aufenthaltstitel ausdrücklich kenntlich gemacht (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 17.12 – juris Rn. 22 m.w.N.). Eine derartige Kenntlichmachung hat der Gesetzgeber bei § 25a Abs. 1 AufenthG indes nicht vorgenommen (vgl. Kluth/Bohley in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 35. Aufl., Stand: 1.10.2022, AufenthG § 25a Rn. 17; Röcker in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 25a Rn. 8). Insbesondere hat er dies auch bei der jüngst mit Art. 1 des Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 21. Dezember 2022 (vgl. BGBl. I S. 2847) angestoßenen Gesetzesänderung nicht getan, obwohl die genannte Auslegung der Norm bekannt war, worauf das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat.
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(3) Ob im Rahmen der nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG erforderlichen Ausübung des Ermessens für ein Absehen von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG – was letztendlich wohl auch die Antragstellerseite als erforderlich anerkennt (vgl. Senatsakte, Bl. 8: „Ob ein Visumverfahren durchgeführt werden muss, ist … eine Ermessensfrage, die die Ausländerbehörde beantworten muß“) – das Ermessen auf Null reduziert ist, kann im vorliegenden Fall aufgrund der genannten fehlenden besonderen Erteilungsvoraussetzungen dahinstehen.
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ff) Die fehlenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vermag die Antragstellerseite nicht dadurch zu kompensieren, dass sie sich auf einen Folgenbeseitigungsanspruch des Antragstellers − gestützt auf Art. 3 GG, Belange des Kindeswohls und „ein Grundrecht, in Deutschland die Schule besuchen zu dürfen“ – beruft mit der Begründung, der Antragsgegner habe ihn in der Vergangenheit fälschlicherweise nicht als Minderjährigen eingestuft. Das Beschwerdevorbringen ist insoweit bereits widersprüchlich. Einerseits macht die Antragstellerseite einen ihrer Auffassung nach feststehenden Folgenbeseitigungsanspruch geltend, andererseits soll erst im Hauptsacheverfahren unter anderem – neben der Klärung einer Vielzahl von Fragen − zu prüfen sein, „ob … inwieweit der Kläger aufgrund von Behördenfehlern … einen Folgenbeseitigungsanspruch erworben hat“ (vgl. Senatsakte, Bl 2 Rückseite u. Bl. 3).
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Dabei kann der Senat schon nicht ohne Weiteres erkennen, dass durch einen hoheitlichen Eingriff ein noch andauernder rechtswidriger Zustand entstanden ist, dessen Beseitigung tatsächlich und rechtlich möglich ist, und der ein subjektives Recht der betroffenen Person verletzt. Dass die Behörden den mittlerweile volljährigen Antragsteller nicht als minderjährig eingestuft haben, beruht − unter anderem − auf dessen Einreise entgegen § 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, dem Umstand, dass „im Ankunftsnachweis 2000 als Geburtsjahr erfasst“ wurde (vgl. Behördenakte, Bl. 8), der Feststellung nach § 42f SGB VIII aufgrund einer Untersuchung unter Berücksichtigung von Habitus, körperlichem Erscheinungsbild und dem Ergebnis einer Röntgenaufnahme der Handwurzelknochen (vgl. BA S. 2), der Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. März 2019, wonach in Gambia „Hinsichtlich Personenstandsurkunden, Reisepässen und Staatsangehörigkeitsausweisen … problemlos echte, aber inhaltlich unrichtige Dokumente beschafft werden können durch unwahre Angaben … oder durch Bestechung oder Bekanntschaft mit der ausstellenden Person“ (vgl. Behördenakte, Bl. 169), und dem Umstand, dass laut dem von Antragstellerseite mit der Beschwerdeschrift vorgelegten Schreiben der Ausländerbehörde vom 7. Februar 2023 die gambische Auslandsvertretung für den Antragsteller ein zeitlich unbefristetes Heimreisepapier mit dem Geburtsdatum „24.06.2000“ ausgestellt hat (vgl. Senatsakte, Bl. 12 Rückseite), was auch Eingang in den ablehnenden Bescheid der Ausländerbehörde vom 9. September 2022 gefunden hat (vgl. Behördenakte, Bl. 892: Am 07.01.2020 stellte das gambische Honorarkonsulat für Herrn … einen zeitlich unbefristeten Heimreiseschein mit den Personalien … „geb. am 24.06.2000“ aus“).
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Der Verweis der Antragstellerseite auf die Anerkennung von Pässen nach § 71 Abs. 6 AufenthG verfängt schon deshalb nicht, weil durch diese die Kompetenz der zuständigen Ausländerbehörde, im Einzelfall bei Zweifeln an der Authentizität und an der inhaltlichen Richtigkeit der Angaben Ermittlungen anzustellen und eine eigene konkret-individuelle Prüfung vorzunehmen, unter anderem um dem Prüfauftrag des § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG zu genügen, nicht berührt wird (vgl. Wittmann in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, 13. Aufl., Stand: 15.10.2022, AufenthG § 71 Rn. 95).
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Aus dem vorgelegten Beschluss des Landgerichts vom 16. Februar 2023 kann der Antragsteller nichts für sich herleiten. Abgesehen davon, dass der dortige Prüfungsgegenstand der Voraussetzungen der Sicherungshaft gemäß § 62 AufenthG nicht dem Streitgegenstand des hiesigen Verfahrens entspricht, ist nach dessen Auffassung im Zeitpunkt der Entscheidung ausdrücklich offen, ob der Betroffene im Jahr „2000“ oder im Jahr „2002“ geboren ist (vgl. Senatsakte, Bl. 78), so dass es die Identität des Antragstellers diesbezüglich entgegen dem Beschwerdevorbringen – ebenso wie das Verwaltungsgericht und der erkennende Senat − gerade nicht zu dessen Gunsten als geklärt angesehen hat.
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In jedem Fall fehlte es auch an einem Zusammenhang zwischen dem von Antragstellerseite geltend gemachten Behördenfehler einer falschen Alterszuschreibung und dem geltend gemachten Folgenbeseitigungsanspruch. So muss die betroffene Person nach § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG über den formalen Schulbesuch hinaus neben einer regelmäßigen Teilnahme einen eigenen Beitrag leisten, nämlich einen Lern- und Versetzungserfolg, vorweisen, oder das Bestehen einer anerkannten Schul- oder Berufsausbildungsprüfung. Dies kann nicht als Kehrseite des geltend gemachten Behördenfehlers fingiert werden.
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Im Übrigen wäre bei dem von Antragstellerseite geltend gemachten Folgenbeseitigungsanspruch nach dem Rechtsgedanken des § 254 BGB auch eine Mitverantwortung des Betroffenen zu berücksichtigen (vgl. Riese in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: 43. EL August 2022, VwGO, § 113 Rn. 91 m.w.N.). Hierbei kann auf die vorstehenden Ausführungen des Senats (vgl. BA S. 9 f.) verwiesen werden. Überdies sind maßgebliche Bemühungen des Antragstellers um einen Schulbesuch oder eine Berufsausbildung, welche es erlaubt hätten, hypothetisch wenigstens in zeitlicher Hinsicht – unabhängig vom schulischen Erfolg − die Anforderungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu erfüllen, nicht dargelegt und glaubhaft gemacht (vgl. Art. 35 Abs. 4 Satz 1 2. HS BayEUG, Art. 37 Abs. 3 Satz 1 BayEUG u. Art. 39 BayEUG).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 8.3 und Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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4. Diese Entscheidung ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.