Titel:
Erfolglose Nachbarklage gegen eine Baugenehmigung zum Umbau und zur Erweiterung einer Praxis für Zahnmedizin
Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2
BauGB § 34 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3, Abs. 7 Nr. 1
Leitsatz:
In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 S. 3 BayBO bleibt für eine einschränkende Auslegung, nur bei erkennbarem Ordnungsprinzip aus planungsrechtlichen Gründen auf die Einhaltung von Abstandsflächen zu verzichten, kein Raum. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, unbeplanter Innenbereich, faktische Baulinie, Abstandsflächen bei regelloser Bebauung, Zulassungsantrag, Abstandsfläche, regellose Bebauung, Grenzabstand, Vorrang des Planungsrechts
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 06.08.2020 – AN 17 K 18.2254
Fundstelle:
BeckRS 2023, 6050
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Kläger wenden sich als Eigentümer eines in der Innenstadt der Beklagten und im Geltungsbereich eines Bebauungsplans liegenden Grundstücks, das entsprechend der dort festgesetzten Baulinie grenzständig mit einem mehrstöckigen Wohnhaus mit Ladengeschäft im Erdgeschoss bebaut ist, gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Zweck des Umbaus und der Erweiterung von dessen Praxis für Zahnmedizin. Das Vorhabengrundstück liegt dem der Kläger – getrennt durch eine Straße – gegenüber und im Hinblick auf seine dort bereits bestehende Bebauung ebenfalls im Geltungsbereich eines (allerdings anderen) Bebauungsplans. Der Vorhabenbereich wird von keinem der beiden Bebauungspläne erfasst.
2
Das Verwaltungsgericht hat die auf Aufhebung der streitgegenständlichen Baugenehmigung gerichtete Klage abgewiesen, weil diese die Kläger nicht in eigenen Rechten verletze. Das ebenfalls grenzständig geplante Bauvorhaben des Beigeladenen füge sich in jeder Hinsicht gemäß § 34 Abs. 1 BauGB in die Eigenart der näheren Umgebung ein und verstoße nicht gegen das drittschützende Gebot der Rücksichtnahme. Die Einhaltung einer Abstandsfläche sei nicht erforderlich, weil planungsrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO an die Grenze gebaut werden könne. Insoweit sei von einer faktischen Baulinie, jedenfalls aber von einer regellosen Bebauung auszugehen, die hier einen zumindest fakultativen Grenzanbau zulässig mache.
3
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen die Kläger ihr Rechtsschutzziel weiter und machen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sowie besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten der Rechtssache geltend. Der Beigeladene verteidigt das angefochtene Urteil; die Beklagte hat sich – trotz mehrfacher gerichtlicher Aufforderung – am Zulassungsverfahren nicht beteiligt.
4
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen sowie der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
5
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
6
1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
7
Das Verwaltungsgericht ist vor dem Hintergrund des von ihm durchgeführten Augenscheins zutreffend davon ausgegangen, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung rechtmäßig ist und keine auch dem Schutz der Kläger dienenden Rechte verletzt, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Seine Einschätzung, die auf der Vorhabenseite der Straße bereits vorhandene Bebauung bilde trotz einiger Lücken eine faktische Baulinie bzw. sei jedenfalls in einer Weise regellos, die das Erfordernis der Einhaltung einer Abstandsfläche gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO auch für das Grundstück des Beigeladenen entfallen lasse und eine grenzständige Bebauung erlaube, wird durch das Zulassungsvorbringen der Kläger im Ergebnis nicht erschüttert.
8
Diese machen unter teilweiser Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens im Wesentlichen geltend, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sei hier weder eine faktische Baulinie noch eine regellose Bebauung erkennbar. Denn die Vorhabenseite der streitgegenständlichen Straße werde gerade nicht geprägt von grenzständig, gleichsam in einer Baulinie errichteten Hauptgebäuden, sondern umgekehrt von der Beachtung der bauordnungsrechtlichen Abstandsfläche. Im Übrigen sei die Annahme des Verwaltungsgerichts, auch eine regellose Bebauung eröffne die Möglichkeit einer wahlweise grenzständigen Bebauung, rechtlich umstritten und seine Beweiswürdigung im Hinblick auf tatsächlich vorhandene, straßenseitigen Abstand einhaltende Gebäude unzureichend.
9
Dieser Vortrag verhilft dem Zulassungsbegehren der Kläger nicht zum Erfolg.
10
Zwar ist das vom Verwaltungsgericht angenommene Bestehen einer faktischen Baulinie tatsächlich nicht eindeutig. Für eine solche, in den Augen des Verwaltungsgerichts „fortzusetzende“ Linie spricht zwar die im südlichen Teil auf der Vorhabenseite der streitgegenständlichen Straße bestehende, geschlossen grenzständige Bebauung. Dagegen sprechen aber die auf Höhe des Bauvorhabens und gegenüber dem Grundstück der Kläger vorhandenen, unbebauten bzw. nicht grenzständig bebauten Flächen sowie der Umstand, dass es sich um die rückseitigen Gebäude einer grenzständig bebauten Parallelstraße handelt. Allerdings bedarf diese Frage keiner abschließenden Erörterung, da das Verwaltungsgericht – selbstständig tragend – außerdem ausgeführt hat, die vorhandene Bebauung sei jedenfalls in einer Weise regellos, die hier einen grenzständigen Anbau erlaube.
11
Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass selbst bei einer anzunehmenden „regellosen“ Bestandsbebauung mit und ohne Einhaltung eines Grenzabstandes, sich sowohl ein Gebäude mit als auch ein Gebäude ohne Grenzabstand planungsrechtlich im Rahmen des Vorhandenen halten würde, und auf mehrfach bestätigte Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes verwiesen (vgl. BayVGH, U.v. 25.11.2013 – 9 B 09.952 – juris Rn. 46 für seitliche Grenzabstände unter Verweis auf BayVGH, U.v. 23.3.2010 – 1 BV 07.2363 – juris Rn. 25; U.v. 20.10.2010 – 14 B 09.1616 – juris Rn. 31; B.v. 25.1.2008 – 15 ZB 06.3115 – juris; hinsichtlich Bebauung an der vorderen Grundstücksgrenze vgl. B.v. 10.12.2008 – 1 CS 08.2770 – juris Rn. 27; Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 28). Damit wird dem in Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO zum Ausdruck kommenden Vorrang des Planungsrechts Rechnung getragen, zumal der sich bei einer regellosen Bebauung aus § 34 Abs. 1 BauGB ergebende Rahmen weit ist, in historisch gewachsenen Strukturen kaum jemals eine völlige Regelmäßigkeit anzutreffen sein wird und bei einer vorhandenen Mischung aus unterschiedlichen Bauweisen den nachbarlichen Belangen im Wege des Rücksichtnahmegebots Rechnung zu tragen ist (vgl. BayVGH, U.v. 20.10.2010 – 14 B 09.1616 – a.a.O. Rn. 31). In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts von Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO bleibt für eine einschränkende Auslegung, nur bei erkennbarem Ordnungsprinzip aus planungsrechtlichen Gründen auf die Einhaltung von Abstandsflächen zu verzichten, kein Raum. Der pauschale Hinweis, diese Rechtsprechung sei (vormals) umstritten (gewesen), vermag keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu begründen.
12
Entgegen dem Zulassungsvorbringen lässt sich der maßgeblichen Umgebungsbebauung auch keine Regelhaftigkeit der Einhaltung von Abstandsflächen entnehmen, da auf keinem der dortigen Grundstücke – soweit sie überhaupt bebaut sind – die Abstandsflächen eingehalten werden. Das Verwaltungsgericht hat in nicht zu beanstandender Weise die Bebauung des dem Vorhaben nördlich benachbarten (Eck-) Grundstücks wegen seiner Orientierung zur deutlich breiter ausgebauten, nördlich belegenen Straße (…) hin als nicht maßstabsbildend angesehen. Dieses Nachbargrundstück nördlich des Vorhabengrundstücks liegt innerhalb des Bebauungsplans Nr. … der Stadt A. … und ist entsprechend der dort festgesetzten Baulinie bebaut. Aus der planentsprechenden Bebauung des insoweit nicht als maßstabsbildend anzusehenden Grundstücks (FlNr. …) lässt sich eine Regelhaftigkeit der Einhaltung von Abstandsflächen in der Umgebungsbebauung nicht ableiten. Das im weiteren Verlauf auf der westlichen Straßenseite mit Garagengebäuden grenzständig bebaute Grundstück (FlNr. …) vermag hier ebenso wenig eine solche Regelhaftigkeit zu begründen. Dass Garagengebäude bauordnungsrechtlich nach Art. 6 Abs. 7 Nr. 1 BayBO ohne Einhaltung eigener Abstandsflächen errichtet werden dürfen, spricht nicht für eine bauplanungsrechtliche Regelhaftigkeit der überbaubaren Grundstücksflächen unter Einhaltung von Abstandsflächen. Weitere maßstabsbildende Bebauung unter Einhaltung von Abstandsflächen führt das Zulassungsvorbringen nicht an. Die grenzständige Bebauung im weiteren Verlauf auf der westlichen Straßenseite der … …straße spricht jedenfalls gegen eine regelhafte Bebauung unter Einhaltung von Abstandsflächen.
13
2. Die Rechtssache weist auch keine besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auf (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), denn sie verursacht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine größeren, d.h. überdurchschnittlichen, das normale Maß nicht unerheblich übersteigenden Schwierigkeiten und es handelt sich auch nicht um einen besonders unübersichtlichen oder kontroversen Sachverhalt, bei dem noch nicht abzusehen ist, zu welchem Ergebnis ein künftiges Berufungsverfahren führen wird (vgl. BayVGH, B.v. 12.4.2000 – 23 ZB 00.643 – juris). Vielmehr ist der Rechtsstreit im tatsächlichen Bereich überschaubar und die entscheidungserheblichen Fragen sind durch die Rechtsprechung hinreichend geklärt. Im Übrigen wird auf die Ausführungen unter Nr. 1. verwiesen.
14
3. Die Kostenentscheidung des Zulassungsverfahrens ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Da sich der Beigeladene im Zulassungsverfahren durch einen postulationsfähigen Bevollmächtigen hat vertreten lassen und rechtliche Ausführungen gemacht hat, entspricht es der Billigkeit, seine außergerichtlichen Kosten den Klägern aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 VwGO).
15
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwände erhoben wurden.
16
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).