Titel:
Zur Lage Asylsuchender und international Schutzberechtigter in Estland
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 12 Abs. 2 S. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Estland systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung iSv Art. 4 GRCh mit sich bringen. Dies gilt auch für russische und belarussische Asylsuchende. (Rn. 28 – 44) (redaktioneller Leitsatz)
2. International Schutzberechtigten droht in Estland keine gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Es ist nicht erkennbar, dass russische oder belarussische Staatsbürger in dieser Hinsicht benachteiligt würden. (Rn. 45 – 55) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Abschiebung nach Estland, Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Estland, Keine Benachteiligung russischer und belarussischer Asylsuchender in Estland, Dublin-Verfahren, Abschiebung nach Estland, Asylverfahren und Aufnahmebedingungen, russische und belarussische Asylsuchende, international Schutzberechtigte, Unterbringung, Versorgung, Gesundheitsversorgung, VO (EU) Nr. 604/2013
Fundstelle:
BeckRS 2023, 5939
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen eine Abschiebungsanordnung nach Estland.
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Der Antragsteller, belarussischer Staatsbürger, nach eigenen Angaben mit gewöhnlichem Aufenthalt in Russland und dem Volk der Weißrussen zugehörig, reiste am 7. Oktober 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am 20. Oktober 2022 schriftlich Kenntnis erlangte. Der Antragsteller stellte am 3. Januar 2023 einen förmlichen Asylantrag.
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Eine am 20. Oktober 2022 durch das Bundesamt vorgenommene EURODAC-Abfrage blieb trefferlos. Laut einem am 2. November 2022 vorgenommenen Abgleich im Europäischen Visa-Informationssystem (VIS), stellte das Generalkonsulat Estlands in … in den Jahren 2018, 2019 und 2021 zugunsten des Antragstellers Schengen-Visa aus. Das zeitlich letzte Visum (Visum-Nummer …*) war vom 2. September 2021 bis zum 1. September 2023 gültig und berechtigte den Antragsteller zu einem Aufenthalt von 90 Tagen im Schengen-Raum ohne Beschränkung der Zahl der Einreisen. Belegt durch die Stempel in seinem Reisepass war der Antragsteller vor seiner endgültigen Ausreise nach Estland im Gültigkeitszeitraum seines Visums bereits sieben Mal am Grenzübergang … nach Estland ausgereist und nach Russland wieder eingereist.
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Im Rahmen seiner Erstbefragung gab der Antragsteller an, am 5. Oktober 2022 Russland erstmalig verlassen zu haben und mit dem Pkw über Estland, Litauen, Lettland und Polen schließlich am 7. Oktober 2022 nach Deutschland eingereist zu sein.
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Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 13. Januar 2023 gab der Antragsteller an, seine Frau sei nicht nach Estland reingelassen worden. Daher seien sie in Deutschland. Der Antragsteller und seine Ehefrau hätten das estnische Visum aus touristischen Zwecken ausstellen lassen. Sie hätten nie gedacht, dass sie sich in einer Situation finden würden, in der sie mit dem Visum ausreisen. Der Antragsteller habe nicht gewusst, dass man in Estland einen Asylantrag stellen könne. Das sei eine spontane Entscheidung gewesen. Seine Frau habe ein Ticket nach Deutschland gekauft, deswegen sei er auch nach Deutschland gefahren. Sie seien zuvor ausschließlich aus touristischen Gründen bzw. für eine Corona-Impfung in Estland gewesen. Dabei sei ihnen nichts zugestoßen. In Estland lebten viele Russen, Weißrussen und Ukrainer. Der Antragsteller habe kein Vertrauen zu diesem Land, es sei ein Grenzstaat. Viele hätten dort auch graue Pässe. Auch die Polizei könne diese Pässe besitzen. Dort sei man nicht sicher, er wolle hierbleiben. Auf die Frage, was ein grauer Pass sei, erwiderte der Antragsteller, dass man graue Pässe eher in Estland bekomme. So viel wisse er nicht darüber. Er habe ein Gespräch gehört, in dem jemand gesagt habe, dass er in Estland wohne und einen grauen Pass besitze, mit dem er ohne Weiteres die Grenze passieren könne. Der Vater seiner Frau sei in Estland.
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Der Antragsteller wolle nicht nach Estland, Polen, Russland und Belarus. Er wolle nicht nach Polen, weil in Polen viele Ukrainer seien. Auf seinem Weg habe er gesehen, dass die Autos mit den russischen Kennzeichen angehupt oder in Brand gesteckt worden seien. So ein Verhalten gegenüber den Russen herrsche auch in Litauen und Lettland, wo auch viele Ukrainer seien. Nach Russland wolle er nicht, weil er Angst habe, dass die Polizei ihn plötzlich abhole und in den Krieg schicke. Nach Belarus wolle er nicht, weil in Belarus Chaos herrsche bezüglich der Polizei. Diese respektiere dort keine Rechte. Würde er dorthin zurückkehren, würde er gleich festgenommen, weil er um Asyl gebeten habe. Durch den Stempel in seinem Pass würde die Polizei sehen können, wie lange er sich hier aufgehalten habe. Dann kämen Fragen über Fragen. In Deutschland habe er nur seine Ehefrau.
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Am 16. Januar 2023 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an die estnischen Behörden, welches mit Schreiben vom 24. Januar 2023 nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-Verordnung durch die estnischen Behörden angenommen wurde.
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Die Ehefrau des Antragstellers (Az. des Bundesamts …*) stellte ebenfalls am 3. Januar 2023 einen förmlichen Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland. Das estnische Generalkonsulat in … stellte ihr laut VIS-Abfrage ein vom 10. Oktober 2020 bis zum 13. Juli 2024 gültiges Schengen-Visum aus. Nach eigenen Angaben sei sie am 4. Oktober 2022 aus Russland ausgereist und über die Türkei per Flugzeug am 5. Oktober 2022 nach Deutschland eingereist. Trotz Visum habe man sie, anders als ihren Ehemann, wegen der Sanktionen in Reaktion auf den Ukraine-Krieg am 3. Oktober 2022 nicht mit dem Auto nach Estland einreisen lassen. Durch das Bundesamt gefragt, ob sie einen Asylantrag in Estland gestellt hätte, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte, erwiderte sie, das sei eine interessante Frage, sie denke, Ja. Sie hätte sich an die Polizei gewandt, da sie damals sehr erschrocken gewesen sei. Man habe sie nicht nach Estland einreisen lassen, obwohl sie normale Bürgerin sei und keinen Bezug zu den Geschehnissen in der Ukraine habe. Sie sei gegen einen Angriff, gegen einen Krieg. Sie habe gelesen, dass die Russen, die nach Estland wegen dem Schutz vor der Mobilisierung einreisen wollten, mit einer Strafe zurückgeschickt würden. Sie habe die Befürchtung, wenn sie nach Estland einreisen könnte, dann würde sie genauso eine Strafe bekommen und man würde sie aus Estland abschieben, ohne ihr Asyl zu gewähren. Wegen chronischer Sarkoidose der Lunge sei sie nicht mehr in ärztlicher Behandlung, sondern gehe nur noch einmal jährlich zum MRT. Sie befinde sich wegen depressiver Phasen in psychologischer Therapie.
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Am 16. Januar 2023 richtete das Bundesamt in Bezug auf die Ehefrau des Antragstellers ein Übernahmeersuchen an die estnischen Behörden, welches mit Schreiben vom 25. Januar 2023 nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-Verordnung durch die estnischen Behörden angenommen wurde. Eine Entscheidung des Bundesamts über die Zuständigkeit Deutschlands für den Asylantrag der Ehefrau des Antragstellers steht im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung noch aus.
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Mit Bescheid vom 2. Februar 2023, dem Antragsteller zugegangen am 8. Februar 2023, hat das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), und seine Abschiebung nach Estland angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
11
Der Asylantrag des Antragstellers sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Estland aufgrund des erteilten Visums gemäß Art. 12 Abs. 2 Dublin III-Verordnung für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Es sei davon auszugehen, dass Estland der auferlegten Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Prüfung des Asylbegehrens und der Versorgung des Antragstellers nachkommen werde. Es würden keine Gründe zur Annahme von systemischen Mängeln im estnischen Asylverfahren vorliegen. Es sei nicht ansatzweise erkennbar, dass in Estland Asylantragstellern unmittelbar eine verfahrenswidrige Abschiebung in ihr Herkunftsland drohe. Im Verfahren der angegebenen Ehefrau in Deutschland laufe ebenfalls ein Dublin-Verfahren mit Estland, sodass eine Trennung nicht zwingend bevorstehe. Auf die weitere Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Hiergegen hat der Antragsteller am 13. Februar 2023 mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erhoben, über die noch nicht entschieden ist (AN 14 K 23.50084), und den vorliegenden Eilantrag gestellt.
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Die Ehefrau des Klägers – dem Schriftsatz angefügt ist die beglaubigte Übersetzung einer entsprechenden Heiratsurkunde – habe keinen Dublin-Bescheid erhalten und die Einheit der Familie solle nicht getrennt werden. Es würden außerdem systematische Mängel im Asylverfahren in Estland gerügt, die vergleichbar mit den anerkannten Rechtsmängeln des Asylverfahrens in Ungarn seien und die von deutschen Gerichten anerkannt würden. Es hätten nur einige Dutzende Menschen positive Entscheidungen über Asylanträge in Estland gekriegt, obwohl nach dem Beginn des Angriffskrieges des Putin-Regimes Dutzende Tausende Flüchtlinge aus Russland und Belarus nach Estland geflohen seien und dort Asyl beantragt hätten. Seit Kriegsbeginn gewähre Estland Flüchtlingen aus Russland und Belarus fast kein Asyl. Außerdem gebe es schon seit Jahren in Estland eine gewisse Benachteiligung der ethnisch russischen und weißrussischen Minderheit. Diese Entwicklung habe sich nach dem Beginn des Krieges zwischen der Ukraine und Russland verstärkt. Der Antragsteller habe in dieser Situation verständlicherweise keine Hoffnung auf die objektive Prüfung seines Falles in Estland.
14
Der Antragsteller beantragt,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
15
Die Antragsgegnerin beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
17
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Bundesamtsakten im hiesigen Verfahren sowie im Verfahren der Ehefrau des Antragstellers (Az. des Bundesamts …*) Bezug genommen.
18
Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch die stellvertretende Berichterstatterin als Einzelrichterin.
19
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO ist hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides statthaft nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG, da die in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklage nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat. Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG fristgerecht gestellte Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
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Der Antrag ist jedoch unbegründet, sodass die aufschiebende Wirkung der Klage nicht angeordnet werden kann.
21
Nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegen das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin abgewogen wird. Grundlage ist dabei die anhand einer summarischen Prüfung erfolgende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (BVerwG, B.v. 7.7.2020 – 7 VR 2/10 u.a. – juris Rn. 20; B.v. 23.1.2015 – 7 VR 6/14 – juris Rn. 8).
22
Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids vom 2. Februar 2023 erweist sich bei summarischer Prüfung auch unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
23
Die Abschiebungsanordnung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Mitgliedstaat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
24
1. Bei Estland handelt es sich um den nach der Dublin III-VO für das Asylverfahren des Antragstellers zuständigen Mitgliedstaat.
25
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat für seine Prüfung nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO bestimmt, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden, der nach den Kriterien von Kapitel III der Dublin III-VO als zuständiger Mitgliedstaat bestimmt wird.
26
Die Zuständigkeit Estlands für den Asylantrag des Antragstellers ergibt sich vorliegend aus Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO, da aufgrund der europäischen VIS-Abfrage des Bundesamts vom 2. August 2022 feststeht, dass der Antragsteller im Besitz eines gültigen Schengen-Visums war, welches zum nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der Kenntnis des Bundesamts über das Asylgesuch des Antragstellers am 20. Oktober 2022 noch gültig war. Das Bundesamt hat am 16. Januar 2023 ein Aufnahmegesuch an die estnischen Behörden gestellt und damit die sich aus Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO ergebende dreimonatige Frist gewahrt. Die estnischen Behörden haben diesem Ersuchen zurecht am 24. Januar 2023 stattgegeben. Estland ist damit gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller aufzunehmen.
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Die Bundesrepublik Deutschland ist auch nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig geworden. Diese wurde durch den vorliegenden, fristgerecht gestellten Antrag unterbrochen und läuft erst mit der Ablehnung des Antrags erneut an (Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO a.E.).
28
2. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Estland systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers im Sinne von Art. 4 GRCh mit sich bringen und der Zuständigkeit Estlands für das Asylverfahren des Antragstellers entgegenstehen.
29
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) ist davon auszugehen, dass Estland als Mitgliedstaat der Europäischen Union über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss. Das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht ist jedoch, wenn der Betroffene Angaben zum Nachweis eines Risikos im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO vorgelegt hat, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 90).
30
a) Die Einzelrichterin geht in Übereinstimmung mit den vorliegenden Erkenntnismitteln und der bisherigen Rechtsprechung davon aus, dass Estland sowohl im Hinblick auf das dortige Rechtssystem als auch auf die Verwaltungspraxis über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes Asylverfahren verfügt (vgl. auch VG Magdeburg, U.v. 5.4.2019 – 8 A 37/19 – juris Rn. 31 ff; VG Bayreuth, B.v. 24.9.2017 – B 6 S 17.50914 – juris Rn. 26; VG Potsdam, B.v. 26.5.2016 – VG 6 L 353/16.A – juris Rn. 8).
31
In Estland besteht ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 4). Asylbewerber haben während des gesamten Asylverfahrens Zugang zu rechtlicher Unterstützung, wobei rechtliche und soziale Unterstützung auch durch Nichtregierungsorganisationen in Kooperation mit den estnischen Behörden angeboten wird (US Department of State, Country Report on Human Rights Practices for Estonia, 2021, S. 7). Es gibt allerdings Berichte, dass Schwierigkeiten beim Zugang von Rechtsberatern zu in Unterbringungszentren untergebrachten Asylbewerbern bestehen, und dass dort die Kommunikation durch mangelnde Dolmetscher und ein Verbot elektronischer Geräte erschwert wird (European Union Agency for Asylum (EUAA), Asylum Report 2022, S. 197). Asylbewerbern wird nach Antragstellung sowie auf der Webseite der estnischen Polizei auf verschiedenen Sprachen Informationsmaterial zur Beantragung internationalen Schutzes zur Verfügung gestellt (vgl. UNHCR, Access to Legal Aid for Asylum-Seekers in Estonia, Stand: Juli 2019, S. 27; https://www.politsei.ee/et/juhend/rahvusvaheline-kaitse/kasulikud-materjalid, zuletzt abgerufen am 10.3.2022).
32
Asylbewerber werden in Estland während ihres Asylverfahrens in Unterbringungszentren in Vao und in Vägeva untergebracht. Dort haben sie Zugang zu Verpflegung, Ausstattung mit Hygieneartikeln, Kleidung und medizinischer Versorgung. Statt Essen und Hygieneartikeln kann auch ein Geldbetrag ausbezahlt werden, der dem monatlichen Existenzminimum entsprechen soll – seit Juni 2022 200 EUR pro Monat sowie 160 EUR für jedes weitere Familienmitglied bzw. 240 EUR für minderjährige Familienmitglieder (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 8). In den Unterbringungszentren wird Asylbewerbern Unterstützung bei der Anpassung an das Leben in Estland durch verschiedene Aktivitäten angeboten, zudem Unterstützung beim Erlernen der estnischen Sprache und Traditionen, bei der Suche nach Schulen und Arbeitsplätzen und bei der Kommunikation mit öffentlichen Einrichtungen. Diese Unterstützung steht in Vao bis zu 70 Asylbewerbern gleichzeitig zur Verfügung, in Vägeva bis zu 50 Asylbewerbern. Mehrere Nichtregierungsorganisationen, darunter das Estonian Human Rights Center (EHRC) bieten in Kooperation mit den Behörden Asylbewerbern rechtliche und soziale Hilfe an (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 7 f.).
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Asylbewerber, über deren Asylanträge binnen sechs Monate nach Antragstellung ohne eigenes Verschulden noch nicht entschieden wurde, dürfen in Estland arbeiten (vgl. Informationsblatt der estnischen Polizei, Rights and obligations of applicants for international protection, S. 4, abrufbar unter https://www.politsei.ee/et/juhend/rahvusvaheline-kaitse/kasulikud-materjalid, zuletzt abgerufen am 10.3.2023).
34
Asylbewerber mit ausreichenden Mitteln können auch die Genehmigung erhalten, außerhalb der Unterkunftszentren privat zu wohnen. Diese Asylbewerber haben allerdings keinen Anspruch auf Auszahlung des dem Existenzminimum entsprechenden monatlichen Geldbetrags (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 8).
35
Auf die Rechte und Interessen von unbegleiteten Minderjährigen sowie anderen vulnerablen Asylbewerbern wird im Rahmen des Asylverfahrens durch die estnischen Behörden besonders Rücksicht genommen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 5 f.)
36
Dublin-Rückkehrer genießen vollen Zugang zum estnischen Asylsystem inklusive medizinischer Versorgung, zudem besteht die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen. (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 5).
37
Nach alldem liegen grundsätzlich keine systemischen Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO vor, aufgrund derer Asylsuchenden generell die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh droht. Estland verfügt über ein grundsätzlich funktionierendes und dem Schutzbedürfnis von Asylsuchenden Rechnung tragendes Asylsystem. Auch die Aufnahmebedingungen sind ausreichend.
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b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der spezifischen Situation des Antragstellers als belarussischem Staatsbürger. Es ist nicht erkennbar, dass russische oder belarussische Staatsbürger seit Beginn des – teilweise von russischen Truppen auf belarussischem Territorium ausgehenden – Kriegs in der Ukraine im Rahmen des estnischen Asylverfahrens benachteiligt würden.
39
Estland beherbergt eine große ethnisch russische Minderheit; rund ein Viertel der estnischen Bevölkerung spricht Russisch als Muttersprache (vgl. Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report Estonia, S. 25). Zuungunsten dieser Minderheit besteht innerhalb Estlands ein sozioökonomisches Ungleichgewicht, das sich beispielhaft an der Arbeitslosigkeit zeigt, die unter ethnischen Russen höher ist als unter ethnischen Esten, 2019 bei 6,0% im Vergleich zu 3,8% bei der estnischen Mehrheit (Bertelsmann Stiftung, BTI 2022 Country Report Estonia, S. 25). Zehntausende Angehörige der russischsprachigen Minderheit sind staatenlos, ihnen steht allerdings die Einbürgerung offen, sofern sie verpflichtende Einbürgerungs- und Sprachprüfungen bestehen (US Department of State, Country Report on Human Rights Practices for Estonia, 2021, S. 7 f.).
40
Der russische Überfall auf die Ukraine hat zu Spannungen in den Beziehungen der estnischen Mehrheit zur russischen Minderheit geführt. Estland hat sich politisch, militärisch und wirtschaftlich zur Ukraine bekannt, sich Sanktionen gegen Russland angeschlossen und seit Kriegsbeginn mehrere zehntausend Ukrainer aufgenommen. Gleichzeitig hat es die Visavergabe an russische Staatsbürger drastisch eingeschränkt, russische Fernsehsender verboten und sowjetische Denkmäler demontiert. Diese Maßnahmen wurden in Teilen der russischsprachigen Bevölkerung negativ aufgenommen. Die finanzielle Unterstützung ukrainischer Kriegsflüchtlinge durch den estnischen Staat wird insbesondere unter ärmeren Teilen der russischstämmigen Bevölkerung als ungerecht empfunden. Gleichzeitig fürchtet die russischstämmige Bevölkerung, zu Unrecht unter dem Generalverdacht der Unterstützung des russischen Kriegs zu stehen (vgl. https://www.deutschlandfunk.de/estland-baltikum-russland-ukraine-krieg-100.html; https://www.theguardian.com/world/2022/aug/22/always-looking-shoulder-anxiety-estonia-russians-tallinn; https://www.politico.eu/article/eu-russia-estonia-narva-ethnic-relation-integration/, jeweils zuletzt abgerufen am 10.3.2023). Weitere Besorgnis bei der russischsprachigen Bevölkerung hat ein Ende 2022 durch das estnische Parlament erlassenes Gesetz ausgelöst, das Schritt für Schritt auch an bis dato russischsprachigen Schulen Estnisch als hauptsächliche Unterrichtssprache vorschreibt (vgl. https://news.err.ee/1608734554/russian-speakers-able-to-study-own-language-and-culture-in-separate-classes; https://www.france24.com/en/live-news/20230305-russian-minority-shuns-estonia-vote-over-ukraine-support; beide zuletzt abgerufen am 10.3.2023).
41
Es ist gleichwohl für die Einzelrichterin nicht erkennbar und durch den Antragsteller in keiner Weise belegt, dass russische oder belarussische Asylbewerber, insbesondere seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, innerhalb des Asylverfahrens systemische Nachteile bis hin zur nicht-objektiven Prüfung ihrer Asylanträge aufgrund ihrer Herkunft zu befürchten haben.
42
Laut Zahlen des UNHCR hat Estland in den fünf Jahren vor dem Krieg in der Ukraine, 2017 bis 2021, fünf Asylanträge belarussischer Asylbewerber positiv beschieden und fünf abgelehnt und 37 Asylanträge russischer Staatsbürger positiv beschieden und 66 abgelehnt (vgl. https://www.unhcr.org/refugee-statistics/download/?url=Nl51qd, zuletzt abgerufen am 10.3.2022). In der ersten Hälfte des Jahres 2022 (der aktuellste Zeitraum, für den im Entscheidungszeitpunkt Zahlen vorliegen) wurden fünf Asylanträge belarussischer Asylbewerber in Estland positiv beschieden und fünf abgelehnt, gleichzeitig 13 Asylanträge russischer Asylbewerber positiv beschieden und fünf abgelehnt (vgl. https://www.unhcr.org/refugee-statistics/download/?url=s8A9Bj, zuletzt abgerufen am 10.3.2022). Aus der Statistik lässt sich nicht ablesen, inwieweit die Entscheidungen vor oder nach Kriegsbeginn Ende Februar 2022 gefallen sind. In jedem Fall belegen sie keine Benachteiligung russischer oder belarussischer Asylbewerber im Vergleich zu früheren Jahren.
43
Laut Medienberichten, die auf unveröffentlichten Zahlen der EU-Kommission basieren, hat Estland 2022 eine Zunahme von Asylanträgen um 362,1% gegenüber dem Vorjahr verzeichnet (vgl. https://www.wiwo.de/politik/deutschland/gefluechtete-deutschland-ist-2022-wieder-spitzenreiter-bei-asylantraegen/28889400.html, zuletzt abgerufen am 10.3.2023). Die Zahlen des UNHCR belegen für die erste Hälfte von 2022 118 Asylanträge belarussischer und russischer Asylbewerber (vgl. https://www.unhcr.org/refugee-statistics/download/?url=sh9Gaf, zuletzt abgerufen am 10.3.2023) im Vergleich zu 22 Asylanträgen belarussischer und russischer Asylbewerber im gesamten Vorjahr (vgl. https://www.unhcr.org/refugee-statistics/download/?url=eiAA11, zuletzt abgerufen am 10.3.2023). Ob es eine geänderte Entscheidungspraxis der estnischen Behörden gibt, kann mangels aktuellerer Entscheidungsstatistiken nicht beurteilt werden. Dass, wie vom Bevollmächtigten des Antragstellers vorgebracht, dutzende Tausende Flüchtlinge aus Russland und Belarus in Asyl beantragt haben sollen und (implizit) von dieser Gruppe nur einige Dutzend Menschen positive Entscheidungen bekommen haben, lässt sich nicht erkennen.
44
Der Einzelrichterin liegen keine Informationen über politische Bestrebungen vor, in Estland das Asylrecht für Russen und Belarussen zu beschränken. Es liegen auch keine Erkenntnisse vor, wonach das estnische Aufnahme- und Asylsystem vor dem Hintergrund gestiegener Flüchtlingszahlen, insbesondere durch den Zufluss ukrainischer Flüchtlinge, überlastet wäre. Die estnischen Behörden haben sich in Einklang mit ihren Verpflichtungen nach der Dublin III-Verordnung vorliegend ausdrücklich zur Aufnahme des Antragstellers bereiterklärt und es ist davon auszugehen, dass sie ihrer Verpflichtung zur objektiven Prüfung des Asylbegehrens des Antragstellers nachkommen werden.
45
3. Dem Antragsteller droht in Estland auch im Falle einer Anerkennung als international Schutzberechtigter keine gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.
46
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil „Jawo“ (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris) entschieden, dass es für die Anwendung des Art. 4 GRCh gleichgültig ist, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-VO einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris Rn. 88). Daher hat das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu prüfen, ob entweder systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen, die zu einer derartigen Gefahr nach einer Zuerkennung internationalen Schutzes führen (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris Rn. 90). Auch insoweit gilt grundsätzlich wiederum der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris Rn. 82). Damit derartige Schwachstellen unter Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK fallen, muss eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht sein, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris Rn. 91).
47
Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist nach der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hat, dass eine vollständig von der öffentlichen Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EuGH, U.v. 19.3.2019, C-163/17 – juris Rn. 92).
48
Im Rahmen der diesbezüglich zu treffenden Prognoseentscheidung ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich; die Gefahr einer Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss auf Grund aller Umstände des Einzelfalles hinreichend sicher bestehen und nicht nur hypothetisch sein (OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 – 7 A 11038/18.OVG – BeckRS 2020, 37249, Rn. 34).
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Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf Estland nicht vor.
50
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes zieht in Estland eine temporäre Aufenthaltserlaubnis nach sich. Flüchtlinge bekommen eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre, subsidiär Schutzberechtigte eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr. Beide Aufenthaltserlaubnisse sind verlängerbar und einem Ausländer mit temporärem Aufenthaltstitel kann auf der Grundlage des Ausländergesetzes ein unbefristeter Aufenthaltstitel erteilt werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 10).
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International Schutzberechtigte werden bis zu ihrer Niederlassung in einer Gemeinde im Unterbringungszentrum oder an einem von der estnischen Sozialversicherungsanstalt bestimmten Ort untergebracht. Binnen vier Monaten ab Erteilung des Aufenthaltstitels soll die Sozialversicherungsanstalt die Niederlassung in einer Gemeinde organisieren. Ist dies im genannten Zeitraum nicht möglich, sollen die entsprechenden Leistungen von der Sozialversicherungsanstalt garantiert werden. Bei Weigerung eines internationalen Schutzberechtigten, sich derart niederzulassen, hat er noch für zwei Monate die Möglichkeit, in der Unterbringung für Asylbewerber zu bleiben, muss sich in dieser Zeit allerdings selbst eine Wohnung suchen und auch die Kosten selbst tragen. International Schutzberechtigte werden durch vertraglich verpflichtete Personen oder Organisationen unterstützt bei der Wohnungssuche, der Inanspruchnahme von Sozialund Gesundheitsdiensten, der Organisation von Übersetzungen und Unterricht in der estnischen Sprache sowie beim Verständnis ihrer Rechte und Pflichten (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 10). Ziel der Integrationsmaßnahmen ist die Sicherung der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit international Schutzberechtigter (EMN, Annual Report on Migration and Asylum 2021 – Estonia, Stand: April 2022, S. 23).
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International Schutzberechtigte können wie Personen mit ständigem Wohnsitz in Estland Sozialleistungen beziehen, unter anderem eine staatliche Pension, Familienunterstützung, Arbeitsvermittlung und Beihilfen für Beschäftigte sowie Gesundheitsdienste (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 10). Sie dürfen außerdem ab Schutzgewährung arbeiten (vgl. Informationsblatt der estnischen Polizei, Rights and obligations of beneficiaries of international protection, S. 4, abrufbar unter https://www.politsei.ee/et/juhend/rahvusvaheline-kaitse/kasulikud-materjalid, zuletzt abgerufen am 10.3.2023).
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International Schutzberechtigte haben auch das Recht auf Krankenversicherung, was eine kostenlose medizinische Grundversorgung umfasst. Die Aufenthaltserlaubnis zieht das Recht nach sich, sich in die Praxisliste eines Hausarztes einzutragen. Für Hausbesuche können Hausärzte bis zu 5 EUR in Rechnung stellen, wobei Hausbesuche für schwangere Frauen und Kinder unter zwei Jahren kostenlos sind. Außer bei Gynäkologen, Hausärzten, Augenärzten, Lungenfachärzten und Zahnärzten, Chirurgen oder Traumatologen ist für den Facharztbesuch eine Überweisung des Hausarztes nötig. Eine kostenfreie COVID-19-Impfung steht allen Einwohnern Estlands zur Verfügung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 11).
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Personen unter 19 Jahren werden kostenlos zahnärztlich versorgt, wenn der Arzt mit der Krankenkasse einen Vertrag hat. Krankenversicherten Erwachsenen werden die Kosten für die zahnärztliche Versorgung bis zu 40 EUR im Jahr, bei bestimmten Gruppen bis 85 EUR im Jahr, durch die Krankenkasse erstattet. Patienten zahlen grundsätzlich mindestens 50% des Preises selbst (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland, Stand: 29.11.2022, S. 11).
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Diese Leistungen stünden auch dem Antragsteller im Falle der Zuerkennung internationalen Schutzes offen. Es ist nicht erkennbar, dass russische oder belarussische Staatsbürger in dieser Hinsicht benachteiligt würden. Nach alldem droht dem Antragsteller auch bei Anerkennung als international Schutzberechtigter keine gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung.
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4. Abschiebungshindernisse sind nicht gegeben. Das gilt sowohl für zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, als auch für inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin bei Abschiebungsanordnungen nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ebenfalls zu prüfen hat (vgl. dazu BayVGH, B.v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427 – juris sowie B.v. 21.4.2015 – 10 CE 15.810, 10 C 15.813 – juris Rn. 4).
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Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bestehen nicht, denn wie bereits dargestellt droht dem Antragsteller in Estland nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1, 3 AufenthG kommt ebenfalls nicht in Betracht.
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Ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis ergibt sich nicht daraus, dass die Ehefrau des Antragstellers ebenfalls in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, allerdings noch keine Entscheidung zur Zulässigkeit ihres Asylantrags ergangen ist. Denn eine potenziell gegen Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK verstoßende Trennung der Eheleute ist nicht zu erwarten. Vielmehr ist nach summarischer Prüfung zu erwarten, dass auch die Ehefrau eine negative Zulässigkeitsentscheidung durch das Bundesamt und eine Abschiebungsanordnung nach Estland zu erwarten hat.
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Die Ehefrau des Antragstellers, russische Staatsangehörige, ist ebenfalls mit einem gültigen, durch Estland ausgestellten Schengen-Visum in die Bundesrepublik eingereist und hat dort einen Asylantrag gestellt. Estland ist folglich gemäß Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO der für ihren Asylantrag zuständige Mitgliedstaat, das entsprechende, fristgemäße Übernahmeersuchen wurde durch die estnischen Behörden auch angenommen. Auch ihr droht nach summarischer Prüfung in Estland nicht die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, hier sei weitgehend auf die Ausführungen zum Antragsteller verwiesen. Der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags der Ehefrau des Antragstellers ist zu entnehmen, dass sie zwar an der Grenze zu Estland abgewiesen wurde, dort aber nicht Asyl beantragt hat, dass also nicht in dieser Hinsicht ihre Verfahrensrechte beschränkt wurden. Zudem ist davon auszugehen, dass etwaige medizinische Beschwerden der Ehefrau des Antragstellers bereits im Asylverfahren in Estland Behandlung finden können.
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Im Übrigen wird gemäß § 77 Abs. 3 AsylG auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids verwiesen.
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5. Nach alldem war der Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussichten des gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Rechtsbehelfs in der Hauptsache abzulehnen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).