Titel:
Erfolgreiche Klage eines Iraners auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (exilpolitische Betätigung, Konversion)
Normenkette:
AsylG § 3
Leitsätze:
1. Nach der aktuellen Erkenntnislage können im Iran im Einzelfall auch Personen gefährdet sein, die exilpolitisch nicht herausgehoben aktiv waren; das gilt insbesondere für Kurden. (Rn. 24 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Derzeit besteht im Iran für christliche Konvertiten, die ihren Glauben in Gemeinschaft mit anderen oder sonst öffentlichkeitswirksam ausüben, die beachtliche Gefahr von Verfolgungshandlungen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, regimekritische und islamkritische Äußerungen, überregionale Publizität wegen gezeigter Zivilcourage bei Messerattacke in Würzburg, breite Berichterstattung in oppositionellen iranischen bzw. kurdischen sowie in deutschen Medien, Reportagen und Interviews im Oppositionsfernsehen, öffentliches Auftreten als Kurde, angebliche Verfolgungsgefahr wegen Aktivitäten der Schwiegermutter für DPK, exilpolitische Aktivitäten mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse im Iran, Teilnahme an Demonstrationen in Deutschland, Konversion vom Islam zum Christentum, Taufvorbereitung und Taufe in Deutschland, Gemeinde Vineyard, Würzburg e. V., persönliches Bekenntnis zum Christentum, ernsthafter und nachhaltiger Glaubenswandel, andauernde religiöse Prägung, Gefahrerhöhung durch landesweite Proteste und Repressionen im Iran, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, Flüchtlingsanerkennung, exilpolitische Betätigung, Kurden, Koversion
Fundstelle:
BeckRS 2023, 5927
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. September 2022 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger, iranischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 1. November 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15. November 2019 einen Asylantrag. Zur Antragsbegründung gab der Kläger im Wesentlichen an: Er sei kurdischer Volkszugehörigkeit und befürchte bei einer Rückkehr in den Iran Schwierigkeiten durch staatliche Behörden, da er zum einen unwissentlich seine Schwiegermutter beim Verteilen von Plakaten für die Partei DPK unterstützt habe und zum anderen in der Bundesrepublik Deutschland zum Christentum konvertiert sei. In Deutschland sei er am 11. Juli 2021 in der Gemeinde Vineyard Würzburg e.V. getauft worden.
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Mit Bescheid vom 8. September 2022 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einem anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Das Vorbringen hinsichtlich einer Unterstützung der politischen Aktivitäten seiner Schwiegermutter begegneten erheblichen Zweifeln, da der Vortrag der Schwiegermutter selbst in deren Verfahren als unglaubhaft bewertet worden sei. Der Kläger sei nach eigenen Angaben unverfolgt aus dem Iran ausgereist. Er habe selbst angegeben, dass die Sicherheitsbehörden lediglich seine Schwiegermutter aufgrund derer politischen Aktivitäten gesucht haben sollten. Er, der Kläger, selbst habe überhaupt keinen Bezug zur DPK. Auch aus eine formalen Übertritt zum Christentum ergebe sich keine begründete Furcht vor Verfolgung. Ein identitätsprägender Glaubenswandel sei vorliegend nicht anzunehmen. Die Angaben des Klägers zu seiner Glaubensprägung sei mehr als dürftig gewesen. Er habe selbst erklärt, noch nicht viel über das Christentum zu wissen. Gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG entscheide die Ausländerbehörde über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Ermöglichung einer gemeinsamen Ausreise mit Familienangehörigen im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG.
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Am 19. September 2022 ließ der Kläger zunächst im vollen Umfang Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben.
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Mit Schriftsätzen vom 3. und 26. Oktober 2022 ließ der Kläger infolge eines richterlichen Hinweises seinen Antrag – bezogen auf die Anerkennung als Asylberechtigter – zurücknehmen. Zur Klagebegründung ließ er weiter im Wesentlichen ausführen: Der Kläger sei kurdischer Volkszugehörigkeit. Er stamme aus der Stadt Mahabad. Die Republik Mahabad habe für elf Monate bestanden und sei anschließend durch die iranischen Machthaber zerschlagen worden. Der damalige Präsident sei wegen Aufruhr und Hofverrat zum Tode verurteilt worden. Seit jeher würden Kurden und Kurdinnen, die ihre Zugehörigkeit zur Republik von Mahabad betonten, politisch verfolgt und schwere Menschenrechtsverletzungen erfahren. Im Rahmen der zahlreichen medialen Berichterstattung zu der Messerattacke am 25. Juni „2022“ (richtig wohl: 2021) in der Würzburger Innenstadt, habe sich der Kläger regelmäßig öffentlich als Kurde – und nicht als Iraner – zu erkennen gegeben und dabei „Kurdistan“ als seine Heimat angegeben. Dies habe er auch iranischen Medien und dem BBC gegenüber geäußert. Dies habe, wie er über seine Angehörigen im Iran, auf Seiten der iranischen Bevölkerung und entsprechender Regierungsstellen für Empörung und Wut gesorgt. Der Kläger sehe sich damit als Mitglied einer ohnehin schon unterdrückten und unter Menschenrechtsverletzung leidende Bevölkerungsgruppe weiterhin Repressalien durch das iranische Regime ausgesetzt. Die aktuellen Proteste und Demonstrationen mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen wie willkürlichen Verhaftungen, Folter und Tötungen von politischen Aktivisten, Solidaritätsbekundungen zu Jina Mahsa Amini und Kurdinnen bestätigten einmal mehr eindeutig die Unbarmherzigkeit des iranischen Regimes. Die Unterdrückung durch die iranischen Machthaber gelte aber nicht nur Frauen mit dem Streben nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, sondern zudem auch politischen oppositionellen Aktivitäten. Als Volkszugehöriger der kurdischen Minderheit gehöre er ausweislich der aktuellen landesweiten Proteste im Iran zu den besonders verfolgten und unterdrückten einer sozialen Gruppe. Eine Abschiebung würde den Kläger als bekennendes Mitglied zur kurdischen Volksgruppe den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Todesstrafe aussetzen.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 21. September 2022 Klageabweisung.
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Die Beklagte brachte zur Begründung der Klageerwiderung mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2022 im Wesentlichen vor: Nach wie vor seien keine Anhaltspunkte für eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung erkennbar. Eine Ablehnung des herrschenden Regimes wäre nur dann asylrechtlich relevant, wenn den iranischen Sicherheitsbehörden der Betreffende durch seine Aktivitäten als ernsthafte Gefahr für die islamische Republik erscheinen würde. Bei den nun vorgetragenen medialen Aussagen des Klägers handele es sich um eine niederschwellige Betätigung, die nicht befürchten lasse, dass der Kläger aufgrund dessen in Iran als ernsthafter Oppositioneller wahrgenommen werde und deswegen Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr nach Iran zu befürchten hätte. So lasse schon die Kundgebung „Kurde zu sein und aus der Heimat Kurdistan zu stammen“ keinen unmittelbaren Zusammenhang mit den Verhältnissen im Iran und einer Kritik an der dortigen Regierung erkennen.
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Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 20. September 2022 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Mit Beschluss vom 10. Oktober 2022 trennte das Gericht das Klagebegehren, die Beklagte unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. September 2022 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen, ab, führte diesen Klageteil unter dem Aktenzeichen W 8 K 22.30712 fort und stellte ihn infolge der Klagerücknahme des Klägers auf dessen Kosten ein.
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Am 24. November 2022 wurde der Kläger wegen seines Einsatzes bei der Messerattacke in Würzburg am 25. Juni 2021 mit dem Zivilcourage-Preis der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ ausgezeichnet. In der am 7. Dezember 2022 im ZDF ausgestrahlten Livesendung „Aktenzeichen XY“, in der der Kläger persönlich zu Gast war, wurde über den couragierten Einsatz des Klägers und seine Auszeichnung berichtet.
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In der mündlichen Verhandlung am 20. März 2023 beantragte der Klägerbevollmächtigte,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. September 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagtenvertreterin beantragte,
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Das Gericht hörte den Kläger informatorisch an.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Behördenakten der Beklagten sowie der Ausländerakten (einschließlich der Akten der Ehefrau, der Tochter und der Schwiegermutter des Klägers) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. September 2022 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) sowie zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG war nicht zu entscheiden.
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Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe wie die Religion (vgl. dazu Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG). Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit kann eine Verfolgungshandlung darstellen, wenn der Betreffende auf Grund der Ausübung dieser Freiheit tatsächlich Gefahr läuft, verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dabei ist es nicht zumutbar, von seinen religiösen Betätigungen Abstand zu nehmen, um nicht verfolgt zu werden (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – ABl. EU 2012, Nr. C 331 S. 5 – NVwZ 2012, 1612).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
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Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seiner persönlichen Situation sowie seiner exilpolitischen Aktivitäten verbunden mit seinem religiösen Einstellungswandel eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die – in der Öffentlichkeit breit gestreuten – Äußerungen und Aktivitäten des Klägers als regimefeindlich und islamkritisch angesehen werden und der Kläger selbst als Regimegegner und als Ungläubiger gilt.
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Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers sowohl zu seinen persönlichen Umständen als auch zu seinen exilpolitischen Aktivitäten sowie zu seinem Abfall vom Islam unter Hinwendung zum Christentum glaubhaft ist.
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Gerade in Bezug auf den Kläger spricht nicht nur der Inhalt seiner Angaben in der mündlichen Verhandlung sowie im schriftlichen Verfahren, sondern vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und für den wahren Inhalt seiner Angaben. Hinzu kommt, dass der Kläger nicht den Eindruck erweckt hat, seine Angaben zu steigern, zu übertreiben und aufzubauschen, sondern sich bewusst zurückhaltend geäußert und damit ehrlich gezeigt hat. Letzteres spricht auch gegen ein irgendwie geartetes asyltaktisches Verhalten.
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Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist bei dem Kläger wegen der von ihm vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen und islamkritischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung aus politischen bzw. religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
24
Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn ein Kläger mit seinen oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass er zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafter Regimegegner, welcher auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. VG Würzburg, U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – - juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren. Nicht nur exponierte Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenke, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59). Dies gilt gerade bei Kurden, zumal wenn sie – insbesondere in den Augen des iranischen Staates – mit exilpolitischen Parteien bzw. Organisationen oder deren Medien in Verbindung stehen (vgl. Nachweise zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung ausführlich VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff., 39).
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Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (Mahsa „Dschina“ Amini) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe Mujahedin-e Khalq (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
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Nach den Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amt für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch ausländischer Staatsangehöriger. Seit dem 18. September 2022 kommt es nach dem Tod einer jungen Iranerin nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in der Hauptstadt Teheran sowie in vielen weiteren Landesteilen zu Protesten und Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften. Polizei und Sicherheitskräfte gehen gewaltsam gegen Demonstrierende vor, es gibt Tote und Verletzte. Im räumlichen Umfeld von Demonstrationen kommt es zu willkürlichen Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Es sind weitgehende Einschränkungen der Kommunikationsdienste sind regelmäßig weitgehend eingeschränkt (insbesondere mobiles Internet, Instagram, WhatsApp, VBNs). Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 20.3.2023, unverändert gültig seit 8.2.2023).
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Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de., Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
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Mittlerweile bis in den Dezember hinein ziehen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert (vgl. etwa zuletzt Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023).
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Die Protestaktionen und Repressionen gehen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in Teheran, legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; TAZ, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 27.2.2023, 13.2.2023, 30.1.2023, 16.1.2023, 9.1.2023).
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Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung überwacht seit Jahren aber gleichzeitig die sozialen Medien, um Regimegegner zu identifizieren, und geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien regieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Sie überwachen auch die Mobilfunknetze. Sie erstellen Metadaten, wer mit wem wann und wo gesprochen hat. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden vom 23.2.2023; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivität im Ausland, exilpolitische Aktivitäten Konversion vom 5.7.2019).
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Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von Mahsa Jina Amini beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 13.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die aktuellen landesweiten Unruhen und Proteste im Iran sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr gefahrbegründend bzw. gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. exilpolitischen Aktivitäten von den iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der aktuellen Massenproteste im Iran und auch in Deutschland ist lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (ebenso VG Düsseldorf, U.v. 6.2.2023 – 2 K 4255/20.A, 7685976 – juris S. 8; VG Aachen, U.v. 31.1.2023 – 10 K 1906/20.A – juris Rn. 53 ff.; U.v. 16.12.2022 – 10 K 2871/18 A – juris Rn. 43 ff.; U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20 A – juris Rn. 57 ff., vgl. ferner auch VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 11; siehe auch schon VG Würzburg, Ue.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 37 ff. bzw. – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 31 ff.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 2.1.2023 – W 8 K 22.30737 – juris Rn. 39 ff.).
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Im Rahmen der Beurteilung der Gesamtumstände des Einzelfalles des Klägers ist weiter auch dessen Abfall vom islamischen Glauben und der Hinwendung zum christlichen Glauben verbunden mit seiner islamkritischen Einstellung zu beachten, weil die Konversion des Klägers in seinem Einzelfall zur Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran zusätzlich beiträgt.
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Denn aufgrund der aktuellen Lage, welche sich aus den in den Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergibt, besteht im Iran für christliche Konvertiten, die ihren Glauben in Gemeinschaft mit anderen oder sonst öffentlichkeitswirksam ausüben, die beachtliche Gefahr von Verfolgungshandlungen. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts (vgl. im Einzelnen VG Würzburg, U.v. 5.9.2022 – W 8 K 22.30383 – juris; U.v. 27.5.2022 – W 8 K 21.31219 – juris; U.v. 12.4.2021 – W 8 K 20.31281 – juris; U.v. 25.1.2021 – W 8 K 20.30746 – juris; U.v. 11.7.2012 – W 6 K 11.30392) sowie verschiedener Bundes- bzw. Obergerichte (vgl. BayVGH, U.v. 29.10.2020 – 14 B 19.32048 – BeckRS 2020, 34047; B.v. 26.2.2020 – 14 ZB 19.31771 – juris; B.v. 16.1.2020 – 14 ZB 19.30341 – juris; B.v. 9.5.2019 – 14 ZB 18.32707 – juris; B.v. 6.5.2019 – 14 ZB 18.32231 – juris; U.v. 25.2.2019 – 14 B 17.31462 – juris; B.v. 19.7.2018 – 14 ZB 17.31218; B.v. 9.7.2018 – 14 ZB 17.30670 – juris; B.v. 16.11.2015 – 14 ZB 13.30207 – juris sowie OVG LSA, U.v. 14.7.2022 – 3 L 9/20 – juris; SächsOVG, U.v. 24.5.2022 – 2 A 577/19.A – juris; U.v. 30.11.2021 – 2 A 488/19.A – juris; U.v. 3.4.2008 – A 2 B 36/06 – juris; OVG MV, U.v. 2.3.2022 – 4 LB 785/20 OVG – juris; HambOVG, U.v. 8.11.2021 – 2 Bf 539/19.A – juris; OVG NRW, U.v. 6.9.2021 – 6 A 139/19.A – juris; B.v. 6.7.2021 – 6 A 31/20.A – juris; U.v. 21.6.2021 – 6 A 2114/19.A – juris; U.v. 7.6.2021 – 6 A 2215/19.A – Milo; B.v. 6.1.2021 – 6 A 3413/20.A – juris; B.v. 19.2.2020 – 6 A 1502/19.A – juris; B.v. 2.1.2020 – 6 A 3975/19.A – juris; B.v. 21.10.2019 – 6 A 3923/19.A – juris; B.v. 15.2.2019 – 6 A 1558/18.A – juris; B.v. 28.6.2018 – 13 A 3261/17.A – juris; U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – DÖV 2013, 323; U.v. 30.7.2009 – 5 A 982/07.A – EzAR-NF 62 Nr. 19; OVG SH, B.v. 11.11.2020 – 2 LA 35/20 – juris, U.v. 24.3.2020 – 2 LB 20/19 – juris; Thür OVG, U.v. 28.5.2020 – 3 KO 590/13 – juris; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 3.4.2020 – 2 BvR 1838/15 – NVwZ 2020, 950; HessVGH, U.v. 18.11.2009 – 6 A 2105/08.A – ESVGH 60, 248; OVG Saarl., U.v. 26.6.2007 – 1 A 222/07 – InfAuslR 2008, 183; siehe auch Froese, NVwZ 2021, 43; jeweils m.w.N.) unterliegen iranische Staatsangehörige, die vom Islam zum Christentum konvertiert sind, bereits dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie, wenn sie im Iran lediglich ihren Glauben außenwirksam ausüben und an öffentlichen Riten teilnehmen. Erforderlich und ausreichend dafür ist, dass eine konvertierte Person im Iran nach außen erkennbar eine missionarische Tätigkeit entfalten, eine herausgehobene Rolle einnehmen, in Ausübung ihres Glaubens an öffentliche Riten, wie etwa Gottesdiensten teilnehmen, oder zumindest ihren neu angenommenen Glauben – und die damit verbundene Abkehr vom Islam – entsprechend ihrer christlichen Prägung sonst aktiv nach außen zeigen will bzw. nur gezwungenermaßen, unter dem Druck drohender Verfolgung auf eine Glaubensbetätigung verzichten würde. Der Glaubenswechsel muss dabei weiter auf einer festen Überzeugung und einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruhen und nunmehr die religiöse Identität prägen. Die betreffende Person muss eine eigene ernsthafte Gewissensentscheidung getroffen haben und sie muss auf der Basis auch gewillt sein, ihre christliche Religion auch in ihrem Heimatstaat auszuüben. Das Gericht muss daher überzeugt sein, dass die Person die unterdrückte religiöse Betätigung ihres Glaubens für sich selbst als verpflichtend zur Wahrung ihrer religiösen Identität empfindet (vgl. zuletzt etwa VG Würzburg, U.v. 30.1.2023 – W 8 K 22.30651 – juris; 27.5.2022 – W 8 K 21.31219 – juris; U.v. 3.1.2022 – W 8 K 21.31074; U.v. 22.11.2021 – W 8 K 21.30912; U.v. 4.10.2021 – W 8 K 21.30835 – juris; U.v. 12.4.2021 – W 8 K 20.31281 – juris; U.v. 25.1.2021 – W 8 K 20.30746 – juris sowie BayVGH, U.v. 29.10.2020 – 14 B 19.32048 – juris; jeweils m.w.N.). Insgesamt betrachtet ist – unter den vorstehenden Voraussetzungen – eine religiöse Betätigung von muslimischen Konvertiten, die einer evangelikalen oder freikirchlichen Gruppierung angehören, im Iran selbst im häuslich-privaten oder nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich nicht mehr gefahrlos möglich (vgl. HessVGH, U.v. 18.11.2009 – 6 A 2105/08.A – ESVGH 60, 248; B.v. 23.2.2010 – 6 A 2067/08.A – Entscheiderbrief 10/2010, 3; B.v. 11.2.2013 – 6 A 2279/12.Z.A – Entscheiderbrief 3/2013, 5).
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Aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung besteht nach Überzeugung des Gerichts für die Kläger eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, da der Kläger aufgrund einer tiefen inneren Glaubensüberzeugung lebensgeschichtlich nachvollziehbar vom islamischen Glauben abgefallen ist und den christlichen Glauben angenommen haben. Das Gericht ist weiterhin davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner persönlichen religiösen Prägung entsprechend seiner neu gewonnenen Glaubens- und Moralvorstellungen das unbedingte Bedürfnis hat, seinen Glauben zu leben. Das Gericht erachtet weiter als glaubhaft, dass eine andauernde christliche Prägung des Klägers vorliegt und dass er auch bei einer Rückkehr in den Iran entsprechend seinem christlichen Glauben leben will. Das Gericht hat nach der Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht den Eindruck, dass sich die Kläger bezogen auf den entscheidungserheblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) nur vorgeschoben aus opportunistischen, asyltaktischen Gründen dem Christentum zugewandt haben. Die Würdigung der Angaben der Kläger zu ihrer Konversion ist ureigene Aufgabe des Gerichts im Rahmen seiner Überzeugungsbildung gemäß § 108 VwGO (BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19 und BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 3.4.2020 – 2 BvR 1838/15 – NVwZ 2020, 950; sowie etwa SächsOVG, U.v. 24.5.2022 – 2 A 577/19.A – juris; U.v. 30.11.2021 – 2 A 488/19.A – juris; OVG NRW, U.v. 6.9.2021 – 6 A 139/19.A – juris; U.v. 7.6.2021 – 6 A 2215/19.A – Milo; B.v. 10.2.2020 – 6 A 885/19.A – juris; B.v. 19.6.2019 – 6 A 2216/19.A – juris; B.v. 23.5.2019 – 6 A 1272/19.A – juris; B.v. 20.5.2019 – 6 A 4125/18.A – juris; B.v. 2.7.2018 – 13 A 122/18.A – juris; OVG SH, B.v. 11.11.2020 – 2 LA 35/20 – juris; B.v. 29.9.2017 – 2 LA 67/16 – juris; B.v. 28.6.2018 – 13 A 3261/17.A – juris; B.v. 10.2.2017 – 13 A 2648/16.A – juris; BayVGH, U.v. 29.10.2020 – 14 B 19.32048 – juris; B.v. 6.5.2019 – 14 ZB 18.32231 – juris; U.v. 25.2.2019 – 14 B 17.31462 – juris; B.v. 9.7.2018 – 14 ZB 17.30670 – juris; B.v. 16.11.2015 – 14 ZB 13.30207 – juris; B.v. 9.4.2015 – 14 ZB 14.30444 – NVwZ-RR 2015, 677; ThürOVG, U.v. 28.5.2020 – 3 KO 590/13 – juris; VGH BW, B.v. 19.2.2014 – A 3 S 2023/12 – NVwZ-RR 2014, 576; NdsOVG, B.v. 16.9.2014 – 13 LA 93/14 – KuR 2014, 263), wobei keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind, zumal Glaubens- und Konversionsprozesse individuell sehr unterschiedlich verlaufen können und nicht zuletzt von der Persönlichkeitsstruktur des/der Betroffenen, seiner/ihrer religiösen und kulturellen Prägung und seiner/ihrer intellektuellen Disposition abhängen (Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6).
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Das Gericht ist nach informatorischer Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie aufgrund der schriftlich vorgelegten Unterlagen davon überzeugt, dass dieser ernsthaft vom Islam abgefallen und zum Christentum konvertiert ist. So legte der Kläger ein persönliches Bekenntnis zum Christentum ab. Seine Schilderungen sind plausibel und in sich schlüssig. Der Eindruck einer ehrlichen und aufrichtigen Konversion zum Christentum wird bekräftigt durch den Umstand, dass der Kläger offenkundig vermied, aufzubauschen und zu übertreiben, so dass das Gericht auch nicht von einem asyltaktischen Verhalten ausgeht. In den vorgelegten Unterlagen wird unter anderem die Taufe des Klägers bestätigt.
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Ausgehend von den vorliegenden Erkenntnissen und dem daraus resultierenden Lagebild muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalls wegen seiner regime- und islamkritischen Einstellung sowie seinen Äußerungen und Aktivitäten, die teilweise im Zusammenhang mit den aktuellen Vorkommnissen im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte stehen, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen, so dass ihm eine Rückkehr in den Iran nicht zuzumuten ist.
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Der Kläger hat dargetan, dass er in der Öffentlichkeit als Kurde aufgetreten ist und auch bei der medialen Berichterstattung über ihn anlässlich der Messerattacke am 25. Juni 2021 und in der Folgezeit daraus und aus seiner damit verbundenen regimekritischen Einstellung keinen Hehl gemacht hat. Er gab in der mündlichen Verhandlung zum einen weiter an, dass in den Medien im Iran über seine Tat im Zusammenhang mit der Messerattacke in Würzburg im Juni 2021 – bewusst – nicht berichtet worden sei, weil er Kurde sei. Demgegenüber sei zum anderen in kurdischen Medien bzw. sonstigen oppositionellen exilpolitische Medien darüber berichtet worden. Er habe Interviews gegeben, etwa bei BBC und bei VoA (Voice of America). Außerdem habe es ein Interview mit dem kurdischen Fernsehsender Rudaw gegeben. Sie hätten dabei auch allgemein über die Umstände im Iran gesprochen. Im Internet finden sich beispielsweise Beiträge über den Kläger bei https://www.radio-farda.com., https://www.kurdpress.com, https://www.indepentendpersian.com oder https://www.bbc.com/persian. Des Weiteren findet sich in seiner Akte eine Bestätigung der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK). Dazu räumte der Kläger aber ehrlich ein, dass er nicht Mitglied oder Sympathisant sei. Vielmehr habe er die Bestätigung über und im Zusammenhang mit seiner Schwiegermutter bekommen. Er selbst habe derzeit keine derartigen politischen Aktivitäten.
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Konkret gab der Kläger aber hingegen an, sich aufgrund der aktuellen Ereignisse im Iran in den letzten Monaten, ausgehend vom Tod von Jina Mahsa Amini, aus Solidarität mit dieser ebenfalls die Haare abgeschnitten zu haben. Darüber hinaus habe er an verschiedenen Demonstrationen teilgenommen. Der Kläger erklärte, immer, wenn sich Iraner in Würzburg versammelten, nehme er daran teil. Er habe sich an solchen Demonstrationen beteiligt. Derartige Aktivitäten hätten öfters stattgefunden, aber er habe wegen seiner Arbeit nicht immer teilnehmen können. Er habe auch dem kurdischen Sender Rudaw ein Interview gegeben und dort gesagt, dass er sich wegen der Tötung der kurdischen Frau die Haare abgeschnitten habe. Er habe weiter gesagt, dass er mit der Regierung im Iran nicht zufrieden sei. Es sei seine Reaktion darauf gewesen. Er habe mit dem Protest zeigen wollen, dass er damit nicht zufrieden sei. Das Interview sei auch gefilmt und der Film sei ausgestrahlt worden.
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Des Weiteren gab der Kläger, abgesehen von seinen regimekritischen bzw. exilpolitischen oppositionellen Äußerungen und Aktivitäten, glaubhaft an, dass er kein Moslem mehr sei. Er sei schon im Iran kein Moslem gewesen. Er habe die islamischen Regeln nicht praktiziert. Er sei sunnitischer Moslem gewesen, während die Mehrheit oder die Regierung im Iran schiitisch gewesen sei. Er habe schon vor seinem 20. Lebensjahr die islamische Religion abgelehnt. Er akzeptiere beides nicht, nicht sunnitisch und nicht schiitisch. Er habe dies im Iran aber für sich behalten. Er habe im Iran keine Schwierigkeiten bekommen, weil er es in seinem Herzen behalten habe. Der Kläger gab weiter aufrichtig an, dass er im Iran noch keinen Kontakt zum Christentum gehabt habe, aber in Deutschland in Kontakt zum Christentum gekommen sei. Er sei durch Würzburg gelaufen. Er sei zu einer christlichen Veranstaltung gekommen. Er sei mit der Gruppe ins Gespräch gekommen und sie hätten ihm Tee und Süßigkeiten angeboten und eingeladen. Der Pfarrer habe ihn mit einem anderen Iraner bekannt gemacht.
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In dem Zusammenhang ist anzumerken, dass der Kläger auf Vorhalt seiner im Widerspruch dazu stehenden Aussage beim Bundesamt, dass er zuerst den Iraner kennen gelernt habe, der ihn dann an die Kirche vermittelt habe, dies nicht einfach auf eine fehlerhafte Übersetzung schob, sondern versuchte sich in der mündlichen Verhandlung ernsthaft zu erinnern. Dabei kam aber zu dem Ergebnis, es sei so, wie er es in der mündlichen Verhandlung beschrieben habe, und erklärte, vielleicht habe er es selbst seinerseits beim Bundesamt durcheinandergebracht oder es habe an der Übersetzung gelegen.
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Der Kläger beschrieb weiter, dass er längere Zeit mit der christlichen Gemeinde in Kontakt geblieben sei. Er könne nicht genau sagen, wie lange es vom ersten Kontakt bis zur Taufe gedauert habe, vielleicht seien es acht Monate gewesen, vielleicht ein Jahr. Er räumte selbst die bestehenden Sprachschwierigkeiten ein. Der Kläger erklärte weiter, dass es vor der Taufe zwei Sitzungen gegeben habe, in denen sie ihm verschiedene Sachen im Zusammenhang und als Vorbereitung auf die Taufe erklärt und gesagt hätten. Der Kläger gab auch hier wieder ehrlich und ohne aufzubauschen an, es habe keine Prüfung und keine konkreten Fragen und keine Einschätzung gegeben. Es habe aber auch schon christlichen Unterricht vorab gegeben und er habe auch eine Bibel auf Persisch bekommen. An dem Unterricht habe er aber wegen seiner Arbeit nicht immer teilnehmen können. Er habe aber die Religion in seinem Herzen aufgenommen. Auch insofern gestand der Kläger gegenüber seiner christlichen Gemeinde aufrichtig ein, dass er Zeit brauche. Der Priester der Gemeinde habe gleichwohl gesagt, dass er zuerst getauft werden könne und danach erst langsam das Christentum kennen lerne könne.
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Der Kläger betonte wiederholt, dass er die christliche Religion im Herzen habe und dass für ihn persönlich die Menschlichkeit in dieser Religion stehe im Zentrum. Er sei vom Islam zum Christentum konvertiert, weil dies sei ein Weg. Er wolle dabeibleiben. Weiter räumte er ehrlich ein, dass er seit fünf bis sechs Monaten nicht mehr in die dortigen Veranstaltungen seiner christlichen Gemeinde gehe. Seine Verwandten in Deutschland wüssten von seiner Konversion, also seine Schwiegermutter (gleichzeitig Tante), seine Ehefrau, aber nicht seine Mutter im Iran. Der Kläger gab weiter an, er habe vor der Taufe mit Leuten gesprochen die auf ihn Einfluss gehabt hätten. Er habe sich überzeugen lassen. Er habe sich dann taufen lassen. Durch den Kontakt zum Christentum und den Gang in die Kirche habe er sich dadurch beruhigt und sei ruhiger gewesen. Dies habe sich auch auf den Umgang mit seiner – getrenntlebenden – Ehefrau und Tochter ausgewirkt. Es habe zu einem besseren Kontakt beigetragen. Sie träfen sich jetzt wieder öfters als früher. Durch das Christentum habe sich sein Verhalten zu 100% geändert. Er habe auch keine Probleme und auch keinen Streit mehr.
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Der Kläger gab weiter glaubhaft an, er könne sich nicht vorstellen, wieder zum Islam zurück zu gehen. Er sei ja schon im Iran kein Moslem mehr gewesen, bloß im Iran habe niemand davon gewusst; genauso wenig wie jemand davon gewusst habe, dass er heimlich Alkohol getrunken habe. Weiter erklärte der Kläger, dass er bei einer theoretischen Rückkehr in den Iran seine Konversion, überhaupt seine ganze Einstellung, verheimlichen wolle. Er werde keinem erzählen, was in Deutschland passiert sei. Das habe mit ihm zu tun. Außerdem wolle er sich nicht der Gefahr aussetzen. Denn was wisse er, was dann Sache sei. Er wolle lieber sein „Maul“ halten und nichts erzählen, wenn er sonst Gefahren ausgesetzt wäre. Es gebe im Iran eine Regelung, so eine Art Fatwa. Danach habe man nur drei Tage Zeit. Wenn man da nicht zu seiner Religion zurückkehre, dann werde man mit dem Tode bestraft.
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Zu dem letzten Vorbringen ist anzumerken, dass einem Gläubigen nicht als nachteilig entgegengehalten werden kann, wenn er aus Furcht vor Verfolgung auf eine nach außen gerichtete Glaubensbetätigung verzichtet und unter Druck drohender Verfolgungsgefahr erzwungener Verzicht auf die Glaubensbetätigung kann die Qualität einer Verfolgung erreichen und hindert nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (vgl. BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40.15 – Buchholz 402.25 § 3 AsylVfG Nr. 19; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – BVerwGE 146, 67; Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6 und 11/2013, Anm. 1; Marx, Anmerkung, InfAuslR 2013, 308). Das gilt nicht nur für den Verzicht auf eine islamkritische, sondern auch für einen Verzicht auf sonstige regimekritischen Äußerungen und Betätigungen aus Angst vor Verfolgung.
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Des Weiteren ist anzumerken, dass der Kläger – sowohl im Zusammenhang mit seiner Taufe als auch zu seinen christlichen Aktivitäten – durchweg den Eindruck machte, bei der Wahrheit bleiben zu wollen und auf jedem Fall nicht aufbauschen oder Angaben steigern zu wollen. Insbesondere behauptete der Kläger nicht, an diversen Gottesdiensten und Veranstaltungen teilzunehmen oder Werbung im Sinne von Missionierung für seinen christlichen Glauben zu machen und dergleichen, um sich dadurch Vorteile im Asylverfahren zu verschaffen, sondern betonte wiederholt, dass es für ihn eine Herzenssache und für ihn die Menschlichkeit im Christentum wesentlich sei.
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Der Kläger hat insgesamt seine religiöse Identität oder damit verbunden Abfall vom Islam glaubhaft dargelegt. Es ist verboten zu konvertieren. Dabei genügt für ein Todesurteil allein der bloße Abfall vom Islam, unabhängig vom Wechsel in eine andere Religion (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 15) Infolgedessen wäre auch dann, wenn wegen Apostasie mit Repressionen und strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen, wenn der Betreffende nur Atheist wäre (vgl. auch VG Bremen, U.v. 18.1.2023 – 1 K 1738/21 – juris Rn. 30).
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Gesamtbetrachtet hat der Kläger durch sein Auftreten in der mündlichen Verhandlung und durch die Darlegung seiner Beweggründe nicht den Eindruck hinterlassen, dass er nur aus opportunistischen und asyltaktischen Gründen motiviert vom Islam abgefallen und dem christlichen Glauben nähergetreten ist, sondern aufgrund einer ernsthaften Gewissensentscheidung aus einer tiefen Überzeugung heraus den religiösen Einstellungswandel vollzogen hat.
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Fasst man das Vorbringen des Klägers insgesamt zusammen, so ist zunächst zu konstatieren, dass sich der Kläger mit Blick auf seine exilpolitischen oppositionellen Aktivitäten auch angesichts des massenweisen Auftretens exilpolitischer regimekritischer Aktivitäten von Iraner im Ausland nicht exponiert hat und dass er auch unter Berücksichtigung der aktuellen Massenproteste im Iran und in Deutschland nicht besonders hervorgetreten ist. In gleicher Weise ist festzuhalten, dass der Kläger nach seinem Vorbringen betreffend seines Abfalls vom Islam und seiner Konversion vom Islam zum Christentum keine nach außen erkennbare missionarische Tätigkeiten entfaltet und auch sonst keine herausgehobene Rolle einnimmt und er auch nicht das religiöse Bedürfnis hat, seinen Glauben nach außen hin auszuleben, an öffentlichen Riten teilzunehmen, etwa an Gottesdiensten oder zumindest seinen neu angenommenen Glauben – und die damit verbundene Abkehr vom Islam – entsprechend seiner christlichen Prägung sonst aktiv nach außen zu zeigen.
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Gleichwohl ist das Gericht von einer dem Kläger drohenden Verfolgung seitens des iranischen Staates mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit überzeugt. Denn dafür sprechen zum einen die erhöhte Verfolgungsgefahr aufgrund der aktuellen landesweiten Ereignisse im Iran im letzten halben Jahr, gekennzeichnet durch landesweite Proteste und verschärfte Repressionen der iranischen Behörden. Gefahrbegründend und -erhöhend wirken zum anderen die Publizität des Klägers wegen seiner gezeigten Zivilcourage bei der Messerattacke in Würzburg im Juni 2021 samt der nachfolgenden Auszeichnungen und Ehrungen bis hin zu seinem Asylverfahren (einschließlich des vorliegenden Gerichtsverfahrens) sowie die sich darauf beziehende vielfache Berichterstattung, gerade auch in den oppositionellen iranischen und kurdischen Medien sowie breit gestreut in den deutschen und auch internationalen Medien, wobei auch politische und religiöse Einstellung des Klägers nicht verschwiegen worden ist, wie auch nicht zuletzt – wie aufgrund des medialen Andrangs im Vorfeld der mündlichen Verhandlung zu erwarten war – auch die Berichterstattung in den Medien über das vorliegende Gerichtsverfahren beim Verwaltungsgericht Würzburg zeigt.
52
So finden sich zum Beispiel schon in einem Artikel der Zeitung Main-Post vom 28. Juni 2021 Ausführungen, dass der Kläger aus politischen Gründen nach Deutschland geflohen sei; mittlerweile seien auch Reporter des iranischen Oppositionsfernsehens vor Ort und drehten mit ihrem Landsmann eine Reportage. Sie möchten, dass das Gesicht des Klägers auch im Iran bekannt wird – in einem Land, wo es keine Meinungsfreiheit gebe, sagten die Reporter (siehe: https://www.mainpost.de… … … … … …). In der medialen Berichterstattung über das vorliegende Verfahren wurde intensiv sowohl über die regimekritische als auch über die islamkritische Einstellung des Klägers und seine betreffenden Äußerungen berichtet (siehe nur die bei google.de angezeigten zahlreichen Links bei der Suche unter dem Namen des Klägers: https://www.google.com/search? …).
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Die durch die gezeigte Zivilcourage im Zusammenhang mit der Messerattacke gewonnene Publizität hat der Kläger nicht gesteuert und gesucht. Sie hat ihn vielmehr ereilt, wenn er sich auf die zahlreichen Medien, die ihrerseits unaufgefordert an ihn herangetreten sind, auch nicht verweigert hat. Ihm, dem Kläger, aufgrund seiner gezeigten Zivilcourage und den Folgen, auch durch die mediale Berichterstattung, asyltaktisches Verhalten unterstellen zu wollen, ist aus der Sicht des Gerichts abwegig. Der Kläger hat sich gerade nicht in seiner persönlichen politischen und religiösen Einstellung in die Öffentlichkeit gedrängt. Er hat vielmehr wiederholt betont, er wolle lieber alles für sich behalten und nichts erzählen, wenn er sonst Gefahren ausgesetzt wäre.
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In dem Zusammenhang merkt das Gericht ausdrücklich an, dass dem Kläger deshalb kein Vorteil im Asylverfahren zu Gute kommen kann, weil er in Deutschland „ein gutes Werk getan hat“, in dem er Zivilcourage gezeigt hat und geholfen hat, den Messerangreifer bei seiner Attacke am 25. Juni 2021 in Würzburg mit drei Toten und mehreren Verletzten davon abzuhalten, weitere Personen zu töten und zu verletzen. Umgekehrt darf ihm aber auch kein Nachteil daraus erwachsen, dass deshalb über seine Person und seine politische und religiöse Einstellung überregional und weltweit berichtet wird, so dass davon ausgegangen werden muss, dass dies auch den iranischen Behörden bekannt wird und er schon aus diesem Grund in den Fokus des iranischen Staates gelangt. Das Auswärtige Amt hat schon im Jahr 2021 (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Oldenburg vom 29.11.2021) unter anderem dazu ausgeführt, dass die iranischen Behörden auch im Ausland sehr aktiv sind in der Überwachung ihrer Staatsangehörigen. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Bekanntmachung der Konversion zum Christentum auf Facebook im Ausland den iranischen Behörden nicht nur bekannt werden kann, sondern sehr wahrscheinlich auch zu einer Überwachung durch die Behörden führen kann. Insofern besteht für das Gericht keine Zweifel, dass die iranischen Behörden Kenntnis von der regime- und islamkritischen Einstellung des Klägers haben und auch von seinem Abfall vom Islam und seiner Konversion zum Christentum ausgehen. Selbst wenn der Kläger nur aus asyltaktischen Gründen konvertiert und getauft wäre – was das Gericht nicht annimmt –, könnte selbst in diesem Fall eine Verfolgungsgefahr nicht ausgeschlossen werden. Denn das Auswärtiges Amt hat in der vorstehend zitierten Auskunft ausdrücklich angemerkt, dass es keine Aussage dazu treffen kann, dass es selbst bei einer Konversion aus asyltaktischen Gründen bei einer Rückkehr nicht zu einer Befragung und zu Repressionen von Folter und dergleichen kommen könne. Es könne weiter nicht ausschließen, dass auch eine Person, die keine hohe Sichtbarkeit hat, bei Rückkehr für seine politischen Aktivitäten verhaftet wird. Unter diesem Blickwinkel lässt sich die bisher überwiegend anzutreffende Ansicht, dass den iranischen Stellen bekannt sei, dass eine große Zahl iranischer Asylbewerber aus wirtschaftlichen oder anderen unpolitischen Gründen versuche, im westlichen Ausland, und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, dauernd Aufenthalt zu finden und hierzu aus asyltaktischen Gründen Nachfluchtaktivitäten entwickle, um so im Nachhinein Asylgründe zu finden, wie sich etwa aus asyltaktischen Gründen taufen zu lassen oder exilpolitisch zu betätigen, keine Verfolgungsgefahr begründe, weil die iranischen Behörden im Regelfall davon ausgehen würden, dass dies nicht ernst gemeint sei und allein die Förderung des Asylverfahrens diene (vgl. so etwa VG Schleswig-Holstein, U.v. 6.12.2021 – 10 A 297/19, 7692453 – juris S. 19; VG Trier, U.v. 15.7.2020 – 8 K 1564/19.TR – juris 9 f.), kritisch zu hinterfragen ist. Denn selbst, wenn aus asyltaktischen Gründen – was das Gericht im vorliegenden Fall dem Kläger ausdrücklich nicht unterstellt, sondern im Gegenteil von keinem asyltaktischen Verhalten des Klägers ausgeht – entsprechende Betätigungen und Äußerungen erfolgen sollten, machen die betreffenden Asylbewerber den iranischen Staat und die islamische Religion dadurch gleichwohl in der Öffentlichkeit verächtlich und reden schlecht sowohl über die islamische Regierung als auch über die islamische Religion im Iran, was – wie gerichtsbekannt ist – auch manchem iranischstämmigen Dolmetscher missfällt, der ablehnt, bei betreffenden Asylklägern zu dolmetschen.
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Wie schon angemerkt wirken sich die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers, wie die Teilnahme an Demonstrationen, die sich gegen das islamische Regime und die Unterdrückung von Frauen richten, gefahrerhöhend aus. Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierte Oppositionelle bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland kommende Iraner, insbesondere auch aus Deutschland, damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Denn besonders schwerwiegend unterbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 9). Solche Aktivitäten hat der Kläger gerade an den Tag gelegt und diese sind dem iranischen Staat auch bekannt. Insbesondere aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht dem Kläger, sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran, als auch aufgrund seines aktuellen Aufenthalts in Deutschland unter Einbeziehung der hohen Publizität des Klägers der Vorwurf, ein Regimegegner zu sein und unter westlichen Einfluss zu stehen, zumal er sich – wie auch in der mündlichen Verhandlung verdeutlicht und medial verbreitet- mit den aktuellen Protesten im Iran ausdrücklich solidarisiert hat. Infolgedessen ist der Kläger exilpolitisch – nicht zuletzt durch die Berichterstattung darüber – auch exponiert und ragt aus dem Kreis der Masse iranischer Asylbewerber heraus.
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Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann sich ein Kläger bzw. eine Klägerin bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG auch auf Umstände stützen, die nach Verlassen des Herkunftslandes entstanden sind. Dies gilt gerade, wenn wie hier vorliegend ein Iraner seine religiöse Überzeugung aufgrund ernsthafter Erwägungen wechselt und nach gewissenhafter Prüfung vom Islam zum Christentum übertritt (Bergmann in Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 28 AsylG Rn. 17). Das Gleiche gilt hinsichtlich exilpolitischer Aktivitäten infolge aktueller Ereignisse im Heimatland, die nach der Ausreise aufgetreten sind.
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Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG [„oder“] und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
58
Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
59
Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidungen entfallen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
60
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
61
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.