Inhalt

OLG München, Endurteil v. 28.03.2023 – 5 U 4525/22
Titel:

Kein Schadensersatz wegen angeblicher Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1
Leitsätze:
1. Voraussetzung für die Annahme eines Schutzgesetzes ist, dass die Schaffung eines individuellen deliktischen Anspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint. Das deutsche Recht stellt allerdings sicher, dass notwendige technische Anpassungen des Fahrzeugs an die gebotenen (europa-)rechtlichen Standards auch über verwaltungsrechtliche Maßnahmen (z.B. in Form von verbindlich angeordneten Nachrüstungen und Änderungen) erfolgen können, die auf Kosten der Hersteller durchgeführt werden. Damit ist gewährleistet, dass der jeweils aktuelle Eigentümer des Fahrzeugs wegen dieser Maßnahmen keine spürbare wirtschaftliche Belastung erfährt, anderseits den Zielen des europäischen Rechts insgesamt genügt ist. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus einer in der Motorsteuerungssoftware hinterlegten Fahrkurvenerkennung folgt kein sittenwidriges Verhalten des Herstellers. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) ist nicht von vornherein durch Arglist geprägt. Sie führt nicht dazu, dass bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und der Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert wird, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EA 288, Abschalteinrichtung, Sittenwidrigkeit, Motorsteuerungssoftware, Thermofenster, Fahrkurvenerkennung
Vorinstanz:
LG Passau, Endurteil vom 15.07.2022 – 4 O 205/22
Fundstelle:
BeckRS 2023, 5893

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Passau vom 15.07.2022, Az. 4 O 205/22, wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Passau ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe

1
Der Kläger verlangt von der Beklagten als Herstellerin von Dieselmotoren der Baureihe EA 288 Schadensersatz.
2
Der Kläger erwarb am 15.12.2016 das gebrauchte Fahrzeug Audi Q3 Sport zu einem Kaufpreis von 41.500 € von einem Dritten. In dem Fahrzeug ist ein Motor des Typs EA 288 verbaut. Das Fahrzeug unterfällt der Abgasnorm EU 6. Bis heute kam es weder zu einem Rückruf des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch das Kraftfahrtbundesamt noch wurde die EG-Typgenehmigung entzogen. Der Motor weist eine Fahrkurvenerkennung auf sowie ein sog. Thermofenster. Am 22.10.2019 verkaufte der Kläger das Fahrzeug zum Preis von 23.000 €.
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Der Kläger verlangte erstinstanzlich unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich des Verkaufserlöses und einer Nutzungsentschädigung Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes einschließlich der erstinstanzlichen Anträge wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil des Landgerichts Passau vom 15.07.2022 Bezug genommen.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Weder das unstreitig verbaute Thermofenster noch die Implementierung des SCR-Katalysators würden einen klägerischen Anspruch gem. § 826 BGB begründen. Es fehle insoweit jedenfalls an den subjektiven Voraussetzungen. Der Vortrag zu anderen Abschalteinrichtungen sei ins Blaue hinein erfolgt. Andere Anspruchsgrundlagen kämen nicht in Betracht.
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Gegen dieses am 15.07.2022 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung vom 29.07.2022, die er nach Fristverlängerung bis 05.10.2022 mit am 04.10.2022 eingegangenem Schriftsatz begründet hat. Das Landgericht habe sich nicht ausreichend mit seinem substantiierten Sachvortrag auseinandergesetzt. Das Fahrzeug verfüge über eine Prüfstandserkennung und Abschalteinrichtungen; der Motor sei mit dem Vorgängermotor EA 189 vergleichbar. Die Beklagte habe im Typengenehmigungsverfahren ihre Mitteilungspflichten gegenüber dem KBA nicht erfüllt.
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Das Fahrzeug ermittele neben dem Thermofenster weitere Parameter. Das Landgericht habe die Anforderungen an die Substantiierungspflicht des Klägers im Zusammenhang mit der Zykluserkennung und der Einspritzung von AdBlue überspannt.
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Im Berufungsrechtszug beantragt der Kläger:
Das Endurteil des Landgerichts Passau vom 15.07.2022 zum Az.: 4 O 205/22 wird mit der Maßgabe abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, an den Kläger EUR 12.080,38 nebst Zinsen inHöhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz der EZB hieraus seit Klagezustellung zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Der Senat hat mit der Ladungsverfügung vom 08.11.2022 und im Termin vom 17.01.2023 Hinweise erteilt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Ersturteil, die genannte Ladungsverfügung, die Sitzungsniederschrift vom 17.01.2023 sowie die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Schadensersatz zu.
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1. Der Kläger hat wegen des unstreitig verbauten Thermofensters keinen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. i.V.m. Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007.
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a) Es kann dahinstehen, ob es sich bei den genannten nationalen und europarechtlichen Vorschriften um drittschützende Normen handelt, was der BGH in gefestigter Rechtsprechung verneint (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – ZR 252/19 – Rn. 72 ff, juris; kürzlich BGH, Beschluss vom 10. 02.2022 – ZR 87/21 – Rn. 8ff, juris; BGH, Beschluss vom 04.05.2022 – ZR 656/21 Rn. 3, juris) und was den Senat weiterhin überzeugt.
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Denn Voraussetzung für die Annahme eines Schutzgesetzes ist, dass die Schaffung eines individuellen deliktischen Anspruchs sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint. Dabei muss in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, geprüft werden, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen (BGH, Urteil vom 14. Juni 2022 – ZR 110/21 –, Rn. 10, juris m.w.N.). Das deutsche Recht stellt allerdings sicher, dass notwendige technische Anpassungen des Fahrzeugs an die gebotenen (europa-)rechtlichen Standards auch über verwaltungsrechtliche Maßnahmen (z.B. in Form von verbindlich angeordneten Nachrüstungen und Änderungen) erfolgen können, die auf Kosten der Hersteller durchgeführt werden. Damit ist gewährleistet, dass der jeweils aktuelle Eigentümer des Fahrzeugs wegen dieser Maßnahmen keine spürbare wirtschaftliche Belastung erfährt, anderseits den Zielen des europäischen Rechts insgesamt genügt ist.
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b) Aber auch bei einer unterstellten drittschützenden Wirkung der genannten Normen wäre ein mindestens fahrlässiger Verstoß der Beklagten nicht feststellbar. Das KBA hat in einer Reihe von amtlichen Auskünften (vgl. Anlagen B 40 ff.) für den streitgegenständlichen Motortyp mitgeteilt, dass unzulässige Abschalteinrichtungen auch nach umfangreichen Untersuchungen nicht festgestellt worden seien. Gerade vor diesem Hintergrund ist ein fahrlässiges Handeln der Verantwortlichen der Beklagten in Bezug auf die Einhaltung der bezeichneten europarechtlichen Vorschriften im Zeitpunkt der Beantragung und Erlangung der Typgenehmigung nicht ersichtlich. c)
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Soweit dem klägerischen Vortrag entnommen werden kann, dass er den Schaden nicht nur in der Belastung mit einer ungewollten Verbindlichkeit, sondern auch in einem eventuellen Minderwert des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses erblickt, ist dieser weder ersichtlich noch schlüssig dargetan. Selbst wenn man in dem Verbau des Thermofensters eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.d. 823 Abs. 2 i.V.m.. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. Art. 5 Abs. 1 und 2 VO 715/2007 sähe, so würde eine Schätzung des Minderwerts gem. § 287 ZPO auf Grundlage der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 07.07.2021 – ZR 40/20 – Rn. 24 ff, juris) im konkreten Fall dazu führen, dass der objektive Wert der Gegenleistung (des Fahrzeugs) den objektiven Wert der klägerischen Leistung (des Kaufpreises) erreicht. Bei der Bemessung des objektiven Werts des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses sind zunächst die mit der Abschalteinrichtung verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko behördlicher Anordnungen zu berücksichtigen (vgl. BGH, aaO, Rn. 24). Aufgrund der ausführlichen Untersuchungen des streitgegenständlichen Motortyps durch das KBA und der hierzu ergangenen zahlreichen amtlichen Auskünfte ist vielmehr davon auszugehen, dass das Risiko einer Nichtbenutzbarkeit des streitgegenständlichen PKW nicht einmal abstrakt bestand, so dass nicht von einem objektiv wirtschaftlich nachteiligen Vertragsschluss und einem merkantilen Minderwert ausgegangen werden kann. Weder ein (verpflichtender) Rückruf noch eine Stilllegungsanordnung drohten oder drohen. d)
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Auf diese Erwägungen kommt es indes letztlich nicht an, weil nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten das verbaute Thermofenster im Temperaturbereich von -24 °C bis +70 °C dafür sorgt, dass die Abgasrückführung zu 100% aktiv ist. Damit ist schon begrifflich das Thermofenster nicht als Abschalteinrichtung zu qualifizieren, denn es bewirkt keine Einschränkung der Effektivität der Abgasreinigung durch Abgasrückführung.
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2. Ein Anspruch aus § 826 BGB kommt ebenfalls nicht in Betracht. a)
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Unstreitig weist der streitgegenständliche Motortyp eine Temperatursteuerung der Abgasrückführungsrate (sog. Thermofenster) auf. Hierzu und auch soweit der Kläger eine Fahrkurvenerkennung behauptet, fehlt jedoch konkreter und nachvollziehbarer Vortrag der Klageseite, aus dem sich das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung verknüpft mit einem sittenwidrigen Verhalten der für die Beklagten handelnden Personen gem. § 826 BGB, insbesondere einer arglistigen Täuschung oder eines bewussten Gesetzesverstoßes ergeben könnte.
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b) Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutrage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben. Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (st. Rspr. vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – ZR 252/19 – Rn.15, juris; BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – ZR 889/20 – Rn.12, juris).
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Im Grundsatzurteil vom 25.05.2020 (AZ. ZR 252/19), ergangen zum Vorgängermotor EA 189, hat der Bundesgerichtshof die Sittenwidrigkeit damit begründet, dass der Fahrzeughersteller bei der Motorenentwicklung die strategische Entscheidung getroffen habe, die Typgenehmigung durch arglistige Täuschung des KBA zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge sodann in den Verkehr zu bringen und dabei die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt auszunutzen. Entscheidend war, dass die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5- Norm nur im Abgasrückführungsmodus 1 auf dem Prüfstand unter Einsatz der Manipulationssoftware eingehalten wurden.
21
c) Aus einer in der Motorsteuerungssoftware hinterlegten Fahrkurvenerkennung folgt kein sittenwidriges Verhalten der Beklagten. Die technische Funktion der Fahrkurvenerkennung, die wiederum die Regeneration des Katalysators auf dem Prüfstand in anderer Weise beeinflussen soll als im realen Fahrbetrieb, war dem KBA bereits seit Ende 2015 bekannt und hat nicht zu einem verpflichtenden Rückruf des KBA geführt. Insbesondere waren die sog. „Applikationsrichtlinien & Freigabevorgabe EA 288“ der Beklagten vom 18.11.2015 (vgl. Anlage B 8) dem KBA sowohl bekannt wie auch von der Beklagten mit diesem abgestimmt, ohne dass deswegen, anders als bei dem Motortyp EA 189, ein Rückruf des Fahrzeugs durch das KBA angeordnet worden wäre. Das BMVI hat darüberhinaus auf Pressemitteilungen zu Manipulationen beim Motor EA 288 am 12.09.2019 per Twittermitteilung reagiert (vgl. Anlage B 2), indem es erklärte, dass die Vorwürfe nicht neu seien und das KBA bereits seit 2016 eigene Messungen, Untersuchungen und Analysen durchgeführt habe, bei denen unzulässige Abschalteinrichtungen, auch in Gestalt einer unzulässigen Zykluserkennung, nicht hätten festgestellt werden können. Dies wird gestützt durch die in zahlreichen Parallelverfahren erfolgten amtlichen Auskünfte des KBA zu Fahrzeugen, die mit Motoren aus der Reihe EA 288 ausgestattet sind (vgl. u.a. Anl. B 3, B 42, B 48). Letztlich blieb unstreitig, dass die Grenzwerte auf dem Prüfstand auch nach Deaktivierung der Fahrkurvenerkennung eingehalten werden.
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Ob die in der Motorsteuerung hinterlegte Fahrkurvenerkennung als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren ist, kann vorliegend dahingestellt bleiben, da jedenfalls den handelnden Personen nicht unterstellt werden kann, dass sie in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden oder bestrebt waren, Emissionen gezielt auf dem Prüfstand zu manipulieren.
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Im Rahmen der Beurteilung, ob der Beklagten bei dem Einsatz der Fahrkurvenerkennung sittenwidriges Handeln zur Last liegt, ist maßgeblich nicht darauf abzustellen, ob die Fahrkurvenerkennung möglicherweise auch zur Reduzierung der Emissionen auf dem Prüfstand beigetragen hat, sondern ob sie von der Beklagten systematisch und bewusst eingesetzt wurde, um die Stickoxidgrenzwerte der Euro 5- oder 6-Norm nur im Prüfbetrieb einzuhalten (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – ZR 252/19 – Rn. 25,27, juris) und sich auf diese Weise durch arglistige Täuschung des KBA die Typgenehmigung zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge unter Ausnutzung der Arglosigkeit der Käufer in den Verkehr zu bringen. Dies ist hier gerade nicht der Fall, da nach den Auskünften des KBA die Grenzwerte auf dem Prüfstand auch ohne Aktivierung der Fahrkurvenerkennung eingehalten werden.
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Schließlich würde in der Gesamtschau jedenfalls der Vorwurf der Sittenwidrigkeit entfallen, weil die Beklagte nach Erhalt der Typgenehmigung, aber noch vor Abschluss des hier streitgegenständlichen Kaufvertrags an der Aufdeckung einer eventuell unzulässigen Abschalteinrichtung mitgewirkt hätte (vgl. BGH zum Kauf nach ad-hoc-Mitteilung, Urteil vom 30.07.2020, ZR 5/20, BeckRS 2020,19146, Rn. 32 ff.). Auch wenn die Beklagte im Fall des EA 288 nicht in gleicher Weise in die Öffentlichkeit gegangen ist wie im Fall des EA 189, hat sie bereits mit Schreiben an das KBA vom 19.12.2015 die Fahrkurvenerkennung offengelegt. Eine groß aufgezogene Information der Öffentlichkeit bis zum Abschluss des streitgegenständlichen Kaufvertrags 2016 war nicht geboten, da sowohl aus Sicht der Beklagten als auch des KBA in dieser Funktion gerade keine zulassungsrelevante Manipulation zu sehen war. Die Beklagte hat damit vor dem hier relevanten Zeitpunkt etwaige verschleiernde Maßnahmen kompensiert durch aktive Offenlegung gegenüber dem KBA, so dass ihr der Vorwurf einer (mittelbaren) arglistigen Täuschung der Klagepartei durch Täuschung des KBA nicht zu machen ist.
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d) Auch das verbaute Thermofenster begründet keine Haftung der Beklagten gemäß § 826 BGB. Eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) lässt sich nicht mit der Verwendung der Prüfstandserkennungssoftware vergleichen, die die Beklagte bei der Konzeption des Motors EA 189 in Einsatz gebracht hat. Während letztere unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielte und einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleichsteht, ist der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems nicht von vornherein durch Arglist geprägt. Sie führt nicht dazu, dass bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und der Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert wird, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Für die Qualifizierung des Verhaltens der Beklagten müssten daher weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Dies setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Applikation der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine (weitere) unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (vgl. BGH, Beschluss vom 09.03.2021 – ZR 889/20 – Rn.26-28, juris). Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt.
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Während bei der reinen „Umschaltlogik“ deren Unzulässigkeit offenbar ist, so dass von einer arglistigen Täuschung des KBA durch Verschweigen derselben ausgegangen werden kann, ist selbst bei einem relativ eng definierten Thermofenster nicht auszuschließen, dass die Verantwortlichen der Beklagten unter Abwägung der mit der Abgasrückführung bekannten Problemen gemeint haben könnten, die konkret implementierte Temperatursteuerung sei (noch) zulässig. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund der nunmehr aus einem Parallelverfaren durch Vorlage der Beklagten (Anlage B31) dem Senat bekannten Aussage des Zeugen K., des damaligen Leiters des Bereichs Dieselmotorenentwicklung der Beklagten vom 18.02.2021 vor dem Landgericht Landshut, nach der bei sämtlichen Motoren des Typs EA 288 für den Hubraum 1,6l und 2,0l die Abgasrückführung in einem Temperaturbereich von minus 24 bis plus 70 Grad Celsius vollständig aktiviert sei und auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass das KBA in Kenntnis und nach Offenlegung des Temperaturfensters durch die Beklagte keinen Rückruf veranlasste. Es kommt daher auch nicht entscheidend darauf an, ob die Beurteilung des Thermofensters durch das KBA als zulässig zutreffend ist, sondern darauf, dass die Möglichkeit einer entsprechenden Vorstellung bei den verantwortlichen Personen der Beklagten nicht ausgeschlossen werden kann, wenn auch die zuständige Bundesbehörde dieselbe Rechtsansicht vertritt. Gegen ein besonders verwerfliches Verhalten der Beklagten spricht daher, dass die Rechtslage bei der Beurteilung der Zulässigkeit des von vielen Herstellern eingesetzten Thermofensters angesichts der Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 S.2 a VO (EG) Nr. 715/2007 als unsicher anzusehen ist. Dies findet seinen Ausdruck im Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur von April 2016 (Anlage B 1), wonach der Wortlaut der Ausnahmebestimmung des Art. 5 Abs. 2 S.2 lit.a der VO Nr.715/2007 (“Einrichtungen zum Schutz des Motors vor Beschädigungen“) eine „Unschärfe“ aufweise, „die auch weite Interpretationen zulasse“. Eine ggfs. fahrlässige Verkennung der Rechtslage durch die Verantwortlichen der Beklagten genügt aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit und für den erforderlichen Schädigungsvorsatz nicht. Hat die Beklagte die Rechtslage fahrlässig verkannt, fehlt es am erforderlichen Schädigungsvorsatz und an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit wie auch der Kenntnis der die Sittenwidrigkeit begründenden Tatumstände (vgl. Sprau in Palandt, BGB, 2022, 81. Auflage, Rn.8 zu § 826). Die nunmehr vom EuGH vorgenommene Auslegung der genannten Vorschrift (Urteil vom 17.12.2020 – Rechtssache C-693/18 – NJW 2021,1216) vermag an einer zum damaligen Zeitpunkt vertretbaren Einschätzung der Beklagten nichts zu ändern.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe nicht bestehen. Insbesondere ist die Rechtsfrage, ob §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. i.V.m. Art. 5 Abs. 1, Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 Drittschutz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB vermitteln, im, vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich, so dass es auf die mit Pressemitteilung Nr. 104/2022 vom 01.07.2022 seitens des Bundesgerichtshofs an seiner hierzu ergangenen Rechtsprechung formulierten Zweifel nicht ankommt.